Der Basler Wirrgarten ist seit über 20 Jahren ein ambulantes Kompetenzzentrum zum Thema Demenz. Es gibt dort eine Beratungsstelle, Tagesstätten und weitere hilfreiche Angebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. 2018 gründete der Wirrgarten eine Gesprächsgruppe jung- und früherkrankte Menschen mit Demenz. Daraus entstand im September 2022 das Tagesstrukturangebot Atrium Jung. Flurina Manz hat dieses Angebot mitentwickelt und leitet die Beratungsstelle des Wirrgartens. Karin Bucher ist Co-Leiterin von Atrium Jung. demenzjournal sprach mit den beiden über Aktivitäten, Bedürfnisse und Wünsche.
Tagesstruktur Atrium Jung
Für ein lustvolles Miteinander
Die Mitglieder der Gruppe Atrium Jung im Basler Wirrgarten. Bild zvg
Im Atrium Jung in Basel können jüngere Menschen mit Demenz ihre Tage sinn- und lustvoll verbringen – gemeinsam mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Das Angebot wird am Basler Demenz Meet am 1. Juni 2024 vorgestellt.
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demenzjournal: Ich möchte euch zum Einstieg eine Geschichte erzählen: Beat verlor mit 52 seine Stelle als Postbeamter, weil er nicht mehr zuverlässig arbeiten konnte. Zwei Jahre später wurden die Symptome seiner Alzheimer-Demenz so stark, dass seine Frau Gabriela ihre Arbeit aufgeben musste, damit sie ihn zu Hause betreuen konnte. Sie mussten in eine kleinere Wohnung ziehen, weil nach dem Wegfall der Einkommen nicht mehr genug Geld da war. Beat ging mehrmals in eine Tagesstätte, und Gabriela besuchte eine Gesprächsgruppe für betreuende Angehörige. Beide fühlten sich dort nicht gut aufgehoben. Mit 56 kam Beat in ein Heim und lebte dort noch drei Jahre lang unter stark pflegebedürftigen Menschen, die größtenteils über 75 Jahre alt worden. Was geht euch durch den Kopf, wenn ihr solche Geschichten hört?
Karin Bucher: Es ist eine Geschichte, die sich wiederholt. Wir hören sie immer wieder von den Gästen unserer Tagesstruktur. Die Geschichte zeigt sehr gut, was bei vielen jungen Betroffenen passiert. Der Verlust des Jobs und des Freundeskreises beschäftigt diese Menschen stark.
Flurina Manz: Ich arbeite seit 2017 Jahren im Wirrgarten, und es war von Anfang an ein Thema, dass Menschen, die jung erkrankt sind, andere Bedürfnisse haben. Wir gründeten damals eine Gesprächsgruppe. Damit wurden die Not und die Bedürfnisse dieser Menschen für uns sichtbarer.
Diese Menschen wollen immer noch einen Sinn im Leben haben.
Sie brauchen Angebote, auf die sie sich freuen können. Daraus entwickelten wir eine Wandergruppe. Die Mitglieder dieser Gruppe versammelten sich jeweils im Hof vor unserer bestehenden Tagesstätte. Diese jung Betroffenen schauten dann durch die Fenster hinein und sagten: Da wollen wir nicht hin. Also entwickelten wir das Tagesstrukturangebot für junge Menschen mit Demenz.
Karin Bucher: An jedem Tag, den wir zusammen verbringen, sagt mindestens eine Besucherin: »Zum Glück gibt es das hier! Es ist schön, hier zu sein.«
Demenz Meet Basel am 1. Juni 2024
Ein Demenz Meet steht für Begegnung, Austausch und Vernetzung. Am 1. Juni in Basel schaffen wir Raum für Mitgefühl, Wissen und gegenseitige Unterstützung. Erfahrungen austauschen und erleben: »Ich bin nicht allein!«, abends mit einem erfüllten Herz nach Hause gehen und dem guten Gefühl: »Heute war ein wertvoller Tag!« Darum geht es an dieser lebendigen Zusammenkunft von Menschen mit Demenz, Angehörigen und Fachleuten.
🎈 Sei dabei und melde dich für einen gemeinsamen Tag mit bereichernden Begegnungen an. Dich erwartet eine informative Piazza, spannende Diskussionspanels, inspirierende Impulse, Gesprächsinseln und berührende Demenz-Geschichten. Infos zum Programm und Tickets findest du hier: https://www.demenzmeet.ch/meet/basel/
Was unternehmt ihr mit den Besuchern der Tagesstätte?
Karin Bucher: Die jung Betroffenen sind in der Regel körperlich fit und aktiv. Wir bewegen uns viel und gehen oft raus. Ein großes Bedürfnis ist auch der Austausch untereinander. Die Besucher verstehen einander ohne viele Erklärungen. Sie haben andere Themen als ältere Menschen mit Demenz. Es geht um Partnerschaft, Freundschaften, Jobverlust und was es bedeutet, mit dieser Krankheit zu leben.
Flurina Manz: Die Aktivitäten in der Gruppe sind vielfältig und bieten immer wieder neue Herausforderungen. Die Besucher schätzen das und sagen, dass sie sich dadurch sehr lebendig fühlen.
Karin Bucher: Wir wollen eine breite Palette an sinnlichen Aktivitäten anbieten. Wir kochen gemeinsam und genießen ein mehrgängiges Menu. Wir besuchen Museen. Einmal ließen wir uns von einer Kunstpädagogin durch die Ausstellung führen und haben anschließend in einem Workshop selbst gemalt. Wir gehen wandern oder spazieren. Manchmal schlendern wir durchs Quartier und lauschen den Erinnerungen einzelner Gäste. Wir töpfern, binden mit einer Floristin Blumen oder fertigen Gipsmasken an. Wir lesen und erzählen Geschichten oder spielen. Heute Nachmittag werden wir tanzen.
Einige Besucher meinen, sie könnten nicht tanzen – aber am Schluss tanzen doch alle und haben Spaß daran, sich über den Tanz auszudrücken.
Flurina Manz: Es ist eindrücklich, wie die Besucher unsere Angebote annehmen. Manchmal braucht es Mut, sich auf diese neuen Erfahrungen einzulassen. Aber genau dadurch entsteht ein Gefühl der Lebendigkeit.
Karin Bucher: Die Gäste merken zum Beispiel: »Ich kann mich bewegen«. Manchmal funktioniert es nicht mehr perfekt, aber das ist egal!
Inwiefern inspirieren euch diese Menschen für euer eigenes Leben?
Karin Bucher: Was mich am meisten berührt und inspiriert: Es ist nicht wichtig, was gestern war und morgen sein wird.
Dass wir im Jetzt sind mit dieser Präsenz und Intensität – das nehme ich jeden Tag mit nach Hause in mein privates Leben.
Werden eure Angebote für jüngere Menschen mit Demenz gut genutzt?
Flurina Manz: Bis im März haben wir einen Tag pro Woche angeboten. Jetzt sind eineinhalb weitere Tage dazugekommen. Ich denke, dass wir die Gruppen bis Sommer gefüllt haben. Im kommenden Jahr soll ein weiterer Tag dazukommen.
Der Wirrgarten hat in der Region Basel vielen Menschen geholfen und auch die öffentliche Wahrnehmung zum Thema Demenz beeinflusst. Wo stehen wir heute punkto Aufklärung und Entstigmatisierung?
Flurina Manz: Das Thema ist in den letzten Jahren stärker an die Öffentlichkeit gedrungen, und damit findet auch eine Entstigmatisierung statt.
Von Betroffenen und ihren Angehörigen hören wir aber noch immer, dass sich nach einer Diagnose Freunde und Kollegen abwenden, und dass Familienmitglieder überfordert sind. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir mit unserer Arbeit noch viel zu wenig erreicht haben …
Flurina Manz: Vielleicht haben wir vor allem auf einer oberflächlichen Ebene etwas erreicht. Heute reagieren die Nachbarn offener und die Leute wechseln nicht mehr die Straßenseite, wenn ihnen ein Mensch mit Demenz entgegenkommt. Aber wenn es um Nähe und Freundschaft geht, wenn man sich dafür einzusetzen muss, den Kontakt zu halten, ist es eine andere Ebene. Da wissen die Leute nicht mehr, wie sie das machen sollen. Dann kommt es sehr auf die Art der Kommunikation an, denn ein Betroffener ist oft nicht mehr in der Lage, allein Kontakte aufrecht zu erhalten. Es braucht seine Angehörigen, die das Netz zusammenhalten.
Wie reagieren die Menschen draußen, wenn ihr mit eurem Grüppchen unterwegs seid?
Karin Bucher: Sie reagieren kaum, denn meist merken sie nicht, dass sie mit demenzbetroffenen Menschen zu tun haben. Letzthin waren wir mit der Gruppe im Park. Eine Passantin kannte jemanden von uns und wollte wissen, wer denn nun dement sei und wer nicht. Wir fanden das witzig und ließen sie im Ungewissen.
Wir sind viel draußen und ich habe noch nie eine negative Redaktion erlebt.
Flurina, du bist als Beraterin nah dran an den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz und Angehörigen. Welches sind die wichtigsten Anliegen?
Flurina Manz: Was mich immer wieder beeindruckt, ist die Solidarität in den betroffenen Familien und Systemen. Es ist unglaublich, wie viel Engagement von den Angehörigen kommt. Ihr wichtigstes Anliegen ist es, dass es den Menschen mit Demenz gut geht. Wichtig ist aber auch, dass es Entlastung gibt für die Angehörigen, dass sie Freiräume haben und nicht alles aufgeben müssen.
Leider gelingt das vielen Angehörigen nicht. Verschiedene Studien und auch unsere Erfahrungen zeigen: Pflegen macht oft einsam. Umso wichtiger ist es, dass es auch in anderen Regionen Angebote wie jene des Wirrgartens gibt. Was empfehlt ihr Initianten, die Angebote für jüngere Menschen mit Demenz aufbauen möchten?
Flurina Manz: Uns hat geholfen, dass wir eine bestehende Institution sind, die schon eine gute Vernetzung und einen Background hatte. Wir konnten das Angebot langsam aufbauen und in die Aufgaben hineinwachsen.
Karin Bucher: Wer Interesse hat, kann gerne zu uns kommen und erleben, was wir machen. Wir haben auch in anderen Institutionen Ideen gesammelt, jetzt können wir unsere Erfahrungen weitergeben.
Wichtig ist, dass die Angebote Freude machen, dass es ein lustvolles Miteinander wird.
Bei uns wird viel gelacht, unsere Gäste können bei uns fröhlich und unbelastet sein. Mein Anliegen ist auch, dass genug Geld da ist für solche Angebote.
Ihr habt drei Wünsche frei in Bezug auf Demenz. Welche sind das?
Flurina Manz: Ich wünsche mir, dass Menschen mit Demenz nicht nur wohnen, sondern sich richtig zu Hause fühlen können. Dafür braucht es unter anderem neue Wohnformen. Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft sehen, dass es Zeit braucht, Menschen mit Demenz zu begleiten. Diese Zeit muss finanziert werden. Das Thema muss auch in den Städten sichtbarer werden. Das heißt, die Stadt muss stärker einbezogen werden.
Karin Bucher: Auch ich wünsche mir, dass andere Wohnformen entstehen können, zum Beispiel Demenz-Dörfer mit einer offenen Struktur, die sowohl Sicherheit als auch ein selbständiges Leben ermöglicht. Mein zweiter Wunsch ist, dass mehr Finanzen für entsprechende Angebote zur Verfügung stehen. Ich finde, Arbeitgeber sollten stärker in dieses Thema investieren, finanziell wie thematisch. Mein dritter Wunsch ist es, dass man mehr über diese Krankheit spricht, dass sie sichtbarer wird.