«Wenns doch nur das Gürkchen wär’» - demenzjournal.com

Erfahrungsbericht

«Wenns doch nur das Gürkchen wär’»

Georg und Axel. Thora Meißner

Diagnose Demenz mit 60: Axel muss ins Pflegeheim, weil er nicht mehr allein leben sollte, und in der Familie gibt es keinen Platz für ihn. Im Heim, meist unter viel älteren Menschen, fühlt er sich unterfordert und bevormundet. Axel glaubt, dass er keine Pflege braucht und will weiterziehen.

Georg nimmt es mit Humor, dass sich Alex, sein neun Jahre älterer Bruder, blindlings neben das Auto setzt. «Machst du ein Picknick?»

«Wir machen das auf die lustige Art. Zumindest versuchen wir es», sagt Georg. Für Axel ist es ein Desaster. Ein weiteres, auch wenn er jetzt schmunzelt.

Denn er muss damit leben, dass ihm seine Motorik Streiche spielt, dass ihm die Worte verloren gehen und er viele Dinge, die er Zeit seines Lebens gern gemacht hat, nicht mehr kann. Joggen, Fahrrad fahren, tanzen, schwimmen, feiern, arbeiten … reden!

Axel ist ein Macher. Unterwegs als freier Handelsvertreter in der Sanitärbranche. Später auch Dozent in Handwerker-Schulungen. Er liebt Sport. Schwimmt, fährt regelmässig Rad, joggt und tanzt.

Er hat vier Brüder, eine Ex-Ehefrau und zwei nunmehr erwachsene Kinder. Früher lebten er und seine Familie in einem Haus auf dem Flammberg. Der Familie geht es gut. Finanzielle Sorgen gibt es nicht. Axel ist ein absoluter Familienmensch – bis zur Trennung.

Später zieht Axel mit seiner neuen Lebensgefährtin in ein Haus in Günne. Doch auch diese Beziehung scheitert. Wollte der lebensfrohe Typ zuviel? War es seine dominante Art? Heute denkt er oft an diese Zeit zurück. «Ich habe viel falsch gemacht!»

Er lebt für seine Arbeit, seinen Sport und feiert auch mal gern. Die Feten sind immer etwas Besonderes – es passt. Axel tanzt wie ein junger Gott! Auch an Humor fehlt es ihm nicht. Unter anderem moderiert er fünf Jahre lang den «Fahrrad-Dreikampf» beim Möhneseer Fahrradfest. Fahrrad-Weitwurf, Felgen-Bumerang und Ziel-Pumpen. Oft habe es geregnet, erinnert sich Axel.

Doch jeder hat auch seine Macken. Axel ist ordnungsverliebt, sehr dominant und meckert schnell, wenn ihm etwas nicht passt.

Genau diese Eigenschaften sind es, die sich nun nach und nach verstärkt bemerkbar machen. Er regt sich über Kleinigkeiten auf – beispielsweise dann, wenn ihm abends auf dem Butterbrot die Gürkchen fehlen.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge stellt Georg seinen Bruder vor. Denn Axel lebt nun mit seinen gerade einmal 65 Jahren in einer Altenhilfeeinrichtung im Stadtbezirk Arnsberg. Er ist der Jüngste – der Einzige, den er auf sein Alter schätzt, kann nicht mehr klar sprechen und raucht Zigarren. Nicht seine Welt …

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Vor gut sechs Jahren fordert die Krankheit ihre ersten Tribute. So ganz genau kann man es nie sagen, aber damals stellt die Familie die ersten Wesensveränderungen fest. Axel joggt täglich. Kilometerweit. Von Günne nach Neheim und zurück – kein Problem. Auch 40 Kilometer mit dem Rad schaffen ihn nicht. Doch dann stürzt er oft.

Selbst das Treppensteigen stellt plötzlich ein Problem dar. Axel zeigt ein eingeschränktes Blickfeld – die rechte Seite scheint er nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Alles, was «von rechts» kommt, nimmt er nicht mehr zu 100 Prozent wahr – er schabt beim Überholen auf der Autobahn die auf dem rechten Fahrstreifen fahrenden Autos.

Er vergisst Dinge – wer nicht?
Er ringt um das ein oder andere Wort – wer nicht?
Er scheint zu träumen – wer nicht?

Erst als ein Teilnehmer seiner Handwerker-Schulungen einen der Brüder anspricht und erzählt, dass Axel mitten im Vortrag plötzlich innehält und verträumt aus dem Fenster schaut, oder kurzerhand den Faden verliert, macht sich die Familie wirklich Sorgen.

Und er selbst? Auch! 

Als er direkt vor seiner Haustür Gas und Bremse verwechselt und sein Auto an die Wand fährt, gibt er auf, verkauft das Auto.

Die Warnzeichen häufen sich – bis er irgendwann nach einem Mittagsschlaf panisch seinen Sohn anruft: «Du musst schnell kommen, ich weiss gar nichts mehr!» Das Wirrwarr in seinem Kopf macht ihm Angst. Wo ist er? Was macht er? Und wer ist er eigentlich?

Axel.Thora Meißner

Sofort fährt sein Sohn mit ihm ins Krankenhaus – etliche Untersuchungen folgen, bis schliesslich die Diagnose fest steht: Demenz!

Axel fällt in ein Loch. Weiss weder ein noch aus. Mittlerweile lebt er in einer kleinen Wohnung in Neheim. Sein Sohn kümmert sich um ihn. Nach und nach verliert er seinen Lebensmut, seinen Antrieb. Er ist traurig. Depressiv.

Sein ganzes Leben lang eine Sportskanone – und jetzt soll er sich motorischen Störungen hingeben. Die Familie sieht ihren letzten Ausweg in der Geriatrie.

Ob es an ihm selbst liegt oder woran auch immer – in diesen zwei Wochen baut Axel ab.

Der ärztliche Rat: Axel soll nicht mehr alleine leben! Was tun? Sohn und Tochter haben ihre eigenen Familien – und keinen Platz. Ebenso die Brüder. Eine Pflegerin zu Hause? Eine Altenpflegeeinrichtung?

Die Wohnung in Neheim gibt keinen Platz her, um einer Rund-um-die-Uhr-Pflege gerecht zu werden. Bleibt nur die Altenpflegeeinrichtung. Gemeinsam entscheidet sich die Familie dafür.

Axel selbst fühlt sich ausgestossen. Weggesperrt. Er ruft Freunde an, die ihm noch geblieben sind: «Helft mir. Die wollen mich wegsperren!» Noch heute gibt er oft den anderen die Schuld.

Drei Monate lebt Axel im Seniorenhaus, nimmt morgens an einer «Zeitungsrunde» teil, geht tagtäglich mit einem «Bufdi» (Mitarbeiter Bundesfreiwilligendienst) spazieren. Doch er fühlt sich nicht wohl. Weint oft. Fühlt sich verwahrt. Immer wieder sagt er: «Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!»

Zudem leidet er darunter, dass er kein Einzelzimmer bewohnen kann. Er berichtet, dass sein erster Mitbewohner alles umher geschmissen habe – Essen, Gegenstände … und vieles mehr. Sein zweiter Mitbewohner habe dies nicht getan, sei jedoch bettlägerig gewesen – mit ihm war keine Kommunikation möglich.

Kurzfristig ergibt sich die Möglichkeit, ein Einzelzimmer in einer anderen Pflegeeinrichtung zu bekommen – dies nimmt die Familie wahr. Auch dort tut sich Axel schwer, sich einzuleben.

Und dies, obwohl alles dafür getan wird, es ihm wohnlicher und gemütlicher zu machen. Sie kaufen ihm einen bequemen Sessel für sein Zimmer, eine Rattan-Couch für die Terrasse. Mehr gibt leider auch der Platz in seinem Zimmer nicht her – schliesslich stehen hier auf gut 15 Quadratmetern ein Bett, ein Tisch, ein Schrank und ein Fernseher.

Axel glaubt, dass er keine Pflege braucht. Er gibt sich Mühe, alles richtig zu machen. Die Anspannung ist ihm förmlich anzusehen.

Jeder Schritt soll sitzen. Jedes Wort passen. Dass dies nicht immer gelingt, überspielt er – gekonnt.

Nach und nach lässt seine Konzentrationsfähigkeit nach. Auch die Orientierungslosigkeit macht sich bemerkbar. Bekannten erzählt er aber, dass er die Altenpflegeeinrichtung gar noch nicht brauche, dass er dort ein und ausgehe, wie er wolle – «ist doch eine Kleinigkeit».

Doch die Kleinigkeiten häufen sich. Beim Wechseln der Kleidung bleibt Axels Schlüssel offensichtlich in der getragenen Hose. Als Axel am nächsten Morgen raus möchte, gibt ihm der eingedrückte Sicherheitsverschluss der Terassentür den Rest. Wutentbrannt ruft er seinen Bruder Georg an: «Die sperren mich hier ein – ich kann nicht raus!»

Georg versucht ihm ruhig und gelassen zu erklären, dass sich der Aufenthaltsraum 20 Meter neben seinem Zimmer befindet – von dort könne er problemlos auf die Terrasse. Manchmal, meint Georg, wenn Axel sich aufregt, müsse man auch etwas mit ihm schimpfen und versuchen, ihn auf den Boden der Tatsachen zuruckzuholen.

Prompt klingelt das Telefon. Es ist Axel! In den folgenden Minuten zeigt sich die Emotionalität, die sich hinter diesem Schicksal verbirgt.

«Nee, ich treffe mich gerade mit der Dame, die einen Bericht über dich schreibt.»
«Ja, genau.»
«Wolltest nur ‘hallo’ sagen, das ist lieb von dir.»
«Morgen Nachmittag gehen wir los – da machen wir beide was zusammen.»
«Doch, morgen Nachmittag – da komme ich.»
«Ich rufe dich aber morgen nochmal an und sage dir Bescheid.»
«Ja, ich hab’ dich auch lieb!»

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Georg versucht zu erklären: «Das sind dann diese Momente, in denen er einfach jemand anrufen muss …». Dann bricht es aus ihm heraus. «Er hat eine so permanente Langeweile!» Tränen fliessen. «Entschuldige». Doch nicht dafür!

Es ist ja nicht so, dass die Einrichtung keine Freizeitbeschäftigung böte – da gibt es zum Beispiel den wöchentlichen Sport, das gemeinsame Singen und auch die für Axel eigens organisierte Physiotherapie, zweimal die Woche rund 20 Minuten. Die Physiotherapie tue ihm gut, bestätigt Axel. An den restlichen Aktivitäten nimmt er teil, fühlt sich jedoch fehl am Platz.

Beispielsweise dann, wenn Lieder aus der Nachkriegszeit gesungen werden oder beim Sport «nur» ein wenig die Arme bewegt werden. Für die ältere Generation sicher genau das Richtige – Axel jedoch kommt sich bekloppt vor.

Kürzlich hat er einfach mal so die Initiative ergriffen und den Damen und Herren gezeigt, wie schön das Tanzen sein kann. «Ich habe mit einer Dame getanzt, die war sehr schick. Das war toll». Er habe sich am Vorabend einfach mal zu den anderen Bewohnern gesellt. Augenzwinkernd erzählt er, dass es spontan auch ein Kopfrechenwettbewerb gegeben habe – doch hier habe er kläglich versagt.

Zeitungsrunden, wie früher in Arnsberg zum Beispiel, die seien etwas für ihn. Berichte werden vorgelesen und jeder, der will, kann etwas dazu sagen. Axel sagt, dass er diese Förderung und auch Forderung brauche.

«Ich brauche sinnvolle Gespräche – mein Kopf muss arbeiten. Sonst schaffe ich das nicht!»

Auch der tägliche Spaziergang fehlt ihm. Im neuen Zuhause finanziell und logistisch leider nicht zu stemmen.

Sowie die Familie kann, besucht sie Axel. Mal ist es einer der Brüder, mal der Sohn, mal die Tochter und mal Georg. Und dennoch. Axel scheint in der Altenpflegeeinrichtung die Decke auf den Kopf zu fallen. Da Georg sich auch ehrenamtlich engagiert, kann er nicht jeden Tag vorbeischauen. Donnerstags treffen sich die beiden – und je nach Zeitplan auch noch an zusätzlichen Tagen.

Was die Pflege betrifft, beschwert sich Axel kaum – auch wenn er irgendwie erwartet, dass morgens nach dem Aufstehen der Kaffee auf dem Tisch steht, er mittags in Ruhe essen kann und abends ein Gürkchen auf dem Brot liegt oder er ins Bett gebracht wird. Dann, wenn er es möchte – und nicht, wenn  zwischen sieben und acht die allgemeine Bettzeit beginnt.

«Die sind da alle wirklich sehr nett», sagt er. «Aber warum reden die so komisch?» Am Abend zuvor habe die Dame, die ihm beim Umziehen hilft und ihn ins Bett bringen soll, gesagt, ‘So, jetzt machen wir heia’. «Ich bin doch nicht bekloppt oder so!»

Doch manchmal wünscht er sich, dass öfter mal jemand nach ihm sieht.«Ich könnte hier tot liegen – keiner würde es merken». Ob er dies wirklich ernst meint, bleibt sein Geheimnis.

Es fühlt  sich so an, als stelle die Pflege eines derart jungen Demenz-Patienten eine extreme Gratwanderung dar. Die Interessen sind anders als die der älteren Betroffenen. 

Axel wünscht sich Gesellschaft – ein Miteinander, wo jeder dem anderen hilft. Ein Miteinander auf Augenhöhe.

Axel wäre auch gerne unter Gleichaltrigen. Menschen, mit denen er Freud und Leid teilen kann. Dann, wenn ihm danach ist – und er scheint weiterhin auf der Suche nach einem passenden Zuhause zu sein.

«In Deutschland gibt es auch Demenz-Wohngemeinschaften. Ich würde auch weiter fahren», sagt er und verstummt. Seine Augen – glasig. Noch bevor die ersten Tränen die Wange runter kullern, wischt er sie schnell weg.

Er würde gern laufen.
Kann er, aber nicht allein.
Ihm fehlt ein Laufpartner.

Er würde gern tanzen.
Kann er, aber nicht allein.
Ihm fehlt ein Tanzpartner.

Er würde gern das Sprechen trainieren.
Kann er, aber nicht allein.
Ihm fehlt ein Gesprächspartner.

Trotz Höhen und Tiefen, trotz depressiven Phasen – Axel gibt nicht auf: «Das Leben ist schön. Ich muss das schaffen!» Wenn es doch nur das Gürkchen wär’ …