Die Flamme am Brennen halten - demenzjournal.com
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Weihnacht

Die Flamme am Brennen halten

«Tradition bewahren, heisst nicht, Asche aufheben, sondern eine Flamme am Brennen halten». (Sabine Bonhoeffer) Bild unsplash

Als ich Tagebuch führte über die Zeit, als Paul krank war, hätte ich mir ein «Leben danach» niemals vorstellen können. Zu dunkel war der Tunnel, in dem ich ums Überleben kämpfte. Nie hätte ich zu wagen gehofft, dass ein Aufleben «danach» möglich wäre.

Ich öffne das schwarzumrandete Couvert mit einem unguten Gefühl. Wer ist gestorben?

«Sie war still und leise, aber ebenso aufgeweckt und am Leben interessiert. Immer aufmerksam und bescheiden … Zunehmend verloren in einer immer verrückter werdenden Welt und im Überdruss nagender Krankheit, bewahrte sie jedoch bis ans Ende eines: den feinsinnigen und oft selbstironischen Humor einer Weisen.»

Immer wieder schaue ich auf das Leidzirkular. Vor einem Monat bin ich Denise das letzte Mal begegnet. Ja, ich wollte sie noch besuchen vor Weihnachten, unsere Gespräche waren stets angeregt, wir verstanden uns gut. Bei einem Glas Sekt vergassen wir unsere Alltagssorgen.

«So, so, du wolltest mich also besuchen …». sagte sie mit leicht vorwurfsvollem Unterton. «Hast Du keine Zeit mehr für mich?» Meistens überhörte ich diese Vorwürfe, mit leicht schlechtem Gewissen meldete ich mich ab und zu bei ihr.

Nun gibt es die Denise nicht mehr. Mit 98 Jahren ist sie leise weggetreten. Nicht vorstellbar. Nie der Gedanke, dass diese rührige, topfit erscheinende alte Dame je sterben könnte. Als ich sie zuletzt sah, bemerkte ich zwar, dass sie dünner geworden war. Ja, ich wollte sie besuchen – noch vor Weihnachten. Wollte …

Ach, Denise kannte mich gut, sie wusste ja um mein neues Leben nach dem Tod meines Mannes: Oft unterwegs auf dem Jakobsweg durch die Schweiz, mit dem GA reisen, einen neuen Garten anlegen und pflegen. Dann, nach zwei Jahren des Witwen-Daseins: Frisch Verliebt! Mit 80 Jahren!

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Plötzlich keine Zeit mehr für die Nachbarinnen, alles stand Kopf damals! Denise wollte es mir gönnen, sie wusste um das viele Alleinsein aus Erfahrung. Aber trotzdem. Ich könnte mir doch mehr Zeit für sie nehmen. Nun ist es zu spät dafür. Wieder so ein NIE MEHR, dass mir den Spiegel vor Augen führt.

Alt sein. Die allerletzte Strecke angehen. Mir bewusst werden, ich stehe in der hintersten Reihe.

Etwa auch: es braucht mich nicht mehr. Schlagartig hält uns nun Corona, dieses bösartige Kleinstwesen, ein weiteres Bild vor Augen: Es gibt gravierende Unterschiede im Alltag der Menschen. Du gehörst in eine sogenannte Risikogruppe.

Jung und Alt beginnen sich aus- und abzugrenzen. Es entsteht etwas Trennendes. Argwohn. Distanz, wo früher Herzlichkeit war. Abstände, die schmerzen. Beklemmung bei Begegnungen.

Es gibt neue Gesetze oder doch mahnende Empfehlungen. Und schiefe Blicke erntete ich, als ich alte Frau im ersten Lockdown dennoch an die frische Luft spazieren ging. Musste ich doch, muss ich auch heute, sonst rosten meine Gelenke noch mehr ein.

Das alles hat mich zu Neuem bewegt: Haus und Garten hab ich losgelassen, soll doch der Enkel sein Nest dort bauen. Er hat Kraft und neue Ideen. Es war ein guter Entscheid: Nun lebe ich in einer Wohnung im Nachbardorf, pendle oft zwischen Zürich und Bern oder habe hier meinen Freund zu Gast.

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Eine neue Liebe im Alter! Käthi, meine Freundin, lachte schallend, als ich es ihr vor drei Jahren beichtete.

«Du! Ausgerechnet! Hast du nicht stets gesagt: Nie mehr, du hättest dein neues Leben im Griff. Könntest dir nicht vorstellen, einen Mann um dich herum zu haben. Und Berührungen? Nein. Höchstens ab und zu gemeinsame Wanderungen, oder Reisen. Aber getrennte Zimmer, getrennte Kasse». Stimmt, ich hatte zwar das Alleinsein satt, aber eine Liebesbeziehung?

Immerhin, ich sagte stets: Man weiss nie. Ich hatte es offen gelassen, da war wohl im Geheimen doch eine Sehnsucht nach Liebe? Wer kennt sich aus? Jedenfalls begann unsere Beziehung damals wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ein neuer, ungeplanter, wunderbarer neuer Lebensabschnitt lag vor mir.

Neue Energie, viele Reisen ins Ausland, stundenlanger Gedankenaustausch, Leben in Eintracht und Liebe teilen. Gemeinsam das Altern erleben.

Als ich Tagebuch führte über die Zeit als Paul krank war, hätte ich mir ein «Leben danach» nicht vorstellen können. Zu dunkel war der Tunnel, in dem ich ums Überleben kämpfte. Nie hätte ich zu wagen gehofft, dass ein Aufleben «danach» möglich wäre. Zu gross war damals der Schmerz, das tägliche Abschied nehmen, dennoch: Ich vertraute Gott, dass er mich trösten würde.

Ich hoffte stets, dass ich durchkomme. Dass ER mir nun aber noch solch erfüllte Jahre schenken würde? Wer hätte das zu hoffen gewagt? Es ist seine Gnade, Liebe und Barmherzigkeit. Dafür sind wir so dankbar, wir sind uns auch bewusst, dass es nicht immer so bleiben wird. Doch was immer auch kommt, Gott ist treu und verlässt uns nie. Selbst in dunkelsten Zeiten ist er an unserer Seite, und dafür kam Jesus Christus auf die Welt, um zu retten, trösten, helfen. Das durfte ich all die Jahre erleben und stets Trost und neue Kraft empfangen.

Und was sagt uns Weihnachten? Tradition oder (und) neues Erleben? Da kommen mir die Weihnachtserinnerungen von Sabine Bonhoeffer, Zwillingsschwester von Dietrich, in den Sinn:

«Tradition bewahren, heisst nicht, Asche aufheben, sondern eine Flamme am Brennen halten».

Für mich heisst das vor allem Loslassen. Das Loslassen aller Erwartungen, Erwartungen «wie es damals war». Es ist vorbei. Es gibt auch da ein NIE MEHR. Ist das die «Asche», von der im Zitat die Rede ist? Wie viele Menschen sind nicht mehr da, mit denen ich einst Weihnachten feierte?

Wie oft habe ich Sehnsucht nach all den Lieben, die mein Leben teilten? Kostbare Erinnerungen, Erinnerungen, die mich beglücken.Ich suche mir die aufbauenden Momente aus. Verbiete mir, wenn es geht, was mich traurig macht und schmerzt. Wozu den Jammer aufwärmen? Warum mein HEUTE, das HIER und JETZT vertun?

Kostbare Erinnerungen: 1942, Soldatenweihnacht! Ich war 6-jährig. Ich vermisste meinen Vater immer sehr, wie oft hatte ich mich an seine Beine geklammert, geschrien und geweint, wenn er wieder in den Aktivdienst fortging! Fast 1000 Tage leistete er Dienst. Als Trompeter und Samariter. Immer wieder Abschied.

Aktivdienst im Krieg mit dem Militärorchester.Ursula Kehrli

Dann Weihnachten. Wir durften zu ihm an die nahe Grenze fahren. Da gab es viel Schnee, es war kalt, der Weg zum Festplatz war mit Kerzen gesäumt. Dann der grosse Moment: Ich sah meinen Vater im Militärspiel!

Diesmal nicht mit Trompete, sondern mit dem grossen Bariton, den er jeweils mit Sigolin auf Hochglanz putzen musste. Einmal hatte er «keine Lust», liess es sein und kassierte dafür prompt Knast. Neben all den hochpolierten Instrumenten stach sein schäbig aussehender Bariton peinlich heraus.

Ein andermal war er fuchsteufelsverrückt über all den «Scheiss» des Krieges und den Drill, und das Im-Stroh-schlafen und das Wegsein von der Familie, dass er seinen Bariton wütend vom Balkon in den Saal voll Stroh (sein Nachtlager) hinunterschmiss. Nur lag da nicht genügend Stroh … das Instrument sah danach erbärmlich aus. Und wieder in den Knast. Armer Papi.

Dankbarkeit heute: Unsere Angehörigen, Kinder und Kindeskinder mit ihren Freunden, freuen sich an unserem Glück. Sogleich wurden wir in der anderen Familie herzlich aufgenommen. Es wird nun schon das vierte Weihnachtsfest sein, dass Ernst und ich gemeinsam teilen dürfen. Die Enkel werden langsam flügge, die Grosseltern rücken weiter nach hinten …

Wie gut, dass wir einander haben. Und wie gut, wenigstens in der Familie Frieden zu finden in dieser «immer verrückter werdenden Zeit», wie Denise zu sagen pflegte. Fest der Liebe, versöhnt leben miteinander, was kann es Besseres geben?

«Selig sind die, die Frieden stiften», Worte aus der Bergpredigt. Und versöhnt sollte man besonders seinen letzten Lebensabschnitt leben. Das wünsche ich allen meinen lieben Lesern und Leserinnen, ich wünsche allen den Trost, den Frieden und Segen Gottes für Weihnachten 2020 und das neue Jahr.

Es berührt mich immer wieder, wenn ich aus den Kommentaren auf Facebook herauslese, dass meine Tagebuchnotizen eine Hilfe sein dürfen, den furchtbaren Druck im Alltag etwas leichter zu ertragen. Ich hoffe auch, dass diese erneut Zeilen Mut machen. Das Leben geht weiter, einmal hat das Leid ein Ende, der Tunnel führt hinaus ins neue Licht.

Herzlich, Ursula

Herr, in mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht.
Ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht.
Ich bin kleinmütig, aber bei dir ist Hilfe.
Ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede.
Ich verstehe deine Wege nicht, aber du weist den Weg für mich.
(Dietrich Bonhoeffer)