Betreuung aus 240 Kilometer Entfernung

Mit Demenz zuhause

Der große Spagat: Betreuung aus 240 Kilometern Entfernung

Stefan Strömer und sein Vater

Stefan Strömer macht sich Sorgen um seinen Vater. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, denkt er: »Hoffentlich ist nichts passiert.« Bild privat

Stefan Strömer kümmert sich intensiv um seinen an Demenz erkrankten Vater, obwohl beide weit voneinander entfernt wohnen. Ein Arrangement, das dem Sohn einiges an Organisation und Planung abverlangt. Wie lange geht es noch?

»Kannst du dich noch an unsere Zeit in Amerika erinnern?« Es war diese Frage, die Stefan Strömer ins Grübeln brachte. Seine Eltern und die 14 Jahre ältere Schwester hatten tatsächlich zwei Jahre in den USA gelebt. Doch Stefan, der Sohn, war damals noch nicht auf der Welt gewesen. Als sein Vater ihn nach Amerika fragte, war er Mitte 70.

»Wir dachten erst, er sei einfach ein bisschen verkalkt«, sagt der Sohn. »Mitunter hat er Sachen nicht verstanden, aber wir glaubten, das habe mit seiner Schwerhörigkeit zu tun.« Dann wurden die Gedächtnislücken größer. Vor gut zwei Jahren bekam Johann Strömer, der früher als technischer Leiter eines Gardinenherstellers gearbeitet hatte, die Diagnose Demenz. »Obwohl ich es geahnt habe, war es ein Schock für mich«, erinnert sich der Sohn.

Johann Strömer selbst versuchte, die Diagnose zu verdrängen, fand seine eigene Version: Ich kann mir nicht mehr so gut Sachen merken.

Noch lebt der 83-Jährige allein in seinem Einfamilienhaus in Aschendorf im niedersächsischen Emsland. Seine Frau Inge ist vor wenigen Monaten an Krebs gestorben, die Goldene Hochzeit konnten sie noch zusammen feiern.

»Ich denke, die Krankheit und der Tod meiner Mutter haben der Demenz noch mal einen Schub gegeben«, meint Stefan Strömer. Trotz seiner Krankheit habe sich der Vater liebevoll um seine Frau gekümmert, für sie gekocht, Wäsche gewaschen, die Wohnung geputzt – damit hatte er vorher keine Erfahrungen.

So haben sie sich notdürftig zusammengerauft, dem einen fehlte das Gedächtnis, der anderen die Lebenskraft. Seine Eltern, meint der Sohn, hätten es versäumt, rechtzeitig den Absprung zu finden, in eine kleinere Wohnung zu ziehen oder sich um einen Platz im Pflegeheim zu kümmern. »Sie haben vieles unter sich ausgemacht, zu wenig darauf geachtet, sich Hilfe zu holen.«

Wenn man Johann Strömer heute auf der Straße, im Supermarkt trifft, sei er ausgesprochen kommunikativ – »mehr als früher«, erzählt der Sohn.

Der Vater spricht fremde Menschen an, redet mit ihnen über das Wetter, die Hemmschwellen sind weggefallen.

Manche Leute schauten dann fragend zurück, andere antworteten freundlich. »Ich komme damit klar, schäme mich nicht. Ich habe auch keine Lust, jedes Mal zu erklären, was mit meinem Vater los ist. Es ist schön, ihn auch mal so offen und zugewandt zu sehen.«

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Zu Hause erlebt der Sohn den Vater dagegen oft als still und in sich gekehrt, seine Frau fehlt ihm. Durch die Krankheit habe er sich sehr verändert, meint der Sohn, er sei deutlich weniger aktiv als früher.

Es deprimiert mich schon, wenn ich ihn zusammengesunken am Tisch sitzen sehe. Ich zeige ihm dann Bilder von meinen beiden Kindern, zum Beispiel einen Tanzauftritt meiner Tochter, das schaut er sich gern an. Oder ich versuche, positive Erinnerungen und Geschichten aus ihm herauszulocken. Manchmal erzählt er dann aus seiner Jugend oder wie er meine Mutter kennengelernt hat.

Gelegentlich sprechen sie über Fahrradtouren, die Vater und Sohn gemeinsam gemacht haben, über Ausflüge an die Nordseeküste, mit den beiden Enkeln. Oder über Stefans Kindheit, als er mit dem Vater zusammen im Haus gewerkelt hat, Johann Strömer war ein großer Heimwerker. Gemeinsam haben sie Türrahmen abgebeizt, gestrichen – heute ist es der Sohn, der bei sich zu Hause herumbastelt und schraubt, mitunter auch beim Vater. »Wir hatten immer ein herzliches Verhältnis, der Familienzusammenhalt stimmte. Dafür bin ich sehr dankbar.«

Gemeinsam mit seiner Schwester Petra organisiert Stefan Strömer das Leben des Vaters. Nach Möglichkeit ist jedes Wochenende einer von ihnen bei ihm. Allerdings wohnen beide Kinder nicht vor Ort, der eine in Hamburg, wo er als Projektmanager in einer Werbefilm-Produktion arbeitet, die andere in Düsseldorf. Das sind für jeden rund 240 Kilometer Entfernung zum Haus des Vaters.

In der Woche kommt täglich ein Pflegedienst und kümmert sich darum, dass Johann Strömer seine Tabletten nimmt. Viermal die Woche ist außerdem eine Pflegerin bei ihm, kauft ein, kocht Essen, macht mit ihm auch mal einen Ausflug. Die Distanz verlangt dem Sohn eine Menge Planung ab. Einmal hat er am Wochenende seine Familie zum Vater mitgenommen. Das Wetter war schlecht, die Kinder blieben zu Hause, das war für alle etwas anstrengend.

Stefans Tipps für Angehörige

💡 frühzeitig Beratungsstellen aufsuchen, in Selbsthilfegruppen gehen, Schulungen machen. Nicht warten, bis man sich ausgebrannt fühlt.

🤝 Freunde und Bekannte einbinden, sie auch mal um Entlastung im Alltag bitten (für Kinderbetreuung, Gartenarbeit etc.).

👁️ auf die eigenen Bedürfnisse und Kapazitäten achten, auch mal Nein sagen, wenn jemand um einen Gefallen bittet.

🏠 mit den Eltern früh besprechen, welche Wohnform für sie angemessen ist, ob Haus oder Wohnung wirklich noch passend und auch barrierefrei sind.

⛱️ gemeinsame Erlebnisse aus den Betroffenen hervorlocken, etwa Familienurlaube oder ein Hobby, das man gemeinsam gemacht hat.

🧭 wenn man weiter weg wohnt, kann es helfen, Gegenstände des Menschen mit Demenz zu tracken. Dafür werden kleine GPS-Chips am Gegenstand angebracht, die mit Apps geortet werden.

»Für mich ist das ein großer Spagat: Arbeit, Partnerschaft, Kinder und die Fahrten zu meinem Vater. Trotzdem ist es für mich selbstverständlich, mich zu kümmern. Meine Eltern haben ja im Laufe ihres Lebens mit uns Kindern auch eine Menge Karmapunkte gesammelt«, sagt Strömer und lacht. Der Vater freue sich jedes Mal über seinen Besuch. Wenn der Sohn in Hamburg ist, telefonieren sie regelmäßig, auch wenn die Schwerhörigkeit des Vaters die Gespräche oft mühsam macht.

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Neben den offensichtlichen Anforderungen gibt es den unterschwelligen Stress, der den Sohn belastet: die ständige Sorge, dem Vater könne etwas passieren, und er, der Sohn, sei nicht in der Nähe.

Jedes Mal, wenn sein Telefon klingelt, denkt er: Hoffentlich ist nichts mit Vater.

Er hat sich auf dem Handy einen Tracker installiert, mit dem er den Vater orten kann. Die App zeigt ihm an, wo dessen Schlüssel und Portemonnaie sind.

Screenshot GPS-App
Mittels App ortet Stefan Strömer das Handy seines Vaters.Bild privat

Wenn Johann Strömer das Haus verlässt, hat er immer beides dabei, eine selbstverständliche Routine für ihn. Der Tracker beruhigt den Sohn, einerseits. Sollte sein Vater aber eines Tages ohne Schlüssel und Portemonnaie aus dem Haus gehen, kann er ihn nicht mehr finden.

Vieles schafft Johann Strömer noch allein. Die Körperpflege oder den Kaffee, den er sich morgens kocht und der ihm immer zu dünn gerät. Im letzten Sommer hat er einige Radtouren gemacht, allein, und problemlos zurückgefunden. Nur das Auto habe er »einkassiert«, sagt der Sohn, nachdem sein Vater damit gegen eine Mauer geschrammt war. Jetzt fragt der Vater regelmäßig, wo denn sein Auto sei – »ist bei dir, Stefan, oder?«, und der Sohn nickt jedes Mal.

Dass er es verkaufen will, sagt Stefan nicht. Solche Einmischungen in die Privatsphäre des Vaters fallen ihm nicht leicht. Auf der anderen Seite fühlt er sich verantwortlich, möchte ihn schützen, damit nichts Schlimmeres passiert.

Ich muss diesen Widerspruch zwischen Eingriff und Fürsorge aushalten, anders geht es nicht. Mitunter muss ich Entscheidungen treffen, die ich eigentlich nicht treffen möchte.

Früher, sagt der Sohn, sei er oft ungeduldig mit seinem Vater gewesen, habe ihn korrigiert. Wenn sie gemeinsam im Supermarkt eingekauft haben und der Vater nicht mehr wusste, wo das Auto war, habe er genervt reagiert. Heute macht er das nicht mehr. »Diesen Kampf – ›Erinnere dich doch mal!‹ – muss ich nicht mehr führen.« Strömer hat eine Schulung der Hamburger Alzheimer Gesellschaft besucht, die ihm geholfen habe, freundlicher und nachsichtiger mit seinem Vater umzugehen.

Wie lange er und seine Schwester die Wochenend-Besuche noch schaffen, kann er nicht sagen. Aber er ist froh, nicht allein zu sein, fühlt sich von ihr gut unterstützt.

Irgendwann wird sein Vater in ein Heim gehen müssen, darüber sind er und seine Schwester sich einig. Wie sich der Vater einleben wird, ob er sich dort weniger allein fühlt, weiß keiner. »Wenn er irgendwann im Pflegeheim ist, muss ich mir nicht ständig Sorgen machen, wie es ihm geht und wo er gerade ist. Mental wäre das für mich eine große Entlastung.«

Weihnachten wollen sie noch mal alle zusammen verbringen, im Elternhaus in Aschendorf. Der Vater wird alle um sich haben, die ihm nahe sind. Es wird das letzte Mal sein, so miteinander zu feiern, da ist sich der Sohn sicher. Mit Glück kann sich der Vater noch eine Weile an dieses Weihnachtsfest erinnern.

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