alzheimer.ch: Welches ist Ihre früheste Erinnerung?
Monika Schmieder: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich Erinnerung ist, oder ob es das ist, was man mir erzählt hat. Bei mir war es an Weihnachten, ich war drei Jahre alt, hatte einen Löffel im Mund und balgte mit meiner Schwester. Sie stiess mich, und ich blutete aus dem Mund.
Elisabeth Dolderer: Bei mir ist es eine Flädli-Suppe. Ich sass bei meinen Grosseltern in einem feudalen Zimmer. Grossvater wollte die Mittagsnachrichten hören, da musste es still sein. Die Verbindung des Geruchs der Suppe, des Erkennungstons der Nachrichten und des Schweigens ist eine sehr starke Erinnerung. An den silbernen Schöpflöffel erinnere ich mich auch sehr gut. Ich glaubte nämlich, dieser Löffel sei im Himmel, weil ja der Schöpfer im Himmel ist.
Warum sind genau diese Erinnerungen geblieben?
Elisabeth Dolderer: Ich denke, es sind die starken Emotionen und Sinneseindrücke, die haften bleiben. Lachen, Schmerz, Freude, Wut, Beleidigung. Auch bei späteren Erinnerungen, die mir geblieben sind, waren starke Gefühle im Spiel.
Gibt es Methoden, um Vergessenes wieder in Erinnerung zu holen?
Elisabeth Dolderer: Bei mir braucht es nur einen Geruch, dann bin ich wieder dort. Ich kann mich ganz stark an meine Mutter erinnern. Sie war eine herzensgute Frau und wollte es ganz richtig machen. Ich könnte einen Roman erzählen über die Strafen in einer christlichen Erziehung. Wenn ich Herrn Blocher reden höre, denke ich: «Ja, der ist ähnlich wie ich erzogen worden.»
Blochers Reden lösen bei Ihnen also Erinnerungen aus…
Elisabeth Dolderer: Sehr viele. Durch eine Therapie, die ich mit 40 machen musste, sind viele Erinnerungen hochgekommen. Manchmal sagte mir meine Mutter vor dem Einschlafen: «Weil du das gemacht hast, fühlt sich der Liebe Gott jetzt sehr schlecht.» Und ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte.
Inwiefern wird Erinnerung beeinflusst durch positive oder negative Gedanken?
Monika Schmieder: Ich glaube, es ist ein Prozess. Es gibt Dinge, an die ich mich lange mit einem schlechten Gefühl erinnerte. Mit den Jahren beginnt man sich damit anzufreunden. Man merkt, dass die Zeiten halt anders waren, und dass die Eltern immer das Beste gegeben haben.
«Ich habe Frieden geschlossen mit den Erinnerungen. Ich schwatze die Sachen nicht schön, aber es tut mir sehr gut, dass ich keine Schuld mehr verteilen muss.»
Ist die Versöhnung mit der Vergangenheit eine Voraussetzung zum Glück?
Elisabeth Dolderer: Erinnerungen verwandeln sich – man kann nie sagen, es war genau so. Dann sind wir wieder bei den Emotionen und den Furchen, die schlechte Erlebnisse auf der Seele hinterlassen. Das erlebe ich auch in der Pflege.
Die Bewohner erzählen manchmal Sachen, von denen ihre Kinder sagen, sie könnten nicht wahr sein. Die Emotion ist das Wahrhaftige – und nicht die Wirklichkeit, die ja immer subjektiv ist.
Monika Schmieder: Ich finde es erstaunlich, wie Dinge und Erlebnisse aus der Vergangenheit plötzlich wieder da sein können. In Kursen arbeite ich jeweils mit Symbolen aus der Kindheit. Manchmal entgleisen diese Übungen fast, weil damit Erinnerungen und Emotionen geweckt werden.
«Es kann ja auch ein grosses Glück sein, wenn wir die Erinnerungen ruhen lassen können. Wahrscheinlich wären wir masslos überfordert, wenn wir diesen Ballast immer mit uns herumtragen müssten.»
Elisabeth Dolderer: Mich interessieren auch die Erinnerungen des Körpers. Wenn ich nach langer Zeit wieder einmal die Sopranflöte in die Hand nehme, wissen meine Finger, dass sie jetzt anders greifen müssen.
Zutiefst beeindruckt hat mich der Fall einer schwer dementen und bettlägerigen Frau in einem Pflegeheim, in dem ich arbeitete. Wenn man wie gewöhnlich beim Waschen neben ihrem Bett stand, schrie sie und schlug um sich. Also setzte ich mich neben sie und wusch sie so – und es gab keine Probleme mehr.
Als ich aber etwas am Kopfende ihres Bettes nehmen musste und mich über sie beugte, schrie sie auf. Ich dachte für mich: Dieser Frau müssen schlimme Sachen angetan worden sein. Ihr Körper erinnerte sich daran und liess es nicht mehr zu, dass jemand über sie kam.
Ihr Partner erkrankte an einer Demenz. Welche Erinnerungen aus dieser Zeit sind sehr präsent?
Elisabeth Dolderer: Dass er sehr geduldig und emotional war. Er hatte Angst davor, dass er einmal einen Wutanfall haben und jemandem wehtun würde.
Wie entwickelte sich sein Gedächtnis in dieser Zeit?
Elisabeth Dolderer: Was über den Kopf lief, war schnell weg. Es waren die Emotionen und Sinneseindrücke, die ihm geblieben sind. Ich denke, hier haben die Leute um die Betroffenen herum eine grosse Verantwortung. Wenn jemand traurig ist, weil ihm die Worte nicht mehr einfallen, kommt es stark darauf an, wie sein Gegenüber reagiert. Ein Teil dieses Leidens sind die anderen und ihre Reaktionen.
Monika Schmieder: Da gebe ich Ihnen zum Teil recht. Wenn der Mensch aber merkt, dass er die Erinnerung und Orientierung verliert, bleibt diese Erinnerung haften. Ich glaube, das ist einfach schwierig. Erinnerung an Aufgaben, die man glaubt machen zu müssen – aber man weiss nicht mehr, wie es geht oder was es genau ist: Das löst Verzweiflung aus, manchmal auch Panik.
Ein Fallbeispiel: Eine 80-jährige Frau mit Demenz liegt im Sterben. Sie ist sehr unruhig und bittet Gott immer wieder um Vergebung. Offenbar hatte die Frau, die in einem sehr katholischen Umfeld gelebt hatte, mit 20 ein uneheliches Kind. Wie kann man dieser offensichtlich an schlechten Erinnerungen leidenden Frau beistehen?
Monika Schmieder: Indem man da ist und das Gefühl teilt. Mehr kann man nicht machen – es gibt ja keine Lösung des Problems. Man muss auch sehr achtsam sein und sollte nicht interpretieren. Vielleicht hat sie ja einfach auf ihre Art Abschied genommen vom Leben. Das versuche ich zu leben: den Weg gehen, der nicht immer einfach ist. Ich kann ihr ja nicht sagen: «Sie müssen jetzt keine Schuldgefühle mehr haben.»
Elisabeth Dolderer: Die Hilflosigkeit der Begleitenden ist manchmal grauenhaft. Sprüche wie «Sie hatten es ja sonst sehr schön» sind in solchen Situationen einfach deplatziert.
Monika Schmieder: Es ist nicht mein Recht, das Gefühl zu übernehmen oder zu beschwichtigen. Ich muss und darf es bei den Menschen lassen – aber immer mit dem nötigen Respekt.
Elisabeth Dolderer: Wenn ich Kurse gebe, erlebe ich immer wieder, wie die Leute instinktiv sagen: «Das macht doch nichts. Du musst jetzt nicht traurig sein.»