alzheimer.ch: Wenn ich einen Klangstein sehe, möchte ich mich sofort hinsetzen und losspielen. Warum üben diese Steine eine so große Faszination aus?
Martin Runge: Weil sie vielfältige Sinneserlebnisse erzeugen. Ich höre die Klänge, spüre den Stein mit meinen Händen, kann ihn riechen, und ich sehe meine Hände, die sich bewegen. Die Bewegungen sind so elementar, dass sie jeder durchführen kann. Wir haben schon erlebt, dass sich Patienten die Hände blutig gerieben haben, weil sie gar nicht mehr aufhören wollten.
Sie haben gemeinsam mit dem Musiker und Komponisten Klaus Fessmann ein Konzept entwickelt, bei dem Menschen mit Demenz durch die Klangsteine stimuliert werden. Was genau passiert da?
Menschen mit Demenz reagieren auf Musik normalerweise sehr positiv. Wenn jemand einen Klangstein berührt, entstehen Schwingungen, und der Stein vibriert. Die Vibration wiederum bewegt die Zellmembranen im Körper, dadurch werden Durchblutung und Körperwahrnehmung angeregt.
Welchen Effekt hat das Spiel auf die Psyche?
Für Menschen mit Demenz bedeutet das Spielen ein Erfolgserlebnis, weil sie mit wenigen Bewegungen viel ausrichten können. Sie haben im wahrsten Sinn des Wortes etwas in der Hand.
Der Zugang zum Instrument ist intuitiv, es braucht dafür keine detaillierte Anleitung. Manche Patienten haben sogar gesagt: «Ich bin erstaunt, dass ich so etwas kann!» Zudem helfen die monotonen Klänge, in eine meditative Stimmung zu kommen, die Musik wirkt beruhigend.
Welche Eigenschaften muss ein Klangstein mitbringen?
Klangsteine sind Granitsteine, in die Lamellen geschnitten sind. Bevor man den Stein reibt, wird er mit ausreichend Wasser benetzt, wenn er trocken ist, funktioniert es nicht. Beim Spielen beginnen die Lamellen zu schwingen und erzeugen je nach ihrer geometrischen Struktur einen Klang. Auch die Hände des Spielers müssen übrigens vor dem Spiel befeuchtet werden.
Sie haben Klangsteine in einer Klinik in Baden-Württemberg therapeutisch verwendet. Was passiert durch das Spiel im Verhältnis zwischen Arzt und Patient?
Wir haben die Klangsteine vor allem für Schlaganfall- und Demenzpatienten eingesetzt. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird durch den Klangstein ein Stück weit aufgebrochen, plötzlich sind sozusagen drei Körper im Raum.
Der Patient kann am Stein eine führende Rolle übernehmen, er bestimmt, was passiert, der Therapeut wird zum Zuhörer. Der Patient kann mit dem Stein aber auch eine Weile allein gelassen werden, dann ist er ganz autonom.
Wie weit greift der Therapeut überhaupt ein?
Das ist ganz verschieden. In jedem Fall sollte der Therapeut Geduld mitbringen und seine Patienten machen lassen. Er sollte auch nicht meinen, Abwechslung ins Spiel des Patienten bringen zu müssen, sondern sollte es aushalten, wenn der Patient lange Zeit dasselbe macht und nur wenige Variationen verwendet.
Können Therapeut und Patient auch gemeinsam spielen?
Ja, es gibt Partnersteine, die von zwei Seiten aus gleichzeitig bespielt werden können, beide Spieler sitzen sich gegenüber. Ich selbst habe es als angenehm erlebt, dass ich nicht mehr der Therapeut bin, sondern der musikalische Partner, der mit einem anderen Menschen ungewöhnliche Klangwelten erschaffen kann.
Kommt es vor, dass Patienten mit ihren Lebenspartnern an einem Stein spielen?
Auf jeden Fall. Die Psychodynamik spielt jetzt eine wichtige Rolle, denn die beiden Menschen müssen sich aufeinander einstellen: Will einer den anderen beherrschen? Wer passt sich an? Wie geschmeidig sind die Partner miteinander?
Gerade wenn der verbale Austausch schwierig ist, bietet der Klangstein die Möglichkeit einer neuen, sinnlichen Kommunikation. Oft werden beim gemeinsamen Spiel hergebrachte Rollen aufgebrochen. Die oder der pflegende Angehörige ist dann nicht mehr automatisch in der dominierenden Rolle.
Dr. Martin Runge
Geboren 1949 in Nordrhein-Westfalen, arbeitete Dr. Martin Runge als Facharzt für Allgemeinmedizin und Klinische Geriatrie. Er war ärztlicher Direktor der Aerpah-Klinik Esslingen-Kennenburg (Baden-Württemberg), wo er auch mit der Klangsteintherapie gearbeitet hat. Runge war massgeblich an der Entwicklung von Trainingsprogrammen zur Behandlung von Osteoporose und von Fitnessprogrammen für die zweite Lebenshälfte beteiligt. Er lebt mit seiner Frau in der Nähe von Stuttgart.
Haben Sie hier ein Beispiel?
Die Ehefrau bekommt mit, dass der erkrankte Partner beim Spielen in der Lage ist, auf Augenhöhe zu agieren, dass er diese besondere Form von Gemeinsamkeit genießt. Das kann für beide ein schönes Erlebnis sein.
Ich erinnere mich aber auch an ein Paar, wo es nicht so gut gelaufen ist. Er war dement und hatte einen Schlaganfall erlitten, in seinen Bewegungen war er aber wenig eingeschränkt. Seine Frau war ein eher handfester und dominierender Typ.
Sie spielten gemeinsam auf dem Stein, er konnte sich schnell einlassen und auch Variationen erzeugen, sie war deutlich ungeschickter, fast gehemmt. Sie konnte das nicht ertragen und hörte dann einfach auf.
Erinnern Sie sich an jemand, der durch das Spielen deutliche Veränderungen in seinem Verhalten gezeigt hat?
Ich hatte einen Patienten mit einer Stirnhirndemenz, er kam eine Zeitlang einmal pro Woche zur Therapie. Er war kaum zugänglich, hat wenig gesprochen, seine Frau kümmerte sich sehr liebevoll um ihn. Zudem war er bewegungsgestört und hatte einen staksigen Gang.
Wenn er in den Raum mit den Steinen ging, beschleunigte sich sein Gang deutlich, er erinnerte sich an die Male zuvor, als er bei mir war.
Durch das Spielen wurde er viel gesprächiger, murmelte vor sich hin. Er hat sich sichtlich gefreut, und seine Frau war auch glücklich, dass ihm das Spielen so viel bringt.
Sollten Klangsteine häufiger in der Therapie für Menschen mit Demenz eingesetzt werden?
Sicher. Allerdings kosten Klangsteine zwischen 4000 und 6000 Euro, das ist zum Beispiel für eine ergotherapeutische Praxis eine echte Investition. Zudem gibt es leider immer noch Vorurteile gegenüber der Klangsteintherapie. Viele halten sie für eine esoterische Angelegenheit – was sie aber nicht ist. Gerade für Menschen, deren Kognition gestört ist, ist sie sehr gut geeignet.