Bedürfnisse des alten Mannes - demenzjournal.com

Demenz und Kreativität (Teil 2)

Bedürfnisse des alten Mannes

Alte Männer werden oft zu Aktivitäten aufgefordert, die kaum einen Bezug zu ihrem bisherigen Leben aufweisen. pexels/Andrea Piacquadio

Die Lebenserwartung steigt und damit auch die Zahl demenziell erkrankter Männer. Pflegeeinrichtungen sind deshalb aufgefordert, spezielle, biografiebezogene Beschäftigungen und Kreativität für Männer zu entwickeln. Ruth Wetzel zeigt anhand eines Fallbeispiels, mit welcher Methodik man vorgehen kann.

Von Ruth Wetzel

Mittlerweile nimmt die Anzahl männlicher Bewohner in Pflegeheimen zu. Die Jahrgänge, die unter den Kriegsauswirkungen zu leiden hatten, sterben aus. Wir erleben eine immer höhere Lebenserwartung und damit auch eine erkennbare Zunahme demenziell erkrankter Männer.

Daraus ergibt sich auch die Forderung, in den Pflegeeinrichtungen spezielle, biografiebezogene Beschäftigungen und Kreativität für Männer zu entwickeln und diese in Gruppen- oder Einzelaktivierungen anzubieten.

Denn Heimbewohner sehen meist wenig Sinn darin, an den vorhandenen Mal-, Bastel- und Kreativangeboten teilzunehmen. Dies hat viel mit ihrer sozialen Prägung und dem Charakter der Angebote zu tun.

Besondere Bedürfnisse hochaltriger männlicher Einrichtungsbewohner.Hammer

»Die Angebote zur Beschäftigung, Bewegung und Begegnung haben meist weiblichen Charakter, alte Männer werden zu Aktivitäten aufgefordert, die kaum einen Bezug zu ihrem bisherigen Leben aufweisen, ihre brüchige männliche Identität weiter beschädigen und sie vor sich selbst lächerlich machen.

Das bedeutet: Mandalas malen, das Zusammenlegen von Wäsche, Kochen und Backen und ähnliches mehr oder Kurzzeitaktivierungen mit bunten Wäscheklammern, Knöpfen und Seidentüchern wecken durchaus Erinnerungen, geben dem Mann jedoch nicht das Gefühl ‚männlicher‘ Betätigung und entsprechender Wertschätzung.« (Hammer 2008, 153)

Überblick über die häufigen Lebensthemen in Biografien hochaltriger Männer

Auto 🚙 Kegeln 🚙 Briefmarken 🚙 Reparaturen 🚙 Musik 🚙 Auto waschen 🚙 Bier 🚙 Haustiere 🚙 Wein 🚙 Beruf 🚙 Kneipe 🚙 Zeitung 🚙 Landwirtschaft 🚙 Wetter 🚙Eisenbahn 🚙 Geld 🚙 Schule 🚙 Seifenkisten 🚙 Freunde 🚙 Militär 🚙 Politik 🚙 Flugzeuge 🚙 Haus bauen 🚙 Renovierung 🚙 Radio 🚙 Münzen 🚙 Fahrrad 🚙 Väter 🚙 Garten 🚙 Sport 🚙 Karten 🚙 Fernsehen 🚙 Holzarbeiten 🚙 Wetter 🚙 Werkzeug 🚙 Geografie 🚙 Büroarbeit 🚙 Würfeln 🚙 Flaggen 🚙 Lokales

Fallbeispiel

Phase 1 – Informationssammlung

Herr Freitag, 60 Jahre alt, ist an Parkinson erkrankt und lebt seit einigen Monaten auf einer Wohngruppe in einem Pflegeheim. Dort wird nach dem Wohngruppenkonzept gearbeitet. Er war Chirurg und musste aufgrund der frühen Erkrankung seinen geliebten Beruf vorzeitig aufgeben.

Das selbständige Gehen fällt ihm mittlerweile sehr schwer. Kurze Strecken sind mit Unterstützung noch möglich. Herr Freitag leidet außerdem unter einer Akinese (Bewegungsarmut).

So sitzt er mittlerweile sehr häufig im Rollstuhl. Das Sprechen fällt ihm auch schwer, er hat Formulierungs- und Verständnisprobleme. Anzeichen demenzieller Symptome werden mittlerweile auch beobachtet.

Herrn Freitags Ehefrau kommt ihn regelmäßig besuchen. Er liebte es früher, regelmäßig klassische Konzerte mit ihr zu besuchen. Wenn es die Zeit zuließ, besuchten sie auch die Oper.

Nun sitzt Herr Freitag im Wohn-/Essbereich am Tisch und wirkt sehr traurig. Sein Blick ist starr zum Tisch geneigt. Wie kann ich seine Kreativität wecken?

Ruth Wetzel

aus Balzheim; Krankenschwester, Altentherapeutin, gerontopsychiatrische Fachkraft, Gedächtnistrainerin sowie Referentin für Generationen- und Altenarbeit. Frau Wetzel ist freiberuflich tätig als Dozentin und Referentin mit dem Schwerpunkt Demenz in Aus-, Weiter- und Fortbildungen.

Phase 2 – Ressourcen und Probleme

Welche Ressourcen stehen Herrn Freitag noch zur Verfügung und mit welchen Problemen ist er konfrontiert?

Ressourcen: 🚀 liebt klassische Musik 🚀 ging gerne in die Oper 🚀 Ehefrau kommt regelmäßig zu Besuch 🚀 liebte seinen Beruf als Chirurg

Probleme: 🌪 Parkinson-Erkrankung 🌪 leidet unter Bewegungsarmut 🌪 hat Formulierungs- und Verständnisprobleme 🌪 Mobilität ist eingeschränkt 🌪 beginnende Demenzsymptomatik

Phase 3 – Ziele

🏛 Herr Freitag lebt seine Kreativität.
🏛 Herr Freitag erlebt Reize durch vielfältige, bekannte Stimulation.
🏛 Herr Freitag erlebt Vertrauen durch bekannte Materialien.
🏛 Herr Freitag erlebt Beschäftigung.

Phase 4 – Interventionsbeispiel

Angebot: Stimulation der Kreativität durch seinen Ärztekoffer.
Motivation/Kommunikation: Ich lade Herrn Freitag dazu ein: »Ich möchte Ihnen etwas Besonderes zeigen«; gute Beziehung aufbauen.
Wo? In seinem Zimmer (zu Beginn ist es wichtig, dass kein Publikumsverkehr stört).
Wann? Zweimal wöchentlich, morgens um 10 Uhr.
Dauer: Je nach Konzentrationsfähigkeit 10 bis 20 Minuten.

Phase 5 – Durchführung

Begrüßung: Ich gehe zu Herrn Freitag, der am Tisch sitzt, und setze mich zu ihm, damit Blickkontakt entsteht. Ich reiche ihm meine Hand zur Begrüßung und spreche ihn mit Namen an. Mit ruhiger Stimme und langsam sprechend stelle ich mich vor; dabei vermittle ich Wertschätzung und frage ihn nach seinem Befinden.

Hauptteil: Nun informiere ich ihn, dass ich etwas Besonderes mitgebracht habe; ich stelle seinen Arztkoffer vor ihn auf den Tisch, so dass er ihn sieht. Zunächst einmal gebe ich keine Anleitungen, sondern beobachte Herrn Freitag einfach.

demenzwiki

Körpersprache

Im Verlauf der Krankheit verlieren Menschen mit Demenz ihre Sprache. Wir können mit ihnen in Kontakt bleiben, wenn wir auf die Körpersprache achten. weiterlesen

Nun heißt es Geduld haben, denn der Prozess kann etwas dauern, bis er den Arztkoffer als Trigger wahrnimmt. Plötzlich greift er mit beiden Händen nach dem Koffer und zieht ihn näher zu sich heran. Er versucht, ihn zu öffnen.

Da er feinmotorische Probleme hat, helfe ich ihm beim Öffnen. Einmal mehr kann ich beobachten, dass »die Tür zum Langzeitgedächtnis« geöffnet ist. Das Öffnen des Koffers bietet Herrn Freitag die Möglichkeit, den Inhalt gut zu sehen. Er greift in den Koffer und schiebt, soweit er es kann, die Instrumente auf den Tisch.

Ich beobachte dabei seine Gestik und Mimik und merke, dass sich die Anspannung im Gesicht löst. Er schiebt die Instrumente (Pinzette, Haken, Klemme, Kompressen, Mullbinde, elastische Binde, Blutdruckmessgerät, Stethoskop, Spritze usw.) in eine Reihe vor sich hin.

Ich lobe sein »Kunstwerk«! Er selbst wirkt sehr zufrieden. Jetzt ist Feingespür gefragt.

Entweder beobachte ich ihn jetzt weiter oder ich frage ihn: »Herr Freitag, ich kenne mich da nicht so aus, können Sie mir sagen, wie dieses Instrument heißt? Was macht man damit?« Wenn ich merke, dass ihn Erklärungen überfordern, lasse ich das Instrument einfach als Stimulation vor ihm liegen.

Nach einer passenden Zeitspanne von maximal 20 Minuten leite ich über zum gemeinsamen Einräumen der Instrumente in den Arztkoffer.

Verabschiedung: Mit einem ihm bekannten Lied leite ich die Verabschiedung als Ritual ein. Dadurch wecke ich eine Ressource, denn er singt mit und reicht mir seine Hand zum Abschied. Ich vereinbare mit ihm den nächsten Termin, an dem ich den Arztkoffer erneut mitbringen werde.

Phase 6 – Dokumentation

🖌 Herr Freitag hat selbständig die Elemente aus dem Arztkoffer herausgeholt und vor sich hingelegt.
🖌 Herr Freitag war dabei hochkonzentriert.
🖌 Herr Freitag singt sein Lieblingslied mit. Dabei hat er keine Formulierungsprobleme.

Planungshilfen

🔰 Ein weiteres Angebot als kreative Stimulation ist der Einsatz seiner liebsten
klassischen Musik durch unterschiedliche Medien.
🔰 Bekannte Opernmelodien erkennen lassen und über diesen Trigger ins Gespräch
kommen.
🔰 Bildbände (Musik, Opern, Opernhäuser) zum Anschauen nutzen.
🔰 Collage, Schatzkiste und Erinnerungsbuch gestalten.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Ruth Wetzel, Was mit Demenz noch alles geht. Personzentrierte Aktivierung Schritt für Schritt, Reinhardt Verlag