Karl Gerber (Name von der Redaktion geändert) kam vor drei Jahren als «Vorbestrafter» in die Sonnweid. Vorher hatte er in einem anderen, nicht auf Menschen mit Demenz spezialisierten Heim gelebt. Dort hatte er mit seinem Verhalten die Betreuerinnen überfordert. Gerber habe ihnen zwischen die Beine und an den Busen gegriffen und sei ständig erigiert gewesen, hiess es.
«Wir sind es gewohnt, dass wir von anderen Heimen die schwierigen Bewohner bekommen», sagt eine Betreuerin der Sonnweid. «Aufgrund der Berichte aus dem anderen Heim dachten wir, dass es sich bei Herrn Gerber und einen aussergewöhnlich schwierigen Fall handeln müsse. Die erste Begegnung mit seiner Tochter ist mir stark in Erinnerung geblieben. Sie fürchtete sich davor, dass er auch uns belästigen würde. Ich denke, sie hat sich sehr geschämt für ihren Vater.»
Am Anfang hielt er sich zurück
Doch der neue Bewohner der Station war nicht der aufdringliche und nimmersatte Casanova, den man aufgrund der Vorberichte erwartet hatte, sondern ein charmanter und weltgewandter 85-jähriger Mann. Sein Potential, andere sexuell zu belästigen, war eingeschränkt durch seine Immobilität. Gerber konnte schon bei seinem Eintritt nur noch kurze Strecken gehen und sass meist im Rollstuhl.
Karl Gerber heiratete mit 26 und blieb seiner Frau bis zu ihrem Tod im Jahr 1997 treu. Zwei Jahre lang pflegte er seine krebskranke Frau zu Hause. Er setzte sich auch ausserhalb der Familie für andere ein. Er war Kirchenrat, Schulrat und übernahm allerlei Aufgaben im Schützen- und im Turnverein des kleinen Dorfes, in dem er lebte. Er war Vorarbeiter in einer grossen Zimmerei und kümmerte sich dort um die Lehrlinge.
In seiner Freizeit unternahm er viel mit der Familie, bewirtschaftete ein Stück Wald und reparierte in seiner Werkstatt alte Möbel und Elektrogeräte. Vor seiner Erkrankung an einer vaskulären Demenz war er kein Schürzenjäger, sondern ein vorbildlicher Ehemann gewesen. Er hatte sich rührend um das Wohl seiner Familie gekümmert.
Den Tod seiner Frau verkraftete er nur schwer, doch das Schicksal prüfte Gerber weitere Male. Ein Jahr nach seiner Frau starb eine seiner beiden Töchter an Krebs. Fünf Jahre später fand Gerber eine neue Partnerin. Das Glück dauerte aber nur ein Jahr, dann starb sie nach einem Schenkelhalsbruch. Gleichzeitig zeigten sich bei Gerber erste Gedächtnisstörungen. Weil sein Sohn und seine Tochter im gleichen Dorf wohnten und sich um ihn kümmerten, konnte er trotz nachlassender Ressourcen noch fünf Jahre zu Hause leben.
Er macht «gut gebauten» Betreuerinnen Komplimente
Ob dem neuen Bewohner die Gründe seiner Verlegung in die Sonnweid bewusst waren und er sich auf Druck der «Bewährungsauflagen» anstrengte, wissen wir nicht. Als er sich nach einigen Wochen an seinen neuen Wohnort akklimatisiert hatte, suchte er vermehrt die Nähe zu den Betreuerinnen. Karl Gerber blickte in Dekolletés und verteilte da und dort zweideutige Komplimente. Seine Aufmerksamkeit galt «gut gebauten» Betreuerinnen und Besucherinnen, die mit Humor und Verständnis auf seine manchmal anzüglichen Bemerkungen reagierten.
«Als er eines Abends bei einem Glas Rotwein am Tisch sass, lud er mich ein, mit ihm zu trinken», erinnert sich eine Betreuerin. «Ich sagte, dass ich während der Arbeit nicht trinken dürfe. Er wiederholte seinen Wunsch, und so willigte ich auf einen Schluck zum Anstossen ein. Er rückte nahe an mich heran, erzählte von seiner verstorbenen Frau und sagte, dass es traurig sei, so alleine zu leben. Dann schlug er mir vor‚ dass wir uns zusammentun, was sehr schön für uns beide wäre.»
Er will, dass die Betreuerinnen «oben ohne» arbeiten
Die Betreuerin zeigte Verständnis für seine Lage, sagte ihm aber, dass dies nicht gehe, da sie verheiratet sei. Gerber reagierte mit grosser Trauer auf diese Absage. Aber er liess nicht locker, versuchte es bei der besagten und auch bei anderen Betreuerinnen immer wieder. Er wahrte dabei in der Regel einen gewissen Anstand und unterliess belästigende Bemerkungen und Berührungen. Manchmal äusserte er den Wunsch, die Betreuerinnen sollten «oben ohne» arbeiten.
Eine weit grössere Herausforderung als Bemerkungen dieser Art ist Karl Gerbers Verhalten während der Körperpflege. Sobald die Betreuenden ihm die Hose ausziehen oder die Bettdecke zurückschlagen, zeigt Gerber stolz seinen erigierten Penis. Im Beisein der Betreuerinnen versucht er, sich zu befriedigen.
Seit einem Schlaganfall kann er dazu nicht mehr seinen rechten Arm benutzen. Auch sein linker Arm ist offenbar zu wenig stark und verfügt nicht über das nötige Feingefühl. Unter Stöhnen und mit ungeschickten Bewegungen reibt er sich. Weil er nur höchst selten zum Orgasmus kommt, kann dieses Prozedere sehr lange dauern.
Im Betreuungsteam der Station bildeten sich zwei Parteien. Die einen zeigten Verständnis für Gerbers Bedürfnisse und dafür, dass sein Glied bei der Pflege erigiert ist. Sie fragten sich, auf welche Weise Gerber Erfüllung und Glück finden könnte. Andere Mitarbeiter der Station – es waren vor allem aus anderen Kulturkreisen stammende – zeigten kein Verständnis. Sie lehnten Gerbers Bedürfnisse ab und fühlten sich «nicht zuständig», an der bestehenden Situation etwas zu ändern.
Er geniesst die Besuche der Sexualassistentin
Die Stationsleiterin besprach die Situation mehrmals mit den Ärzten und der Pflegedienstleitung und brachte das Thema in der Ethikgruppe zur Sprache. Nach anfänglicher Skepsis wurde in Betracht gezogen, eine Sexualassistentin (auch Berührerin genannt) zu engagieren.
Auch mit dem Sohn und der Tochter wurde diese Möglichkeit diskutiert. Nach einigen Gesprächen willigten diese ein, einmal monatlich für eine Stunde eine Sexualassistentin zu beauftragen, sich um Karl Gerber zu kümmern. Die Kosten von rund 250 Franken pro Dienst werden aus Gerbers Vermögen bezahlt. Er geniesse diese Begegnungen sehr, sagt eine Betreuerin. «Was die zwei machen, wissen wir nicht und es geht uns auch nichts an.»