Young Carers sind sich ihrer Aufgabe oft nicht bewusst - demenzjournal.com
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Young Carers sind sich ihrer Aufgabe oft nicht bewusst

Jugendliche, die Angehörige pflegen, sind gleichzeitig mit der eigenen Ausbildung und weiteren alltäglichen Herausforderungen beschäftigt. Shutterstock

Das internationale ME-WE-Forschungsprojekt will die psychische Gesundheit von Jugendlichen mit Betreuungs- und Pflegeaufgaben verbessern. Ergebnis des 2018 gestarteten Projektes ist ein Unterstützungsangebot. Doch die Rekrutierung von Teilnehmer:innen erwies sich als äusserst schwierig.

Von Elena Guggiari, Daniel Phelps, Agnes Leu

Menschen müssen häufig die Betreuung oder Pflege einer erkrankten oder beeinträchtigten Person übernehmen. Diese Betreuungsaufgaben betreffen auch Kinder und Jugendliche. Young Carers sind junge Menschen unter 18 Jahren, welche sich umfangreichen Pflege- oder Betreuungsaufgaben einer nahestehenden Person annehmen. Dies tun sie oft regelmässig und übernehmen dabei ein hohes Mass an Verantwortung.

In der Schweiz nehmen 7,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 10 bis 15 Jahren Betreuungs- und Pflegeaufgaben wahr. Die Betreuungsaufgaben sowie die allgemeine Situation können negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit, auf das soziale Leben und auf die Schulleistungen haben.

Im Januar 2018 startete das internationale Forschungsprojekt «ME-WE» zum Thema «Adolescent Young Carers», also junge pflegende Angehörige zwischen 15 und 17 Jahren. Die Schweiz war mit dem Careum Hochschule Gesundheit eines der sechs daran beteiligten Länder, neben Italien, den Niederlanden, Schweden, Slowenien und Grossbritannien.

Das Projekt hatte zum Ziel, die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Young Carers in Europa zu verbessern.

Nach der Erarbeitung der Grundlagen wurde auf Basis des DNA-V-Modells eine Intervention zur Förderung der Resilienz von Adolescent Young Carers entwickelt und getestet. Sie bestand aus acht wöchentlichen Online-Treffen, die durch eine im Rahmen des Projekts entwickelte App unterstützt wurden.

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Schwierige Rekrutierung

Um die Wirksamkeit der ME-WE-Intervention zu evaluieren, wurde ein randomisierte kontrollierte Studie geplant. Die Rekrutierungsstrategie hat sich anfangs auf Schulen fokussiert: Das Forschungsteam traf das Schulpersonal und die Lernenden auf dem Schulcampus.

Wegen der Covid-19-Pandemie und der Schliessung der Schulen verlegte sich der Fokus der Rekrutierungsstrategie auf die Unterstützung durch Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen, durch Jugendorganisationen sowie auf Social Media.

Trotz erheblicher Rekrutierungsbemühungen äusserten lediglich neun Adolescent Young Carers ein Interesse an der Intervention, von denen fünf teilnahmen. Aufgrund der erheblichen Herausforderungen mit der Rekrutierung fanden zwischen September und Dezember 2020 drei Fokusgruppen mit 14 Stakeholdern aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen sowie ehemaligen Young Carers statt. Zusätzlich wurde ein Online-Fragebogen von 24 Stakeholdern beantwortet.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Was sind die Ergebnisse?

Die Stakeholder wiesen auf mehrere Herausforderungen im Rekrutierungsprozess hin. Sie vermuteten als Hauptbarrieren Hemmungen und Zeitmangel der Adolescent Young Carers sowie die fehlende Sensibilisierung in Bezug auf die Situation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in dieser Rolle.

Viele Young Carers sind sich ihrer Betreuungsrolle selber nicht bewusst.

Darüber hinaus ist dies ein sensibles Thema und einige Adolescent Young Carers möchten es nicht öffentlich machen, wie die Aussage einer Lehrperson verdeutlicht:

Die grösste Herausforderung besteht darin, die Young Carers zu erreichen beziehungsweise zu finden, da sie oft unerkannt ihre Aufgabe übernehmen und niemand in der Schule oder sonst im Umfeld davon weiss.

Eine weitere Herausforderung betraf die Altersgruppe. Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren befinden sich in einer wichtigen Transitionsphase zwischen der Sekundarstufe I und II und müssen sich neu orientieren.

Ausserdem erforderte die Teilnahme an der Intervention viel Zeit und Adolescent Young Carers sind sehr beschäftigt mit der Ausbildung und ihren Betreuungsaufgaben. Zudem erlaubte die Struktur der Intervention wenig Flexibilität, so ein befragter Psychologe:

Es gibt ein Programm (…) und man muss es so umsetzen, wie es ist. Das muss plus minus in allen Ländern in Europa gleich sein (…). Das ist ein No-go für eine Intervention, die die Jugendlichen erreichen will, und in erster Linie geht es darum, was die Jugendlichen wollen. Es ist nicht besonders erfolgreich (…), wenn man am Anfang alles bestimmt, was passieren muss und die Jugendlichen sollten mitmachen, ohne dass sie mitentschieden haben.

Die Durchführung der ME-WE-Intervention im Online-Format wurde von den Teilnehmenden auch als potenzielle Barriere angesehen, da die Privatsphäre der Adolescent Young Carers durch die Teilnahme von Zuhause aus und die mögliche Anwesenheit ihrer Familie stark eingeschränkt war.

«Lessons learned»

Die Rekrutierung von Adolescent Young Carers für die ME-WE-Intervention in der Schweiz war eine Herausforderung, auch aufgrund des geringen Bewusstseins zum Thema. Bedeutend ist, dass das ME-WE-Projekt zu einer Sensibilisierung für die Situation von Adolescent Young Carers geführt hat.

Zudem zeigte die Studie ein relevantes Ergebnis: Die Entscheidung, die ME-WE-Intervention abzubrechen oder sich nicht zu beteiligen, hängt bei den Adolescent Young Carers stark mit der Priorisierung anderer Bedürfnisse zusammen. Die Präferenzen von Adolescent Young Carers und die Herausforderungen, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind (zum Beispiel Zeitmangel), müssen vollumfänglich verstanden werden, um diese vulnerable Gruppe unterstützen zu können.

Eine aktive Beteiligung von Young Carers würde ermöglichen, ihre Bedürfnisse besser zu verstehen und zu berücksichtigen.

Entscheidend ist auch die enge und nachhaltige Zusammenarbeit mit wichtigen Stakeholdern.


Die Autor:innen

Elena Guggiari MSc, Junior Researcher, Careum Hochschule Gesundheit,
elena.guggiari@careum-hochschule.ch
Daniel Phelps BSc, Senior Researcher, Careum Hochschule Gesundheit,
daniel@youngcarers.info
Agnes Leu Prof. Dr. iur., Prorektorin Forschung, Careum Hochschule Gesundheit,
agnes.leu@careum-hochschule.ch

Dieser Beitrag erschien im Januar 2022 in der SBK-Zeitschrift Krankenpflege. Wir bedanken uns bei der Redaktion und den Autor:innen für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.