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Gendermedizin

Warum Frauen öfter an Alzheimer erkranken

Zwei ältere Damen halten Hände, Bild verschwommen

Öfter institutionalisiert und unter Medikamente gesetzt: Dass die Forschung Frauen vernachlässigt, hat konkrete Folgen. Véronique Hoegger

Die Erkenntnis «Alzheimer ist weiblich» bewog die Neurowissenschaftlerin und Ärztin Antonella Santuccione dazu, das Women’s Brain Project zu gründen. Denn die aktuelle Medizin ist auf Männer ausgerichtet – mit potenziell tödlichen Folgen.

»Wir dürfen nicht warten, bis weitere Frauen wegen ungeeigneter Medikamente sterben. Wir müssen ein weltweites Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede schaffen.«

Dr. Antonella Santuccione Chadha ist Neurowissenschaftlerin, hochdotiert und ständig auf Achse. Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit neuropsychiatrischen Störungen. Sie hat zu Schizophrenie und Alzheimer geforscht, Patient:innen begleitet, für die Zulassungsbehörde Swissmedic, Roche und Biogen gearbeitet. Seit Mai 2022 ist sie Chef Medical Officer bei Altoida, einem Schweizer Start-Up, das die Diagnose neuropsychiatrischer Erkrankungen mithilfe Künstlicher Intelligenz revolutionieren will.

Eine Sache, die der gebürtigen Italienerin besonders am Herzen liegt, ist das Women’s Brain Project (WBP). Seit der Gründung 2016 setzt sie sich als pro bono CEO dafür ein, dass der Einfluss des Geschlechts bei der Entwicklung von Medikamenten und neuen Technologien stärker berücksichtigt wird.

Gerade in Bezug auf Alzheimer-Demenz. Denn diese Krankheit besser in den Griff zu bekommen, das ist Santucciones Ziel, seit sie als junge Ärztin am Universitätsspital Zürich Alzheimerpatient:innen betreute. Der mysteriösen Krankheit nichts entgegensetzen zu können, erschütterte sie.

Alzheimer ist weiblich

Auf einem Kongress in Lausanne fällt dann der Satz, der Santuccione nicht mehr loslässt: »Alzheimer ist weiblich«, behaupten zwei amerikanische Referentinnen. Santuccione überprüft die Akten ihrer bisherigen Patient:innen. Tatsächlich: Es sind deutlich mehr Frauen darunter. Die Meta-Studie, die sie daraufhin unter anderem mit ihrer Kollegin Maria Teresa Ferretti durchführt, bestätigt das. Und sie zeigt weitere Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf:

  • Der kognitive Verfall ist bei Frauen zweimal schneller als bei Männern.
  • Die Gehirne erkrankter Frauen weisen mehr toxische Proteine und eine stärkere Atrophie auf.
  • Auch die Symptome sind geschlechtsspezifisch: Bei Männern äußert sich Alzheimer häufiger in Apathie, Agitiertheit sowie aggressivem und sozial anstößigem Verhalten. Frauen leiden vermehrt unter Depressivität, ziehen sich zurück und entwickeln Wahnideen.

Die Studie erregt Aufsehen. BBC klopft für ein Interview an, immer mehr Personen aus Forschung, Pharmaindustrie und Politik interessieren sich für den geschlechtsspezifischen Ansatz. Auch weil Alzheimer-Demenz eine so rätselhafte, heterogene Krankheit ist, die sich nicht schubladisieren lässt und auf die Forschung und Industrie noch keine Antwort wissen.

Aber die Beschäftigung mit dem weiblichen Gehirn hat auch mit einem persönlichen Trauma zu tun.

»In meiner ersten Schwangerschaft bekam ich ein Mädchen«, erzählt Antonella Santuccione, »aber ohne Kopf. Es war ein absoluter Schock. Bei meiner Recherche erfuhr ich unter anderem, dass neurologische Probleme bei Frauen bereits im Uterus beginnen. Da fragte ich mich, was passiert da?«

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Es ist kein Klischee: Frauen ticken anders als Männer. Sie haben einen anderen Metabolismus, andere Hormone, Lebensumstände und Risikofaktoren. Schwangerschaft, Periode und Menopause verändern zeitweise den gesamten Hormonhaushalt. Doch obwohl diese Zusammenhänge für Antonella Santuccione »common sense« sind, wurden sie in der Forschung lange vernachlässigt. »Bikini-Medizin« nennt sich das Phänomen: »Man hat untersucht, wie Uterus und Brüste funktionieren, aber den Rest hat man vergessen.«

Dass Medikamente bei Frauen anders wirken als bei Männern fand man erst durch Opfer heraus.

Zolpidem ist eines der am meisten verordneten Schlafmittel. Bei Frauen genügt die halbe Dosis – was man erst bemerkte, nachdem es zu mehreren Verkehrsunfällen gekommen war. Genauso Clozapin. Bis vor einigen Jahren war nicht bekannt, dass das Antipsychotikum bei Frauen häufiger zu Agranulozytose führt, einer potenziell tödlichen Nebenwirkung, welche die Bildung weisser Blutkörperchen behindert und den Körper anfällig für Infekte macht.

2022 wurde Antonella Santuccione Chadha mit dem Bold Woman Award geehrt. David Biedert

»Müssen wir warten, bis solche Tragödien passieren? Nein!«, findet Antonella Santuccione. »Wir fordern eine geschlechterspezifische Forschung, und zwar schon im Tierversuch und dann in der klinischen Entwicklung. So können wir bessere Medikamente auf den Markt bringen und eine kompetente fachliche Betreuung sicherstellen.«

Deshalb gründet Antonella Santuccione 2016 mit drei Kolleg:innen das Women’s Brain Project. Die NPO will eine patientenzentrierte, geschlechtersensible Präzisionsmedizin etablieren und so das Gesundheitssystem nachhaltiger gestalten.

Dazu loten mit dem Projekt assoziierte Forscher:innen Unterschiede hinsichtlich Sex und Gender in neuropsychiatrischen Erkrankungen aus. Die publizierten Daten dienen dann dazu, bessere Therapien und Technologien zu entwickeln. Auch Advocacy-Arbeit in Entscheidungsträgern aus Politik, Pharma und Forschung gehört dazu.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Alzheimerkrankheit. Daneben untersucht das WBP den Einfluss von Sex und Gender auf Migräne, Depression und Covid; Frauen mit Long Covid leiden beispielsweise deutlich häufiger unter kognitiven Langzeitsymptomen wie »Brain Fog« (Bewusstseinseintrübung).

Aktuell untersucht das WBP die »Patientenreise« von Menschen mit Alzheimer, also welchen Weg Patient:innen durch die Phasen der Erkrankung nehmen.

Ausgangspunkt der Studie sind Daten der OECD, wonach Frauen öfter an Alzheimer erkranken, häufiger institutionalisiert werden und mehr Antipsychotika bekommen.

Letzteres ist ein Indikator für niedrige Qualitätsstandards in der Pflegebetreuung. Etwas kann Antonella Santuccione schon jetzt verraten: »Die Patientenreise einer Frau verläuft deutlich anders als die eines Mannes. Da gibt es viel Potenzial in Prävention, Diagnose, Therapie und Betreuung

Das ist auch für die Pharmaindustrie interessant. Wer diese Unterschiede kennt, kann maßgeschneiderte Medikamente auf den Markt bringen. Doch es bleibt viel zu tun. Zum einen gibt es geschlechterspezifische Wirkunterschiede nachweislich nicht nur in der Neurologie, sondern in jedem medizinischen Fachbereich wie zum Beispiel der Kardiologie und Onkologie.

Zum anderen ist die Gruppe der Trans-Menschen noch völlig unter dem Radar: »Wir haben keine Daten, was eine Geschlechtsumwandlung mit dem Körper macht.« Ein weißer Fleck auf der Landkarte, der noch erkundet werden muss.

Dass wir davon weit entfernt sind, macht Santuccione niemandem zum Vorwurf. Es ist ein Zusammenspiel aus der historischen Entwicklung der Medizin, die als Gebiet jung und männerdominiert ist, von Interesse und Priorisierung, von politischen Entscheidungen und Awareness. Doch die Patient:innen sind inzwischen besser informiert und haben ein stärkeres Selbstbewusstsein, fordern mehr. Das ist gut so.

Es sind nicht nur die Hormone

Warum sind Frauen stärker von Alzheimer betroffen? Liegt es daran, dass sie älter werden und das Alter als Hauptrisikofaktor greift? Nein, denn auch wenn man die längere Lebensdauer herausrechnet, erkranken immer noch mehr Frauen.

Östrogen soll dabei eine Rolle spielen. Östrogene regeln neben dem Reproduktionsapparat auch den Hirnstoffwechsel. Sie regulieren die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, die Energie für das Nervenzellwachstum produzieren. Indem sie die Durchblutung fördern, verhindern Östrogene zudem alzheimertypische Plaques-Ablagerungen. In den Wechseljahren sinkt der Östrogenspiegel. Studien zeigen, dass diese hormonellen Veränderungen das Alzheimer-Risiko erhöhen.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Wenn Östrogene eine solche Rolle spielen – warum löst man das Problem nicht mit einer Hormonersatztherapie? »Weil es eine ganze Reihe anderer Faktoren gibt und es unklar ist, wie effektiv eine Hormonersatztherapie wäre«, sagt Antonella Santuccione.

Bekannt ist hingegen, dass das schlechtere Schlafverhalten der Frauen zur vermehrten Plaques-Bildung im Gehirn beiträgt.

Denn die toxischen Proteine, die zu Plaques-Ablagerungen führen, werden im Schlaf abgebaut. Wer jahrelang schlecht schläft, zum Beispiel in der Rolle der Mutter oder pflegenden Angehörigen, hat ein höheres Risiko zu erkranken.

Auch Bildung und die Stimulation des Gehirns ist eine anerkannte Präventionsmaßnahme. Frauen sind hier im Hintertreffen. »Unsere Studie über die Patientenreise zeigt, dass Frauen viel weniger über Demenz wissen«, erklärt Antonella Santuccione. Bisherige Aufklärungskampagnen, zum Beispiel im Bereich Herzkreislauferkrankungen, waren ebenfalls auf Männer ausgerichtet.

Die schlechteren Bildungschancen der Frauen in vielen Ländern steigern deren Erkrankungsrisiko. Hinzu kommt, dass Frauen auch im Bereich Finanzen diskriminiert sind. »Wenn du weniger oder gar nicht arbeitest, weil du zuhause die Familie betreust, hast du weniger Geld, eine schlechtere Versicherung und schlechtere Leistungen.«

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Ein riesiges Problem ist die stille Aufopferung vieler Frauen, gerade der pflegenden Angehörigen. Soziale Isolierung und seelische Belastung bis hin zur Depression sind Hauptrisikofaktoren für eine Demenz. »Wir müssen die Frauen aufklären, damit sie besser auf ihre eigene Gesundheit achten«, fordert Santuccione. »Und wir müssen ihnen die Mittel geben, damit sie sich auch erholen können.« Das heißt: bezahlte Betreuung und ein Recht auf Auszeiten.

Ein Institut für geschlechterspezifische Präzisionsmedizin

A propos seelische Belastung: «Wir sind die erste Generation von Frauen, die eine starke Mehrfachbelastung erlebt. Wir sind berufstätig und bekommen unsere Kinder oft spät. Dann durchlaufen wir die Wechseljahre, sind mit Job und Erziehung beschäftigt, und plötzlich werden die Eltern pflegebedürftig.»

Es muss sich nicht nur in der Medizin einiges ändern. Auch gesellschaftlich und in Sachen Betreuung im Alter sind Anpassungen nötig. Um Isolation als Hauptrisikofaktor für Demenz auszuschalten, braucht es Konzepte des familiären Zusammenlebens – ohne das traditionelle Familienmodell zu reaktivieren, in dem die Tochter die Eltern pflegt.

»Wir haben eine Verantwortung«, betont Antonella Santuccione. »Die Älteren sind unsere Geschichte, unser Wohlstand. Sie haben diese Welt aufgebaut.« Entsprechend schulden wir ihnen eine Präzisionsmedizin, die die Patient:in ins Zentrum stellt, und Betreuungsmodelle abseits von Gewinnmaximierung.

Erfreulicherweise steht das WBP kurz davor, einen Meilenstein zu erreichen: Bald soll in Basel das schweizweit erste Forschungsinstitut für geschlechterspezifische Präzisionsmedizin gegründet werden. Auch Altoida, bei dem Santuccione seit Mai als Chief Medical Officer arbeitet, leistet Vielversprechendes. »Bisherige neurologische Tests können nicht zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen unterscheiden und Kognition nicht zuverlässig messen. Aber Altoida hat eine KI-basierte App entwickelt, die genau das kann.«

Ein Algorithmus, der das Gehirn auf Alzheimeranzeichen screenen kann? Es klingt wie Science-Fiction, scheint aber zu funktionieren.

Die Kandidat:in erledigt am eigenen Handy Augmented Reality-gestützte Alltagsaufgaben. Dabei werden unter anderem Bewegungsmuster und Reaktionsschnelligkeit aufgezeichnet und mit den Werten einer Datenbank verrechnet. Auf diese Weise lassen sich nicht nur früh kognitive Veränderungen wie Alzheimer diagnostizieren. Es ist auch möglich, Verläufe und die Wirkung von Therapien zu testen.

Es sieht so aus, als befände sich Dr. Antonella Santuccione Chadha an der richtigen Schnittstelle zwischen dem WBP und ihrem neuen Arbeitgeber, um die geschlechtersensible Präzisionsmedizin voranzutreiben. Für ihr Engagement ist sie 2022 ein weiteres Mal geehrt worden: mit dem Veuve Clicquot Bold Woman Award Switzerland.

Die Neurowissenschaftlerin blickt positiv in die Zukunft: »Aus einer kleinen Bemerkung ist eine weltweite Bewegung geworden. Das Women’s Brain Project wird sich weiter dafür einsetzen, bessere Medizin für Frauen zu entwickeln.«

So funktioniert die Diagnose-App von Altoida.