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Gewalt

Ein unterschätztes Phänomen

Allein in der Schweiz werden jährlich fast eine halbe Million ältere Menschen Opfer von Gewalt und Vernachlässigung. Bild Mara Truog

Wie kommt es zu Gewalt und Vernachlässigung im Alter? Wie kann man sie früh erkennen und verhindern? Ein Team der Hochschule Luzern hat dazu geforscht.

Von Paula Krüger

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind Gewalt und Vernachlässigung im Alter ein bedeutendes, globales Phänomen. Für die Betroffenen sind die Folgen oft dramatisch. Sie umfassen nicht nur körperliche Verletzungen bis hin zum Tod, sondern auch psychische Beeinträchtigungen und ein höheres Risiko für eine Heimplatzierung (WHO, 2015).

In der Schweiz werden jedes Jahr schätzungsweise etwa 300’000 bis 500’000 Personen ab 60 Jahren Opfer von Gewalt und Vernachlässigung. Allerdings ist die Datenlage lückenhaft. Nicht alle Fälle werden den Behörden oder Fachstellen gemeldet, und nur wenige Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie Spitex-Dienste führen eine entsprechende Statistik.

Entsprechend forderte Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler 2015 vom Bundesrat einen Bericht zum Ausmass von Gewalt gegen ältere Menschen in der Schweiz. Er sollte eine Grundlage für die Verbesserung der Prävention und Intervention in Fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter schaffen.

Die zugrunde liegende Studie wurde von einem Forschungsteam der Hochschule Luzern durchgeführt. Sie sollte einen Überblick darüber geben, was unter Gewalt gegen ältere Menschen verstanden wird und wie es dazu kommt. Zudem sollten Präventions- und Interventionsmassnahmen und deren Wirksamkeit sowie bestehende Lücken aufgezeigt werden. In diesem Artikel werden zentrale Erkenntnisse der Studie für den Pflegekontext zusammengefasst.

Definition und Ursachen von Gewalt

International gibt es bisher keine einheitliche Definition von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. Gemäss WHO (2015) meint Gewalt und Vernachlässigung im Alter eine einmalige oder wiederholte Handlung oder Unterlassung angemessener Handlungen innerhalb einer Vertrauensbeziehung, die einer Person ab 60 Jahren Verletzungen oder Leid zufügt.

Das Phänomen wird dabei breit gefasst: Die WHO berücksichtigt zum einen körperliche, psychische, sexuelle und finanzielle Gewalt (zum Beispiel Verwendung von Vermögen gegen den Willen des älteren Menschen) sowie Vernachlässigung (zum Beispiel Unterlassen notwendiger Pflege).

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Zum anderen schliesst sie die Benachteiligung älterer Menschen aufgrund ihres Alters ein (Altersdiskriminierung) sowie schwerwiegende Verletzungen der Würde und des Respekts. Die WHO grenzt das Phänomen auf Gewalt und Vernachlässigung in Vertrauensbeziehungen ein.

Dazu zählen familiäre Beziehungen, Freundschaften, aber auch Beziehungen älterer Menschen zu Gesundheitsfachpersonen. In der Literatur wird das Phänomen häufig auf den Pflegekontext reduziert – sei es die häusliche Pflege durch Angehörige oder die Pflege durch Fachpersonen.

Stress ist ein Risikofaktor

Bei professionell Pflegenden werden Stress und Überlastung als Ursache für Gewalt und Vernachlässigung gesehen, auf Seiten der älteren Menschen ihre Abhängigkeit von anderen Personen. Zu den bekannten Risikofaktoren gehören unter anderem körperliche und kognitive Einschränkungen sowie soziale Isolation.

Insgesamt gilt: Je vulnerabler eine ältere Person ist, desto höher ist das Risiko, dass sie Opfer von Gewalt und Vernachlässigung wird.

Auf Seiten der gewaltausübenden Personen sind es vor allem Stress und Überforderung sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch, die das Risiko für Gewalt erhöhen. Dabei ist bekannt, dass sich die körperliche und psychische Belastung durch die Pflege negativ auf die psychische Gesundheit von Pflegenden auswirken kann.

So ist etwa das Risiko, eine Depression zu entwickeln, bei pflegenden Angehörigen erhöht. Zudem zählt schädlicher Alkoholkonsum oder der Konsum anderer Drogen zu den dysfunktionalen Bewältigungsstrategien von pflegenden Angehörigen und Fachpersonen im Umgang mit der Belastung.
Das folgende Fallbeispiel, das sich an einem authentischen Fall der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) anlehnt, illustriert die Problematik.

Ein Fallbeispiel

Herr und Frau F. sind beide 79 Jahre alt, seit 54 Jahren verheiratet und leben im gemeinsamen Haus. Herr F. muss Medikamente nehmen, durch die er vergesslicher und langsamer geworden ist. Zudem wird er seiner Frau gegenüber immer wieder ausfallend. Er ist jedoch noch handlungs- und entscheidungsfähig.

Seine Frau betreut ihn. Das Paar hat zwei erwachsene Töchter, die weiter entfernt wohnen und nur unregelmässig die Eltern besuchen können. Zweimal die Woche kommt die Spitex. Bei einem dieser Besuche entdeckt die Pflegefachperson blaue Flecken an den Armen und Beinen von Herrn F.

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Sie spricht ihn darauf an, doch Herr F. sagt, er habe sich wohl gestossen. Am nächsten Tag meldet er sich telefonisch bei der Fachperson. Seine Frau sei gerade einkaufen. Er erzählt, die blauen Flecken habe ihm seine Frau zugefügt. Sie schlage ihn schon seit Längerem. Er habe Angst vor ihr. Die Pflegefachperson bespricht die Situation mit der Einsatzleiterin. Doch Herr F. möchte nicht, dass weitere Personen involviert werden, auch seine Töchter nicht.

Das Beispiel zeigt zwei zentrale Schwierigkeiten bei der Prävention und Intervention: Die Betroffenen vertrauen sich häufig niemandem an, unter anderem aus Angst, ihre Situation würde sich danach verschlechtern (z. B. durch einen Kontaktabbruch der eigenen Kinder). Ist die betroffene Person zudem urteilsfähig, darf nicht über ihren Kopf hinweg entschieden werden. Ihr Wille muss respektiert werden.

Thema bleibt unsichtbar

In der Schweiz gibt es bereits eine Vielzahl politischer Konzepte (z. B. die bundesrätliche Strategie «Gesundheit 2020») sowie rechtliche Normen, die grundsätzlich geeignet sind, Gewalt und Vernachlässigung im Alter zu verhindern, Fälle früh zu erkennen oder Betroffene zu unterstützen.

Darüber hinaus gibt es diverse konkrete Angebote wie beispielsweise Massnahmen zur Qualitätssicherung in der Pflege, kurzfristige Entlastungsangebote für pflegende Angehörige oder zugehende Beratung bei Demenz. Allerdings zielt die Mehrheit dieser Massnahmen nicht explizit auf die Gewaltprävention. Das Thema bleibt unsichtbar, das Potenzial vieler Angebote und Massnahmen ungenutzt, da sie nicht auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind

So stellt etwa das Aufsuchen einer Beratungsstelle für viele ältere Menschen eine Hürde dar. Die folgende Auswahl zeigt, dass es auch für den Pflegekontext bereits viele erfolgsversprechende Ansätze und Massnahmen gibt, auch wenn bis heute aussagekräftige Studien zu ihrer Wirksamkeit fehlen.

Bildung und Beratung

Bildungsmassnahmen für Pflegende und andere Fachpersonen werden als zentral für die Gewaltprävention angesehen. In der Schweiz wird das Phänomen in den Aus-, Fort- und Weiterbildung thematisiert, und es gibt Leitfäden und Informationsbroschüren.

Darüber hinaus finden sich weitere Angebote, die präventiv wirken können, wie Ombudsstellen für das Alter oder Opferhilfestellen. 2019 wurde die nationale Hotline «Alter ohne Gewalt» ins Leben gerufen, bei der sich ältere Menschen selbst, Angehörige oder Fachpersonen in (Verdachts-)Fällen beraten lassen können.

Im Fallbeispiel liess sich die Einsatzleiterin von der UBA beraten. Es wurde besprochen, Herrn F. zu raten, zumindest seine Töchter zu informieren. Nach diesem Gespräch war er bereit, mit der älteren Tochter in Anwesenheit der Pflegefachperson über die Situation zu sprechen.

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Die Tochter zeigte sich überrascht, war aber froh, dass ihr Vater sich offenbart hat. Es wurde abgemacht, dass sie mit der Mutter spricht und Lösungen für die angespannte Situation sucht. Es wurde vereinbart, dass Frau F. stärker durch die Spitex entlastet wird.

Massnahmen im Pflegebereich sind z. B. die Begrenzung von Überstunden, ein Meldesystem für Überlastungen oder Vorgaben zur Anwendung bewegungseinschränkender Massnahmen. Damit kann Stress reduziert und so das Risiko für Gewalt verringert werden.

Darüber hinaus können Präventionskonzepte eine Entlastung darstellen, da alle Beteiligten wissen, wie sie sich im (Verdachts-)Fall zu verhalten haben. Die Befragung von stationären und ambulanten Pflegeanbietern zeigt, dass diese Massnahmen bereits vielerorts implementiert sind.

Misshandlung und Bientraitance

Es bestehen jedoch deutliche Unterschiede zwischen der lateinischen und der Deutschschweiz. In der lateinischen Schweiz verfügen die Institutionen häufiger über Präventionskonzepte, und deutlich mehr Pflegende hatten bereits eine Schulung besucht. Das lässt sich damit erklären, dass die Kantone hier Pflegende stärker verpflichten, entsprechende Schulungsangebote zu besuchen und Richtlinien zu erstellen.

Ein weiterer Unterschied liegt in der Herangehensweise. So wird in der lateinischen Schweiz der Fokus weniger auf die Misshandlung (maltraitance) gelegt als auf die «Gut-» oder «Wohlbehandlung» (bientraitance) und damit auf eine Kultur, die darauf abzielt, das Wohlbefinden der älteren Menschen zu fördern und dabei das Risiko für Gewalt und Vernachlässigung mitzudenken.

Was genau «bientraitance» jedoch ist, muss immer im jeweiligen Kontext gesehen werden, sie kann nicht einfach wie ein Rezept angewendet oder als Qualitätsmerkmal gemessen werden. In der lateinischen Schweiz sind verschiedenste Massnahmen im Pflegebereich bekannt, die im Namen der «bientraitance» ältere Menschen in ihrer Individualität und Ganzheitlichkeit ins Zentrum stellen.

Die meisten Fachpersonen aus allen drei Sprachregionen sahen diesen Ansatz positiv. Sie hielten aber auch fest, dass es in bestimmten Situationen Zwangsmassnahmen brauche und «bientraitance» mit einem erheblichen Aufwand verbunden sei. Es benötige Zeit, jemanden kennenzulernen, um seinen Wünschen, Werten und seiner Biografie gerecht werden zu können. Darüber hinaus dürfe hierdurch nicht das Thema Gewalt und Vernachlässigung ausgeblendet werden.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Die Studie hat gezeigt, dass Gewalt und Vernachlässigung im Alter weit verbreitete Probleme sind. Wir wissen aber zu wenig über die Fälle und die dahinterstehenden Dynamiken sowie über die Wirksamkeit bekannter Präventionsmassnahmen.

Das ist zumindest zum Teil vermutlich damit zu erklären, dass es sich immer noch um ein Tabuthema handelt. Grundlegend für die Prävention ist daher, das Thema zu enttabuisieren, es sichtbar zu machen und bei Massnahmen der Gewaltprävention die Lebensphase Alter systematisch mitzudenken.

Zentral ist jedoch die Stärkung der Pflege.

Hier wurden erste Schritte unternommen, die Corona-Pandemie hat jedoch die prekäre Lage der Pflege wieder deutlich gemacht. In Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie in Spitex-Diensten braucht es mehr und zum Thema geschultes Personal sowie klare Regeln im Umgang mit (Verdachts-)Fällen.

Grundlage hierfür ist auf der einen Seite eine klare und einheitliche Haltung gegenüber Gewalt und Vernachlässigung – auch von Patient:innen gegenüber Pflegenden – sowie eine offene Fehlerkultur. Mitarbeitende, die einen Verdacht ansprechen, dürfen nicht sanktioniert werden.

In der Mehrheit der Fälle finden Gewalt und Vernachlässigung nicht aus böser Absicht statt. Sie ergeben sich vielmehr aus der Überlastung der Pflegenden. Es muss möglich sein, dies anzusprechen. Institutionen sollten zudem die (Verdachts-)Fälle systematisch dokumentieren. Damit lernen wir mehr über das Phänomen und die Entwicklung der Fallzahlen, was wichtig für die Planung und Überprüfung von geeigneten Präventionsmassnahmen ist.


Paula Krüger ist Diplom-Psychologin und Linguistin. Sie ist als Gewaltforscherin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit tätig und hat 2018 – 2019 die Studie «Gewalt im Alterverhindern» im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen geleitet.

Dieser Artikel erschien im Herbst 2021 in der SBK-Zeitschrift «Krankenpflege». Wir bedanken uns bei der Redaktion und bei Paula Krüger für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.