»In ihren Zeichnungen machen Menschen mit Demenz sichtbar, was sonst unsichtbar ist.
Wenn wir ihnen beim Zeichnen zusehen, sind wir zu Gast im künstlerischen Spielraum dieser Menschen«, berichtete Oliver Schultz, Bildender Künstler und Germanist. Er ermöglichte den 850 Teilnehmenden des 9. St.Galler Demenz-Kongress einen Einblick in die Art und Weise, wie Personen mit Demenz sich selbst, ihre Mitmenschen und ihre Umwelt sehen. »Sie lehren uns, mit neuen Augen zu sehen. Ihre Bilder widersprechen unseren Erwartungen«, so Oliver Schultz.
Demenzkongress
Die Demenz-Pflege kreativ weiterdenken
Zum St. Galler Demenzkongress – hier ein Bild aus dem letzten Jahr – werden über 800 Teilnehmende erwartet. Bild OST
Die Pflege von Menschen mit Demenz erfordert eine Kultur, in der sich Betroffene und Pflegende als Menschen entfalten können. So lautet die zentrale Botschaft des wichtigsten Schweizer Demenzkongresses, der am Mittwoch in St. Gallen stattfand.
Fühlst du dich alleine mit der Diagnose Demenz?
Das demenznavi begleitet dich Schritt für Schritt durch das Leben mit Demenz.
Seit über zwanzig Jahren arbeitet er künstlerisch mit demenzbetroffenen Menschen. Sie sollen die Möglichkeit haben, »ihre Sicht der Dinge« zum Ausdruck zu bringen. Die Bilder widerspiegeln, was Menschen mit Demenz »durch den Kopf geht« und was sie bewegt. So kommt eine enorm reiche, lebendige Ausdruckswelt zum Vorschein – mit dem »Eigensinn« von starken Persönlichkeiten. Dadurch wirken die Zeichnungen der Stigmatisierung von Demenz als Zustand der »Geist-Losigkeit« entgegen.
Fachkräftemangel ist Folge mangelhafter Kultur
»Pflege wirkt nicht an sich. Es ist die Pflegeperson, die für die Wirksamkeit sorgt. Haltung, Handlung und Wissen sind immer miteinander verknüpft«, betonte Prof. Dr. Hanna Meyer (Karl Landsteiner Universität, Krems). Der zentrale Stellenwert der Pflegefachperson gerät aus dem Blick, wenn Pflege als »Abfolge von verschiedenen Verrichtungen« gilt. Bei der Pflege von Menschen mit Demenz ist eine besonders hohe Kompetenz und Professionalität der Pflegefachperson erforderlich. Dementia Care wirkt hauptsächlich als Beziehungsgeschehen zwischen dem Menschen mit Demenz und der Pflegfachperson.
In ökonomisierten Gesundheitssystemen fehlen jedoch Strukturen für eine personenzentrierte Pflegekultur, so Hanna Mayer. Stattdessen bestehen hierarchische, machtbezogene Strukturen. Ohne Personenzentrierung ist die Pflegequalität gefährdet. Zugleich erlebt die Pflegefachperson eine Verletzung ihrer Berufsidentität. Das System hält sie davon ab, so zu pflegen, wie es ihrer Berufsethik entsprechen würde. Hält dieser Zustand an, kommt es zu Burnout, hoher Fluktuation und zum Berufsausstieg. Die Pflegeprofession stagniert. Das Image der Pflege verschlechtert sich. Das Berufsbild gilt als unattraktiv. Hanna Mayer sprach von einem »Teufelskreis«. In diesem Sinn ist »fehlende Personenzentrierung eine der Hauptursachen des Fachkräftemangels«. Umso wichtiger ist es, personenzentrierte Pflegekulturen zu fördern – in Institutionen und im gesamten Gesundheitswesen.
Positiv führen und achtsam handeln
Als »Schlüssel zum Personalerhalt« bezeichnete Prof. Dr. Andreas Hunziker (Berner Fachhochschule) das positive, personenzentrierte Führen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist ein Führungsmodell gefragt, das sich an den Stärken und Potenzialen der Menschen orientiert. Im Praxisalltag ist Führungsfeedback oft defizitorientiert. Hier setzt »Positive Leadership« an – als systematische Konzentration auf menschliche Stärken.
Studien zeigen, dass positives Führen Wirkung zeigt: die Resilienz, die Leistung und die Kreativität von Mitarbeitenden erhöhen sich. Zentral ist dabei auch eine gemeinsame handlungsleitende Vision. »Positive zukunftsbezogene Annahmen« sind förderlich – gerade in schwierigen, herausfordernden Zeiten. Somit gehört auch »Positive Leadership« zu den zukunftsorientierenten Ansätzen personenzentrierter Dementia Care.
Eine innovative Versorgungsform mit pflegerischer Leadership-Rolle stellte Prof. Dr. Franziska Zuniga (Universität Basel) vor. Im »Intercare«-Modell übernehmen praxiserfahrene Pflegefachpersonen in der Langzeitpflege eine klinische Führungsrolle. Das Ziel besteht darin, als Pflegeexpertin die geriatrische Expertise im Heim zu stärken. Die interprofessionelle Zusammenarbeit zu verbessern, ist ein weiteres Anliegen. Zudem steht die Pflegeexpertin dem Team in komplexen Bewohnersituationen zur Seite. Sie
führt ein geriatrisches Assessment durch und ist in der Lage, Veränderungen rechtzeitig zu erkennen.
Den ärztlichen Dienst informiert sie auf der Basis eines strukturierten Kommunikationsmodell. Dieses pflegegeleitete Modell hat sich bewährt. Die Spitaleinweisungen reduzierten sich und der Informationsfluss hat sich verbessert. Der Mehrwert der «Intercare»-Pflegeexpertin ist inzwischen anerkannt. Das Modell lässt sich an die spezifischen Erfordernisse der jeweiligen Institution anpassen. Eine Übertragung in den Dementia Care-Bereich ist denkbar.
Sichtbarkeit im Rahmen der Pflegeinitiative
Was bedeutet die Pflegeinitiative für die Unterstützung von Menschen mit Demenz? So lautete die Leitfrage der Podiumsdiskussion am 9. St.Galler Demenz-Kongress. Dabei zeigte sich: Dementia Care ist mit besonders hohen pflegerischen Anforderungen verbunden. Diese Besonderheiten sollten beim Umsetzen der Pflegeinitiative unbedingt Aufmerksamkeit finden. Im Gesundheitssystem besteht für Menschen mit Demenz das Risiko einer Unter- oder Ungleichbehandlung. Umso wichtiger ist es, ihre Bedürfnisse und Anliegen sichtbar zu machen.
Welche Formen der Unterstützung sind für zukunftsorientierte Dementia Care zentral? Welche Konzepte gilt es weiterzuentwickeln? Welche zusätzlichen Angebote sind nötig? Antworten auf diese Fragen ergaben sich in vier Workshops – mit dem Ziel, die Pflege von Menschen mit Demenz auf kommende Herausforderungen auszurichten.
Mehr Würde erfordert Mut zu Neuem
»Dementia Care weiterdenken – das ist zwingend erforderlich, um die Situation der Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen würdevoll zu gestalten. Dabei gilt es auch, die Würde der beteiligten Fachpersonen im Blick zu haben«, so Prof. Dr. Heidi Zeller (OST – Ostschweizer Fachhochschule). Sie führte im Vorfeld des Kongresses Gespräche mit Betroffenen. Zitate aus diesem Austausch standen im Zentrum ihres Abschlussreferats.
Ein demenzbetroffener Mann machte sich Sorgen: »Ich möchte nicht nach Thailand! Meine Partnerin und ich fragen uns oft, wie die Zukunft aussehen wird. Besonders die finanziellen Fragen beschäftigen uns. In Thailand wäre es günstiger als bei uns. Wird es in der Schweiz möglich sein, ein lebenswürdiges Leben mit Demenz zu verbringen?«. Somit ist Demenz nicht nur ein medizinisch-pflegerisches Thema. Es geht auch darum, neue Wohn- und Versorgungsformen zu gestalten.
Um Dementia Care weiterzuentwickeln, möchten sich Betroffene und Familien selbst aktiv einbringen. Sie äussern auch Wünsche zur Ausbildung der Fachpersonen. Bereits in der Ausbildung sollte Demenz interdisziplinär und integrativ thematisiert werden. Wichtig ist auch, stereotype und defizitorientierte Sichtweisen zu überwinden. Ein Betroffener meinte: »Ich möchte nicht ständig als schwer- oder gar todkranker Mann angesehen werden. Ich habe zwei gesunde Hände und Beine. Und ich kann meine Bedürfnisse klar äussern«.
Oft vermissen Betroffene in ihrem Umfeld eine Akzeptanz und Offenheit gegenüber Demenz. Eine Gesprächsteilnehmerin sagte: »Es braucht einen Wandel in unserer Gesellschaft: Ich möchte mich zumuten können«. Mut zu Neuem ist also gefragt, um die Situation von Menschen mit Demenz und ihren Pflegepersonen zu verbessern. Dazu gehört auch, »gesellschaftliche Wertschätzung zu fördern für diejenigen, die sich für Personen mit Demenz engagieren«, so Heidi Zeller.