Interview mit Jürgen Georg vom Hogrefe Verlag
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11. St. Galler Demenzkongress

»Besonders beeindruckt hat mich Richard Taylor«

Jürgen Georg

Jürgen Georg begleitete rund 500 Pflege-Publikationen. Bild PD

Nur wenige Menschen kennen die publizistische Welt der Pflege so gut wie Jürgen Georg als Programmleiter beim Hogrefe Verlag. Am St. Galler Demenzkongress wird er über den Umgang mit Rufen und Schreien von Menschen mit Demenz referieren. Christoph Müller hat mit ihm gesprochen.

Von Christoph Müller, Zeitschrift Dr. med. Mabuse

Christoph Müller: Sie prägen seit 25 Jahren als Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag (vormals Verlag Hans Huber) in Bern die Pflege-Literatur im deutschsprachigen Raum. Was bedeutet Ihnen ein solcher Meilenstein?

Jürgen Georg: In den 25 Jahren Verlagsarbeit im Hogrefe Verlag durfte ich mit einem Team rund 500 Pflege-Publikationen begleiten und pflegerisches Wissen bündeln, prägen, verbreiten und für alle Pflegefachpersonen zugänglich machen.

Wenn ich die Landschaft der Pflegepublikationen mit einem Garten vergleiche, dann war dieser zu Beginn der 1990er Jahre eine Brache mit wenigen bibliophilen Ruderalpflanzen. Demgegenüber ist der Garten im Jahr 2024 ein schöner Bauerngarten mit gut eingeteilten Beeten, vielfältigen Pflanzen und etlichen Koniferen, in denen es von neuen Ideen und Nachwuchsautoren wimmelt.

11. St. Galler Demenzkongress am 12. November

Wie können Pflegende und Angehörige besser mit schwierigen Situationen umgehen? Der 11. St. Galler Demenzkongress zeigt am 12. November 2025 neue Wege auf – praxisnah und verständlich. Mona Vetsch von SRF führt durchs Programm, demenzworld begleitet die Veranstaltung als Medienpartner.

> Hier geht’s zum Programm und zur Anmeldung

In der psychiatrischen Pflege haben Sie in der Ausbildung zum Krankenpfleger Ihre ersten beruflichen Schritte gemacht. Es folgten Stationen in der anthroposophischen Pflege und in der Humanitären Hilfe. Was waren die Gründe dafür, dass Sie in diesen besonderen Settings pflegerisch arbeiten wollten?

Nach dem Abitur wollte ich mit Menschen arbeiten. Vorbilder fanden sich in meiner Schwester und Mutter, die beide pflegerisch tätig waren. Gleichzeitig bin ich als »Öko-Paxe« sozialisiert worden. Die große Zeit der Friedensbewegung war in vollem Gange, Greenpeace hatte mit dem Motto »Let’s make it a green peace« seine Umweltarbeit begonnen.

Für mich persönlich stand die Entscheidung für den Zivildienst an. Auf diesem Hintergrund war die Ausbildung an der Krankenpflegeschule Herborn eine gute Zeit, um mich fachlich und persönlich zu entwickeln. Da ich – neben der Zeit im Akutkrankenhaus – über die Hälfte der Ausbildung mit Menschen arbeiten durfte, die an geistigen und körperlichen Behinderungen sowie psychiatrischen und Suchterkrankungen litten, war das für mein Bild des Menschen und mein Verständnis des »Menschenmöglichen« ungemein bereichernd.

Dank des guten Rates meiner Pflegelehrerin Bettina Georg trat ich im Herbst 1986 meinen Zivildienst als frisch diplomierter Krankenpfleger im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke an. Sehr zur Freude von Franz Sitzmann, meinem damaligen Pflegedienstleiter. Im Team der internistischen Station 3b traf ich zum einen auf sehr berufs- und lebenserfahrene ältere Kollegen, zum anderen auf junge Kollegen, die gerade ihre anthroposophisch orientierte Pflegeausbildung absolviert hatten. Von allen konnte ich sehr viel lernen – über anthroposophische Pflege mit Biografiearbeit, Einreibungen, Phytotherapie und Wickel sowie den würdigen Umgang mit sterbenden und verstorbenen Menschen.

Parallel zu all dem war ich auf die Arbeit von Rupert Neudeck und das von ihm gegründete »Komitee Cap Anamur« gestoßen. Ich wollte unbedingt mehr über dessen »Radikale Humanität« lernen und in der Humanitären Hilfe arbeiten.

Da das erst mit 25 Jahren möglich war, habe ich die (Frei-)Zeit bis dahin für Kurse bei Yvonne Ford in Nursing und Medical English genutzt. In Yvonnes legendärem Centre for Communication in Health Care in Frankfurt konnte ich auch erste Einblicke in die angloamerikanische Pflegeforschung gewinnen, die der deutschsprachigen Literatur in den 1990er-Jahren um zehn Jahre voraus war.

Im Tropenkurs in Hamburg lernte ich eine Kollegin kennen, die als Krankenschwester eine Krankenstation in Nordkamerun leitete. Sie konnte ich vor Ort besuchen und durfte ihr über die Schulter schauen, wenn es galt, Kinder zur Welt zu bringen, Malaria in »dicken Tropfen« zu erkennen, Tropical Ulcers zu verbinden, Pflegeanamnesen auf Französisch zu führen und mit wenigen Mitteln viel für die Gesundheit der Menschen zu tun.

Bis zum heutigen Tag stehen Sie für praktizierte Pflegebildung, wenn Sie Seminare in Weiterbildungen und an Hochschulen durchführen. Sie tun dies seit mehr als dreißig Jahren – früher als Lehrer für Pflegeberufe, heute unter anderem als Dozent und Experte für Pflegediagnosen. Woher kommt Ihre Motivation, inhaltlich Impulse setzen zu wollen?

Ich hatte gute Lehrpersonen, Trainer und Leitungspersonen und somit gute Rollenmodelle, von denen ich das Lehren lernen konnte. Meine Trainer lehrten mich, was es bedeutet, durchzuhalten und sich durchzubeißen. Meine Pflegelehrpersonen brachten mir bei, wer (Pflege-)Konzepte und Pflegeprozesse versteht, der kann pflegerische Situationen besser verstehen und beeinflussen, und wer pflegen und lehren will, muss viel lesen.

Annegret Sonn durfte ich zuschauen, wie sie Pflegenden phytotherapeutisches und Wickel-Wissen vermittelte. Angelika Zegelin hat mich in die Künste des Networkings und der Patienten­edukation eingeführt. Bei Marjory Gordon und Linda Carpenito durfte ich in die Welt der Pflegediagnosen eintauchen. Hilde Steppe hat mir gezeigt, wie wichtig historisches und pflege­theoretisches Wissen für die Pflege ist.

Die US-Pflegewissenschaftlerin Phyllis Kritek lieferte mir ein gutes Argument, warum man Pflege anstelle von Medizin studieren sollte: »Just because nursing is more complex«. Von Bob Price, dem Leiter des Pflege-Masterstudiengangs am Royal College of Nursing in London, habe ich gelernt, wie man »problem-based nursing«, »work-based« anwendet und Pflegende durch kluges Fragen lehrt, die eigene Pflegepraxis besser zu verstehen und weiter zu entwickeln.

Mona Vetsch

11. St. Galler Demenz-Kongress

Kreative Wege im Umgang mit herausforderndem Verhalten

Wie können Pflegende und Angehörige besser mit schwierigen Situationen umgehen? Der 11. St. Galler Demenz-Kongress zeigt neue Wege auf – praxisnah und verständlich. … weiterlesen

Last but not least meine Studierenden und Kursteilnehmenden, die mich mit ihren Fragen immer wieder neu motivierten, Pflegephänomene genauer zu untersuchen, zu begründen sowie komplexe Sachverhalte einfach und verständlich zu erklären. Als ich ab 1993 Programmleiter bei Ullstein Medical und später bei Huber und Hogrefe war, durfte ich vieles von dem zurückgeben, indem ich die Fachbücher all dieser Kollegen publizierte.

Professionelle Pflege lebt von authentisch handelnden und denkenden Menschen. Als Programmleiter Pflege sind Sie vielen historischen Persönlichkeiten aus der eigenen Berufsgruppe begegnet. Inwieweit haben Menschen Sie geprägt? Inwieweit haben Begegnungen Sie zu Artikeln und Büchern ermutigt?

Prägende Einflüsse finden sich bei vielen Personen für meine eigene Lehrtätigkeit – ich habe es eingangs geschildert. Ihnen allen war und ist eigen, was ich »professionelle Generativität« nenne. Sich der eigenen Vorbildfunktion bewusst zu sein und ihr eigenes Wissen und ihre Erfahrung mit Freude, Engagement und Leidenschaft an andere weiterzugeben.

Wenn dann noch Neugierde, Menschenfreundlichkeit, Selbstironie, Leichtigkeit und ein »going the extra mile« dazu kamen, wie bei Ruth Schröck, Chris Abderhalden, Marjory Gordon und Hilde Steppe, dann war das ganz großes Pflegekino – live! Für mich in meiner Rolle als Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag war und ist es wichtig, auch die publizistische und verlegerische Seite der Pflegewelt kennenzulernen und mit wichtigen Persönlichkeiten der Verlagswelt auszutauschen.

Besonders beeindruckt haben mich zwei meiner Autoren: Richard Taylor und Franz Inauen. Beide eint, dass sie in jungen Jahren an einer Demenz erkrankten. Richard Taylor war als Professor für Kognitionspsychologie tätig und Franz Inauen als Pfarrer und Seelsorger. Trotz dieses Handicaps gelang es Taylor noch, Fachbücher und Ratgeber über Demenz zu schreiben und begeisternde Vorträge für Betroffene, Angehörige und Fachleute zu halten.

Franz Inauen rückte seiner Demenz mit bunten Stiften und kurzen Geschichten zu Leibe und verstand es auf seine volkstümliche, immer um die Seele des Anderen besorgte Art, Menschen in seinen Bann zu ziehen und Großes zu leisten, wenn es darum ging, Menschen mit Demenz eine Stimme zu geben.

Sie gehören als »Pflegetheoretiker« zu denjenigen Pflegenden, die die Wichtigkeit und Notwendigkeit des Pflegeprozesses und der Pflegediagnostik immer wieder unterstrichen. In der pflegerischen Praxis werden diese Themen eher stiefmütterlich behandelt. Wie kann es aus Ihrer Sicht gelingen, dass der Pflegeprozess und die Pflegediagnostik in der direkten Pflege gelebt werden?

Wer sich auf die Pflegediagnostik einlassen will, muss sich einer neuen Rolle und neuen Aufgaben bewusst werden. Nämlich als »Diagnostizierende:r« die Pflegebedürftigkeit von Klienten einzuschätzen, zu unterscheiden, zu erkennen und zu benennen, um davon ausgehend über wirksame Pflegeinterventionen und pflegerisch beeinflussbare Pflegeziele und -ergebnisse zu entscheiden.

»Die Demenz Meets sind genial! Ich wünsche mir, dass es mehr von ihnen gibt, damit viele Menschen eine bessere Lebensqualität haben. Die Demenz Meets passen wunderbar zu meinem Lebensmotto: lieben, leben, lächeln«.

Lilo Klotz, Beirätin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und von Alzheimer Europe.

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Pflegende müssen den Patienten mit seinen Ressourcen in seiner Ganzheitlichkeit betrachten. Dazu gehört ein Wissen über den alternden Menschen, über Frailty, Schmerzen oder Immobilität. Wer die häufigsten Probleme und Diagnosen kennt, die in der Pflege auftreten können, kann Auszubildende und Studierende über drei Jahre mit der Fachsprache all dieser Diagnosen, ihren Definitionen, Einflussfaktoren und Symptomen vertraut machen.

Pflegepraktiker:innen gilt es bewusst zu machen, welche Pflegediagnosen wie Schmerz, Schlafstörungen oder Immobilität sie bereits kennen, ohne sie als »Pflegediagnosen« zu bezeichnen. Dann gilt es, mit ihnen Core-Sets zu klären, d.h. welche Diagnosen in ihrem Arbeitsbereich am häufigsten sind. Das reduziert die Gesamtzahl von 267 Pflegediagnosen auf etwa 50 häufige Diagnosen eines Praxisfeldes.

Sie haben noch gut vier Jahre vor sich, bis Sie in den Ruhestand gehen werden. Was können professionell Pflegende noch von Ihnen persönlich und vom Buchprogramm des Hogrefe Verlags bis dahin erwarten?

Für mich persönlich hoffe ich, in den verbleibenden Jahren noch mehr Eigenes schreiben zu können zu meinen Kernthemen wie Chronopflege, Frailty, Pflegeprozess, Pflegediagnosen, Pflegekonzepte, Schlaf, Schmerz sowie Wissen und Aufarbeitung. Gleichzeitig kann ich in vier Jahren noch etwa 80 Projekte begleiten, zu denen in diesem Jahr die Pflege von LGBTQ+-Menschen und Integrative Interventionen in der Onkologie gehören werden.

Die Krisen dieser Zeit zwingen uns dazu nachzudenken, welche Lösungen Pflegende bei der Vorbeugung und Bewältigung von Katastrophen beitragen können, wie wir im Krieg traumatisierte Menschen pflegerisch am besten versorgen können, wie wir Einsamkeit lindern oder wie wir Biodiversität fördern könnte.

Im Pflegeprogramm des Hogrefe Verlags gilt es, die Programmbereiche der Dementia Care, Palliative Care und Psychiatrischen Pflege zu stärken, die Literatur zu Pflegeprozess und Pflegeklassifikationen (NIC & NOC) zu aktualisieren, neuere Bereiche wie die onkologische Pflege und Green Care auszubauen.

Als Programmleiter werde ich versuchen, mich weiter in der Kunst zu üben, das Gras neuer Themen wachsen zu hören und die Talente junger Pflegeautoren zu erkennen und zu fördern. Wenn dann eines Tages noch ein mutiger, engagierter und publizistisch interessierter Pflegekollege an meine Lektoratstür klopft, der sich die Aufgabe einer Programmleiterin für Pflege zutraut, würde ich diese freudig in die Welt der Pflegepublizistik einführen und meine Erfahrung und mein Wissen weitergeben.

Vielen Dank für das Gespräch!

> Hier geht’s zum Programm und zur Anmeldung zum St. Galler Demenzkongress vom 12. November 2025 

Dieser Artikel erschien 2024 in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse. Wir bedanken uns für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.

> Urselmann, W. & Georg, J.  (2021). Schreien und Rufen – Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz (2. Aufl.). Hogrefe.

Literatur verfügbar über juergen.georg@hogrefe.ch

Christoph Müller
ist Pflegefachmann mit langjährigen Erfahrungen in der psychiatrischen Versorgung und Fachautor. arscurae@web.de

Lernvideo – Rufen und Schreien

Was ist zu tun, wenn er plötzlich anfängt rumzuschreien? demenzjournal/Marcus May