Das Phänomen kennt vermutlich jeder: Nach vielen Jahren trifft man ehemalige Klassenkameraden, und man erzählt von früher. Da kann es vorkommen, dass man Geschichten von sich vernimmt, von denen man keine Ahnung mehr hat oder die einem völlig unglaubwürdig vorkommen: Das kann unmöglich ich gewesen sein!
Haben wir uns über die Jahre so verändert, oder hat sich einfach unser Wissen über uns selber gewandelt? Sind autobiografische Erinnerungen mehr Dichtung als Wahrheit?
Frühkindliche Erinnerungen
Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat während vieler Jahre sehr detailliert geschildert, wie er als Kleinkind in einem Park beinahe entführt worden sei, als seine Kinderfrau ihn im Kinderwagen spazieren führte.
Er erzählte die Geschichte so lange, bis sich alles sprichwörtlich als ein Ammenmärchen entpuppte, nämlich dann, als die Kinderfrau viele Jahre später seinen Eltern schriftlich beichtete, dass diese Beinahe-Entführung frei erfunden war.
Es handelt sich hier ganz klassisch um eine von anderen gehörte und übernommene Erzählung früherer Vorkommnisse. Entwicklungspsychologisch gesehen hätte sich Piaget auch gar nicht an das Geschehnis erinnern können – auch wenn es wirklich stattgefunden hätte. Es gibt nämlich breite empirische Evidenz:
Die große Mehrheit der Erwachsenen kann sich nicht an die Ereignisse der ersten drei Lebensjahre erinnern.
Zu den Gründen für diese Kindheitsamnesie gehrt zum einen die ungenügende sprachliche Entwicklung, zum anderen das noch nicht ausgereifte Selbstkonzept. Aber auch spätere Lebenserinnerungen sind alles andere als zuverlässig.
In der Gedächtnisforschung gilt als unbestritten, dass biografische Erinnerungen keine objektiven Wiedergaben von Vorkommnissen, sondern subjektive Rekonstruktionen mit multiplen systematischen Verzerrungen darstellen.