alzheimer.ch: Wir sitzen jetzt schon eine Weile zusammen. Natürlich frage ich mich, was Sie in meinem Gesicht gelesen haben.
Marlis Lamers: Nicht so viel, wie Sie vielleicht denken. Mikroexpressionen dauern zwischen 40 und 500 Millisekunden, sie treten nur auf, wenn eine emotionale Ladung da ist. Bei Ihnen ist das gerade nicht der Fall, Sie wirken eher entspannt.
Wären Sie jetzt in einem Pflegeheim und würden zum ersten Mal erleben, dass Ihr dementer Vater Sie nicht mehr erkennt, würden Sie sicherlich stärkere Emotionen zeigen.
Als Expertin für Emotionserkennung machen Sie Seminare, Workshops, halten Vorträge. Was genau vermitteln Sie den Teilnehmern?
Mikromik gehört zur nonverbalen Kommunikation, ich sehe das, was der andere nicht sagt, was also jenseits der Worte passiert. Die Teilnehmer lernen, wie sie die Mimik ihres Gegenübers lesen können. Sie können dann unter Umständen nachfragen, warum er gerade Wut oder Kummer empfindet.
Mikromimik
Mikroexpressionen sind flüchtige Gesichtsausdrücke, die nur für einen Bruchteil einer Sekunde sichtbar sind. 44 Muskeln in unserem Gesicht können mehr als 10 000 Gefühle ausdrücken. Der amerikanische Psychologe Paul Ekman, bekannt für seine Forschungen zur nonverbalen Kommunikation, unterscheidet sieben Grundemotionen, die kulturübergreifend sind: Freude, Trauer, Wut, Angst, Ekel, Überraschung und Verachtung.
Wenn zum Beispiel die beiden inneren Augenbrauen nach oben gehen – das sieht aus wie ein kleiner Schornstein – , ist das ein eindeutiges Zeichen von Trauer. Wenn jemand die Nase kräuselt, bedeutet das normalerweise Ekel. Ist das untere Lid angespannt, kann das Angst, aber auch Ärger ausdrücken.
Um die Feinheiten zu erkennen, muss man üben. Das ist wie ein Muskel, den ich im Fitnessstudio trainiere. In öffentlichen Verkehrsmitteln kann man das sehr gut ausprobieren – oder auch beim Fernsehen, wenn man den Ton abstellt.
Kann ich meine Mimik bewusst steuern?
Ja, aber der Ausdruck ist dann aufgesetzt. Es gibt zum Beispiel das sozial verbindende Lächeln, bei dem man die Mundwinkel hochzieht. Allerdings fehlt das Absenken der oberen Lidfalte, das Lächeln ist also nicht echt.
Sie schulen Pflegerinnen und Pfleger, die in Krankenhäusern und Hospizen arbeiten. Wie weit kann es für sie hilfreich sein, die Mimik der Patienten zu lesen?
Gerade wenn Patienten kaum oder gar nicht mehr sprechen, ist das Verständnis der Mimik sehr wertvoll. Durch die Mimikerkennung können sie die Gefühle und Bedürfnisse der Patienten besser verstehen und entsprechend auf sie eingehen.
Lässt sich die Mimik denn immer unzweifelhaft deuten?
Nein, nicht immer. Es ist aber auch nicht unbedingt entscheidend, jeden Ausdruck im Gesicht sofort richtig zu deuten. Wichtig ist erst mal, überhaupt etwas wahrzunehmen, minimale Regungen zu registrieren, so dass ich als Pflegekraft wiederum Empathie zeigen kann.
Bei Menschen mit Demenz ist die Herausforderung besonders gross: Das, was jemand sagt, und sein Gesichtsausdruck sind manchmal nicht kongruent.
Woran liegt das?
Ich erkläre es mir so, dass bei diesen Patienten viele kognitive Fähigkeiten ausfallen. Sie sind zwar in ihrer Entwicklung auf dem Stand eines Erwachsenen, fallen aber emotional häufig in ihre frühere, kindliche Welt zurück und können oft den Bogen zur Gegenwart nicht mehr schlagen. Die früheren Erfahrungen können viel besser abgerufen werden als die konkrete Gegenwart.
Gefühle lesen lernen
Mikroexpressionen sind durch die amerikanische TV-Serie «Lie to me» auch bei uns einem grösseren Publikum bekannt; die Serie hilft dabei, Gefühle lesen zu lernen. Hier bearbeiten Psychologen Kriminalfälle, indem sie in den Gesichtszügen von Verdächtigen nach Mikroexpressionen suchen; damit wollen sie herausfinden, ob die befragte Person lügt oder die Wahrheit sagt. Paul Ekman1 unterstützte die Serie als wissenschaftlicher Berater.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Patient zeigt beim Mittagessen einen Ausdruck von Trauer im Gesicht. Ich frage ihn, ob ihm das Essen nicht schmeckt, und er sagt: Das hast du ja lecker gekocht. Das Lob bedeutet jedoch nicht, dass er höflich sein will – Menschen mit Demenz sind sehr ehrlich und authentisch.
Vielleicht erinnert sich der Mann in diesem Moment an seine Kindheit und dass seine Mutter sich beim Essen immer viel Mühe gegeben hat, deshalb das Lob. Der aktuelle Ausdruck von Trauer im Gesicht hat dann vielleicht damit zu tun, dass er seine Mutter vermisst.
Daher die Diskrepanz zwischen Wort und Mimik. Übrigens wird es einfacher, die Mimik zu deuten, wenn ein Mensch mit Demenz die verbale Sprache verloren hat – so traurig das natürlich ist. Aber ich muss dann den Abgleich zwischen Sprache und Mimik nicht mehr machen.
Wie soll ich reagieren, wenn jemand ein Gefühl im Gesicht zeigt, das gar nicht zu der Situation passt? Ich erzähle meinem Onkel zum Beispiel, mein Hund sei letzte Woche überfahren worden, und er lächelt?
Mit Nachsicht. Unter Umständen ist bei ihm gerade eine Erinnerung an seinen eigenen Hund hochgekommen, den er in der Kindheit sehr geliebt hat.
Menschen mit Demenz lächeln häufig, aber eben auch in völlig unpassenden Momenten.
Das kann ziemlich verwirrend sein …
Stimmt. Als Angehöriger kennt man den Menschen aber sehr lange, in verschiedensten Lebenssituationen. Man hat ein sehr gutes Bauchgefühl für ihn und sollte ihn annehmen als der, der er im Moment ist. Wenn man genauer auf dessen Mimik achtet, kann man das eigene Bauchgefühl überprüfen.
Wie soll ich mich verhalten, wenn ich in der Mimik meines an Demenz erkrankten Vaters oder meines Partners zum Beispiel Angst oder Ärger wahrnehme: Hat es Sinn, ihn darauf anzusprechen?
Sie können es versuchen. Wie weit das zu dem Patienten vordringt, ist allerdings unklar, er kann mit der Botschaft kognitiv ja nicht mehr umgehen, nicht adäquat darauf eingehen.
Man kann aber mit einer Geste reagieren, um Nähe zu zeigen. Also zum Beispiel die Hand ganz leicht auf den Unterarm legen oder auf die Schulter. Wenn er Berührungen nicht mag, kann ich ihn vielleicht mit einer schönen Musik glücklich machen.