Der Künstler Sagar Shiriskar gibt mit seinen Fotos dem Tod ein Gesicht – und Normalität.
Sagar Shiriskar
Unser Chefredaktor Martin Mühlegg hat ein gestörtes Verhältnis zum Tod. Der Besuch der Ausstellung «Der Tod, radikal normal» im Vögele Kultur Zentrum inspirierte und beglückte ihn.
Wie funktioniert das Sterben? Kann man den Tod verarbeiten? Wie trauert man? Ist man «seinen» Toten etwas schuldig? Solche Fragen trage ich schon lange mit mir herum. Genauer: Ich verdränge sie.
Wahrscheinlich ist das so, weil einer der letzten Sätze, die ich von meinem sterbenden Vater hörte, dieser hier war: «Jetzt musst du der Chef der Familie sein.» Ich war damals 16, meine Mutter war als pflegende und arbeitende Ehefrau am Anschlag, mein älterer Bruder hatte psychische Probleme und meine Schwester war erst 10.
Ein paar Tage später war mein Vater tot. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war er schon weg. Ich wollte ihn (seine Überreste) nicht mehr sehen und ergriff die Flucht. Ich ignorierte seinen Auftrag und war von da an noch weniger zu Hause als vorher.
Vielleicht gründeten die starken Ängste, die mich bis 35 plagten, in diesem belasteten Verhältnis zu Tod und Verlust. Ich hatte Flugangst, Höhenangst, Schwindel, schlechte Träume und fühlte mich oft unter Druck.
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Ein Rückenleiden offenbarte, dass ich ständig verkrampft war. Linderung brachten mir ein Geistheiler und «Das tibetische Buch vom Leben und Sterben». Es zeigte mir auf, dass alle Ängste im Grunde genommen mit der Angst vor dem Tod zusammenhängen. Ich lernte, dass mein eigener Tod weniger sein wird als eine unleserliche Randnotiz der Weltgeschichte. Die Tibeter haben mich auch gelehrt, dass ich jeden Augenblick in der Lage sein sollte, guten Gewissens ins Jenseits zu gehen.
Man hat nie ausgelernt, dachte ich, als ich von der Ausstellung «Der Tod, radikal normal. Über das, was am Ende wichtig ist» erfuhr. Das Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon am Zürichsee hat es in der Vergangenheit verstanden, gesellschaftliche Themen aus der Sicht von Kunst, Kultur, Philosophie und Wissenschaft zu beleuchten und mich damit zu inspirieren.
Ausstellung in Pfäffikon am Zürichsee
Die Ausstellung «Der Tod, radikal normal» vom 17. Mai bis 18. September 2022 lädt dazu ein, sich über die eigene Beziehung zum vermeintlichen Tabu «Tod» bewusst zu werden, gewohnte Verhaltens- und Sichtweisen zu hinterfragen und einem Gespräch über das Unvermeidliche nicht auszuweichen. Neben Werken der Gegenwartskunst und wissenschaftlichen Beiträgen sind auch Exponate der Alltags- und Populärkultur zu sehen. Di – So, 11-17 Uhr, Do bis 20 Uhr. www.voegelekultur.ch
Den Anfang der Ausstellung macht eine Fotoserie des indisch-schweizerischen Künstlers Sagar Shiriskar. Sie zeigt tote Kleintiere, die in ihrer Belanglosigkeit den Tod relativieren. Umso mehr berühren mich diese Bilder, im Sinne: «Hey, der Tod ist so normal wie ein belegtes Brot oder eine Zahnbürste, die in einem Glas steht.»
Eine perfide Idee realisierte die deutsche Künstlerin Julia Charlotte Richter: Ihr Video zeigt eine junge und schöne Frau, die durch einen Garten wandelt, Blumen giesst und die Füsse in einem Teich badet.
In dieser Idylle erzählt die Frau aus medizinischer Sicht, wie das Sterben und der Tod funktionieren: Die Rasselatmung als Indiz des nahen Todes. Die Flecken, die manchmal schon vor dem Tod entstehen. Zuerst an den Seiten, nach zwei Stunden auch am Rücken, bevor sie wieder verschwinden. Die Pupillen, die nicht mehr rund sind, sondern bei Toten «so ein bisschen eckig» werden.
Der Sterbebegleiter Stefan Jäggi empfiehlt in einer Videobotschaft, sich rechtzeitigmit Sinnfragen zu beschäftigen, weil dies einem am Ende zu gute komme. Dem Tod ein Gesicht und Normalität geben: Dies geschieht unter anderem mit einem Zimmer eines Sterbehospizes. Ein embru-Bett mit blassgrüner und zinkgelber Bettwäsche, umgeben von Vorhängen.
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Ich stelle mir vor, wie ich in dem Bett liege und sterbe. Ich frage mich, welches meine letzten Wahrnehmungen sein werden. Irgendwie macht mich das glücklich. Mir geht es so, wie Kurt Tucholsky in seinem wunderbaren Essay «Die fünfte Jahreszeit» beschrieben hat: Ich empfinde «eine optimistische Todesahnung.» Einzig der Galgen mit dem Handgriff über dem Bett stört meine «fröhliche Erkenntnis des Endes».
Der Tod kann auch anders. Zum Beispiel kann er als Folge eines Falls in die Tiefe eintreten. Ich erfahre, dass Menschen in der Luft «auf die Beine kommen» wollen. Beim Aufprall versuchen sie instinktiv, zur Seite abzurollen.
Sehr schmerzhaft muss der Tod durch Verbrennen sein, für die Erlösung sorgen in solchen Fällen nicht das verbrennende Fleisch, sondern Gase in der Lunge. Ich erfahre auch, dass viele Ertrinkende ihren Untergang beschleunigen durch hektische Ruderbewegungen der Arme. Wenn der Durchhaltewille gebrochen ist, brennt das eindringende Wasser in Luftröhre und Lunge.
Die Ausstellung vermittelt weitere Fakten zum Tod: Täglich sterben in der Schweiz 180 bis 200 Menschen. In der Erde ist der Körper nach vier Monaten verwest, es bleibt nur das Skelett übrig. 85 Prozent der Toten werden kremiert.
Die Asche von vielen Menschen ist durchsetzt mit Nägeln, Schienen, Schrauben oder Implantaten. Davon legt Tina Ruisingers Fotoserie «50 Aschen» ein makabres Zeugnis ab. Das Künstlerduo Lernert und Sander hat eine (amüsante) Geschmackslosigkeit gefilmt: Die beiden Männer rühren in einem Sarg eine Kuchenmasse an und backen sie in einem Kremationsofen.
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Tote hinterlassen neben Körper, Möbel, Geld usw. auch Daten. Der Umgang damit kann geregelt werden. Wenn ich die richtige App herunterlade, kann ich bestimmen, wer nach meinem Ableben welche Daten und Passwörter bekommen wird.
Wie wäre es, wenn es den Tod nicht gäbe und wir ewig leben könnten? Der Philosoph Martin Heidegger fand, dass wir im Angesicht des Todes der Fremdbestimmung entkommen. Ein Leben ohne Tod würde seiner Ansicht nach dazu führen, dass wir nach den Konditionen und Wünschen anderer leben würden. Die Ausstellung zitiert dazu Heideggers Kollegin Barbara Bleisch: «Mit der eigenen Endlichkeit zu rechnen ist wie ein Brennglas, das sichtbar macht, was zählt.»
Bleibt die Frage: Wie sieht es «drüben» aus? Den Abschluss der Ausstellung machen Kunstwerke, die dem Jenseits Farbe und Form geben. Mir gefällt Bernhard Tagwerkers «drüben», in dem es weder Himmel noch Hölle gibt: Die Bildreihe zeigt ein Meer von lieblichen Farben, in das ich gerne eintauchen würde.
«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»
Und ich? Starken Eindruck hinterlassen haben Shiriskars Fotos (die er mir freundlicherweise für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat) und das Bett mit der blassgrünen und zinkgelben Bettwäsche. In den letzten zwei Wochen bin ich gedanklich ab und zu in diesem Bett gelegen und habe mir meine letzten Minuten vorgestellt.
Irgendwie ist das versöhnlich und positiv. Es motiviert mich, schöne Momente wirklich zu geniessen, ein besserer Mensch zu werden. Und endlich meine Ausbildung zum Hochsee-Segler anzufangen. Mein Vater ist bestimmt stolz auf mich, wenn er mich am Ruder einer Segelyacht auf dem Atlantik sieht. Ich hoffe, dies und andere Taten werden mein jämmerliches Scheitern als Familienoberhaupt in seinen Augen etwas relativieren.
«Der Tod, radikal normal», Vögele Kultur Zentrum, Pfäffikon SZ, Di – So, 11-17 Uhr, Do bis 20 Uhr. www.voegelekultur.ch
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