Armin Gloor und Goffredo Frei sind Nachbarn im Tessiner Bergdorf Cumiasca. Goffredo ist Optimist und will noch ein paar Jahrzehnte lang seine Träume ausleben. Armin will trotz guter Gesundheit mit 70 freiwillig aus dem Leben scheiden. Dieser Entscheid bringt die Freundschaft der beiden ins Wanken.
Goffredos Sohn Gregor Frei macht Filme und begleitete die beiden über mehrere Jahre hinweg mit der Kamera. Er dokumentierte Gespräche, Zerwürfnisse und Versöhnungen der beiden älteren Männer. Daraus ist der berührende, inspirierende und manchmal verstörende Film «Das Leben vor dem Tod» entstanden, an dem alles echt ist – samt Abtransport des Sarges, in dem Armins Leichnam liegt.
Wie geht es Ihrem Vater 18 Monate nach dem Freitod seines Freundes Armin?
Das fragen mich viele Leute. Das Drehen, die Auswertung, die Aufführungen im Kino und die Begegnungen mit den Zuschauern haben ihm gutgetan. Sie haben ihm Selbstreflektion ermöglicht. Seine Toleranz gegenüber Armins Freitod ist gewachsen. Er spürte viel Verständnis von den Zuschauern. Er hat Briefe erhalten von Zuschauerinnen.
Im Film sagt Goffredo, nach dem Hausumbau wolle er sich um eine neue Partnerin kümmern…
Während der Premiere an den Solothurner Filmtagen ist etwas ins Rollen gekommen.
Ihr Film und das Schicksal Ihres Vaters hat die Menschen offenbar sehr berührt.
Das ist so. Im Film stecken intensive und nicht alltägliche Themen. Alles ist echt, die Konflikte existieren real, dies spüren die Zuschauer.
Nun lebt Goffredo im fertig umgebauten Haus und macht Kunst. So, wie er es sich vorgestellt hat.
Er hat jetzt den Raum, den er für seine Kunst braucht und er kann Gäste beherbergen. Aber er hat sich viel zugemutet. Ganz fertig wird dieses Haus wohl nie werden.
Ist er Optimist geblieben?
In seinem Alter verändert man sich wahrscheinlich nicht mehr. Sein Optimismus charakterisiert ihn und trägt ihn durchs Leben. Das ist ein grosser Kontrast zu seinem Nachbarn. Armin konnte einfach nicht verstehen, dass sich Goffredo in seiner Situation wohlfühlte.
Ihr Vater und sein Schicksal sind nun öffentlich geworden. Wie hat er darauf reagiert?
Er hat die Wertschätzung sehr genossen. Im ersten Moment war er schockiert, sich so gross auf der Leinwand zu sehen.
Er merkte aber, dass die Menschen ihm gerne zuhören.
Wie oft hat er den Film geschaut?
Immer wieder. Bei gewissen Premieren bin ich nach den Ansprachen wieder gegangen. Mein Vater ist immer geblieben. Er sagte, er entdecke jedes Mal etwas Neues. Es sei für ihn auch ein Weg, sich von Armin zu verabschieden.
Ihr Vater sagt im Film, er wolle ein berühmter Künstler werden. Nun ist ihm dies nicht als bildender Künstler, sondern als Filmfigur und Filmer gelungen…
Viele Aufnahmen sind von ihm, er hat sich als Mitgestalter des Films profiliert. Wir haben die klassische Vater-Sohn-Geschichte erlebt. Er hatte immer wieder etwas zu kritisieren, wollte im Schnittprozess und bei der Auswertung vieles anders machen. Erst als tausend Leute im Saal sassen und den Film toll fanden, hat er meine Arbeit wirklich akzeptiert.
Haben Sie schon mal einen Film gemacht, der Ihnen so nahe gegangen ist?
Es war völlig unvergleichbar mit anderen Filmen. Ich kann mir nicht vorstellen, nochmals einen Film zu machen, der sich so stark mit meinem Leben vermischt. Ich wusste manchmal nicht mehr, ob der Film oder die Beziehungen zu meinem Vater und Armin anstrengend waren. Meine Naivität ist bestraft worden, ich hatte es mir einfacher vorgestellt.
Wie hat sich die Beziehung zu Ihrem Vater verändert?
Meine Eltern trennten sich, als ich zehn war. Ich bin mehr oder weniger ohne Vater aufgewachsen und habe ihm Vorwürfe gemacht. Später sah ich ihn an den Familientreffen. Ich hatte ein Best-of-Image meines Vaters.
Er war der abwesende Held.
Genau. Er ist charmant, lustig und souverän. Erst als ich mit ihm den Film drehte, bekam ich das ganze Bild zu sehen. Seine Beziehung zu seiner Partnerin Bea löste sich auf. Er schaffte es nicht, seine Argumente auf den Tisch zu legen und in Armins Anwesenheit einen halbwegs geraden Satz zu sagen. Ich spürte wie damals als Zehnjähriger eine Enttäuschung. Ich dachte: Hey, du bist mein Vater, du solltest das können! Ich identifizierte mich mehr mit Armin. Für meinen Vater fühlte es sich an, als ob ich ihm ein Messer in den Rücken gestossen hätte.
Nach diesen Konflikten zeigt der Film eine neue Annäherung.
Wir merkten, dass die Probleme mit Erwartungen und Rollen zu tun hatten. Wir mussten uns von diesen Mustern lösen. Wir haben gelernt, uns gegenseitig zu akzeptieren. Wir haben jetzt eine authentischere und bessere Beziehung als vorher. Wir streiten aber noch immer über Armin und seinen Freitod.
Armins Argumente sind sehr überzeugend.
Ja. Mein Vater hat sich nun ein bisschen, aber nicht ganz, überzeugen lassen. Es war auch mein Ziel, dass mein Vater mit diesem Film seinem Nachbarn ein paar Schritte näher kommt. Die unterschiedlichen Vorstellungen der beiden Männer sind nachvollziehbar, wenn man ihre Biografien kennt.
Armin hatte sein Leben lang viel Anerkennung im Beruf, mein Vater nicht.
Was ist mit Armins Haus passiert?
Es ist noch immer zum Verkauf ausgeschrieben.
Cumiasca wirkt ausgestorben – wie viele andere Bergdörfer auch. Viele Immigranten aus dem Norden sind einsam an solchen Orten. Wollte Ihr Vater nie zurückkommen?
Man kann die Bewohner des Dorfkerns an einer Hand abzählen. Mein Vater will aber nicht zurück. Einerseits ist er an das Haus gebunden. Andererseits kann er jetzt Gäste empfangen, und viele Menschen braucht er nicht. Er ist fasziniert vom Tessin. Es war nicht sein Plan, einsam zu sein. Das erste Haus hatte er mit seiner damaligen Partnerin bezogen.
Sie sind 34 Jahre alt. Waren Sterben und Freitod schon vor der Arbeit an dem Film ein Thema?
Wir haben in Bern Brücken, von denen schon ein paar Leute in den Tod gesprungen sind. Es gab in meinem Umfeld Suizide.
Als Zivildiensteinsatz arbeitete ich ein halbes Jahr in einem Palliativ-Heim.
Hier können Sie den ganzen Film «Das Leben vor dem Tod» streamen.
Haben Sie während der Dreharbeiten immer daran geglaubt, dass Armin seinen Freitod durchziehen würde?
Er war sehr überzeugend. Ich merkte, dass er keine Improvisationen mochte. Er definierte sich als Person über diesen Entscheid. Sein bevorstehender Freitod wurde zu seinem Lebensinhalt.
Äusserte er nie Zweifel?
Zwei Monate vor dem geplanten Tod sagte mir mein Vater, Armins Entscheid sei ins Wanken geraten, weil er Geld gefunden habe …
… Armin sagt im Film, dass ihm mit 70 das Geld ausgehen würde.
Er hätte noch ein halbes Jahr gut leben können. Als ich Armin darauf ansprach, tönte es anders. Er setzte dieses Gerücht in die Welt, um sich die Vormundschaftsbehörde vom Leib zu halten. Es drohte ihm damals ein Freiheitsentzug.
Der Film zeigt eine verstörende Situation: Armin, Sie und Ihr Vater stecken Armins Todesanzeigen in Umschläge und machen dabei Witze…
Das war vier Tage vor Armins Tod. Es herrschte eine heitere und aufgeräumte Stimmung. Das letzte Essen drei Tage vor seinem Tod war für uns sehr unangenehm. Das Verabschieden war sehr schwer. Als wir von seinem Haus weggingen und wussten, dass wir ihn nie mehr sehen würden, stellte sich ein starkes Gefühl des Verlustes ein.
Der Film lässt offen, wie Armin es gemacht hat. Mit der Sterbehilfeorganisation Exit konnte er aus ethischen und juristischen Gründen nicht aus dem Leben scheiden…
Armin hatte das Gift Pentobarbital, das auch Exit einsetzt, seit Jahren in seinem Haus. Er hatte Leute angefragt, ob sie ihn beim Sterben begleiten würden. Er machte es so, wie es auch Exit gemacht hätte, allerdings ohne offizielles Label.
Konnten seine Sterbebegleiter nicht belangt werden?
Seine Begleiter hatten das Gift nicht in den Händen. Armin wollte, dass niemand unter seinem Tod leiden müsste. Er deponierte Kekse für den Arzt und die Polizisten. Er hinterlegte Briefe, die alle Anwesenden freisprachen.
Wie stellen Sie sich Ihr eigenes Alter und Sterben vor?
Ich lebe von einem Tag in den anderen. Es ist für mich noch nicht Zeit für solche Gedanken. Aber ich habe mir einen Teil von Armins Verhalten zu Herzen genommen. Die Idee, eine Linie zu ziehen und nicht in eine lange Abhängigkeit zu geraten, hat mich geprägt.
Die Alterspyramide ist aus dem Gleichgewicht, die Altersvorsorge ist ungewiss, es gibt immer mehr Menschen mit Demenz. Machen Sie sich Sorgen?
Nein. Von meinem Vater habe ich die Eigenschaft geerbt, dass ich von dem leben kann, was ich habe. Ich habe eine dritte Säule gemacht, damit bin ich viele Sorgen los. Ich denke, dass die Menschen wieder mehr für sich selber sorgen müssen. Wir leben im neoliberalen Zeitalter, wir haben nicht mehr die Erwartung, dass im Alter für uns gesorgt wird. Die klassische Biografie, dass man arbeitet und mit 65 in Rente geht, ist mir und meinen Freunden fremd.