«In der Schweiz stört man sehr schnell» - demenzjournal.com

Theater

«In der Schweiz stört man sehr schnell»

«Greift man ein, weil man sich Sorgen macht? Oder greift man ein, weil man sich gestört fühlt? Ich befürchte, es ist eher das Zweite», sagt Hansjörg Schertenleib. David Clough

«Ein Vorhang aus Rasierklingen»: Die Bühne Aarau inszeniert ein kontroverses Stück mit einer Hauptfigur, die eine Demenz hat. alzheimer.ch diskutierte mit dem Autor Hansjörg Schertenleib über Enge, Störungen, Fürsorge und Toleranz.

alzheimer.ch: Arnold, die Hauptfigur Ihres Theaterstücks, hat eine Demenz und ist im Begriff, nach Thailand zu gehen, wo er sich vermutlich von jungen Frauen umsorgen lassen wird. Davon träumen wohl viele alte Männer. Können Sie sich einen solchen Lebensabend vorstellen?

Hansjörg Schertenleib: Ich kann mir vorstellen, dass es Männer mit solch lächerlichen Träumen gibt. Mein Traum ist es nicht! (lacht) Bei Arnold geschieht es auch nicht freiwillig. Er hat eine Demenz und will unbedingt in seiner Wohnung bleiben.

Sie lebten und arbeiteten in der Schweiz, in Irland, in den USA, und jetzt sind Sie im französischen Burgund. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wo Sie Ihren Lebensabend verbringen möchten?

Ich bin in meinem Lebensabend! Ich bin vor einer Woche 65 geworden. Ich bin pensioniert.

Ich gratuliere nachträglich! Also fängt der Lebensabend mit 65 an, und Sie möchten ihn im Burgund verbringen…

Heute finden die meisten Leute, sie fangen erst mit 80 an, alt zu werden. Ich halte den Zwang für lächerlich, immer jung zu bleiben, sich jung zu kleiden und zu verhalten. In Irland und im US-Bundesstaat Maine erlebte ich anderes. Dort gibt es Menschen, die in Würde alt werden.

Dort brauchen die Alten keine farbigen Wanderjacken und E-Bikes.

Ja, ich finde, dass ich in meinem letzten Lebensabschnitt angekommen bin. Und ich kann mit aller Sicherheit sagen: Ich werde ihn nicht in der Schweiz verbringen.

Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur Schweiz. Und doch kommen Sie immer wieder zurück. Warum?

Das hat mit meiner Arbeit zu tun. Ich schreibe Deutsch und liebe diese Sprache. Ich habe Lesungen, treffe Verleger und Lektoren. Natürlich komme ich auch wegen der Liebe – meine zweite Frau lebt in der Schweiz.

Ein Vorhang aus Rasierklingen

Arnold ist an Alzheimer erkrankt. Seine Tochter hat beschlossen, ihn in ein Heim in Thailand abzuschieben. Seine Enkelin Delia soll Arnold helfen, die Wohnung zu räumen und bekommt dabei «Unterstützung» von ihrem Freund Blerim. Doch Arnold wehrt sich. Daraus entwickelt Hansjörg Schertenleib ein spannungsvolles Kammerspiel, das am 15. Dezember 2022 in Aarau uraufgeführt wird.

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Was machen die Leute in anderen Ländern besser, dass Sie nicht in der Schweiz alt werden möchten?

Ich habe viele Jahre in Irland auf dem Land gelebt. Der Umgang mit alten Menschen ist dort ganz anders. Die meisten meiner Nachbarn waren alt, einige davon waren meine Freunde, die ich regelmässig besuchte und unterstützte. In der Schweiz hätten die meisten von ihnen nicht mehr zu Hause leben können, weil die Nachbarn und die Behörden eingegriffen hätten.  

Warum?

Weil sie nicht genug assen – wer bestimmt, wie viel man essen muss? Weil sie Unordnung und Schmutz hatten im Haus – na und? Weil es bei ihnen anders roch, als man es sich gewohnt ist. In Irland liess man sie machen, was auch mit dem Katholizismus und dem Wert der Familienstrukturen zu tun hat.

Dass ich nicht in der Schweiz alt werden möchte, hat auch mit fehlendem Platz zu tun: Mir ist sie zu eng.

Ich könnte vielleicht im Oberengadin leben, aber dort kostet ein Haus 8 Millionen Franken. Mein Haus in Irland kostete 150’000 Franken. So viel kosten in der Schweiz die Autos. Ein Kollege besichtigte neulich eine Wohnung im Zürcher Seefeld, die monatlich 6500 Franken kostet. Er wird sie nicht bekommen, weil 100 andere sie auch wollen. 6500 Franken: Von diesem Geld lebe ich im Burgund oder in Irland über vier Monate lang. 

Ihr Schriftstellerkollege Paul Nizon beschrieb 1970 in «Diskurs in der Enge», wie sehr die Enge in der Schweiz die kulturelle Kleingeistigkeit und Intoleranz fördert. Die Enge sorgt auch dafür, dass Menschen mit Demenz mit ihrem Anarchismus und ihrer Freigeistigkeit immer wieder anecken.

Dieses Buch von Nizon habe ich immer in meiner Nähe. Sobald man in der Schweiz ins Auto steigt, steht man im Stau. Wenn die Leute so nahe aufeinander leben, verträgt es keine Leute mit anarchistischen Zügen. Mein bester Freund in Irland war nicht dement, aber er wäre in der Schweiz zum Sozialfall geworden und in ein Heim gekommen.

In Irland ging es gut, weil das nächste Haus 400 Meter von seinem entfernt war. Wir Nachbarn haben uns um ihn gekümmert, und er hat niemanden gestört. In der Schweiz stört man sehr schnell, weil wir so nahe aufeinander leben. 

Es ist absurd: In der Schweiz, wo vielleicht hinter der nächsten Türe bedürftige Menschen leben, hilft man wenig. In Irland, wo man zehn Minuten zum Nachbarn marschieren muss, kümmern sich die Menschen umeinander.

Ich kann mir vorstellen, dass man sich abwendet, weil man ständig die Streitigkeiten oder die Musik der Nachbarn mitbekommt. Ich habe schon lange nicht mehr in solchen Verhältnissen gelebt, weil ich sie nicht ertrage. 

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Sie lebten mehrere Jahre lang in den USA. Die Menschen gehen dort sehr entspannt um mit nicht konformen Verhaltensweisen. Haben es dort Menschen mit Demenz besser als in der Schweiz oder in Deutschland, wo das Bünzli- und Spiessertum weit verbreitet ist?

Ich lebte in Maine, dem ärmsten Bundesstaaten der USA. Es dort ist nicht aufgefallen, wenn die Menschen in Hausschuhen oder im Morgenmantel ins Restaurant kamen. Es braucht dort viel, bis etwas als abweichend empfunden wird. In der Schweiz braucht es fast nichts.

Wenn man dement ist, weicht man ab.

Man spricht anders, kleidet sich anders, verhält sich anders. Wer sagt zum Beispiel, dass man zwei gleiche Socken oder Schuhe tragen muss? Genau darum geht es in meinem Stück: Wo und aus welchem Grund fängt man an einzugreifen? Greift man ein, weil man sich Sorgen macht? Oder greift man ein, weil man sich gestört fühlt? Ich befürchte, es ist eher das zweite.

In Irland hatte ich mir angewöhnt, dass im Laden, im Restaurant oder im Zug alle mit allen sprechen. In Zürich spreche ich niemanden mehr an, weil die Reaktion der Leute verrückt war. Ich dachte, jetzt rufen sie gleich die Polizei.

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Die Angesprochenen dachten wohl: «Was will dieser Irre von mir?»

Es ist das gleiche Problem, das Menschen mit Demenz haben: Die Leute fühlen sich von ihnen gestört und verunsichert, weil ihr enges Weltbild in Frage gestellt wird. Darauf reagieren sie mit Ablehnung.

Mit der Demenzpolitik und -hilfe steht es bei uns auch nicht zum Besten. Die Schweiz rangiert im europäischen Vergleich nur im Mittelfeld. 

Das ist Wahnsinn – die Schweiz hat so viel Geld!

In Sachen Familienfreundlichkeit sind wir noch weiter hinten. Wenn wir von alzheimer.ch Politiker:innen interviewen wollen, ducken sich die allermeisten von ihnen weg. Es ist ein unangenehmes Thema, mit dem sich kaum jemand befassen will.

Diese Wahrnehmung habe ich auch. Wir sprachen am Anfang über die Fixierung auf Jugendlichkeit. Das Alter hat in unserer Gesellschaft keinen Wert. Wir müssen uns wieder bewusst werden, was das Alter zu bieten hat. Wenn dieses Umdenken nicht geschieht, werden wir weiterhin keinen guten Umgang finden.

Die Unterschiede zwischen den Kulturen sind gross, das zeigen Sie auch in Ihrem Stück. Der Albaner Blerim rennt gleich los, wenn seine Mutter ruft. Die Schweizerin Delia lästert über ihre abwesende Mutter. 

Ich erlebte diesen Unterschied auch mit Kindern, die aus italienischen Familien stammen. Sie haben einen ganz anderen Umgang mit ihren Eltern und älteren Menschen. Ich habe dieses Stück geschrieben, weil ich mir Sorgen mache um unser Gesundheits- und Sozialsystem. Dies und die Demenzerkrankung meines Schwiegervaters waren auch die Auslöser für meine Novelle «Die Fliegengöttin».

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Blerim erzählt rührende Dinge über die Beziehung zu seinen Eltern und Grosseltern. Er berichtet aber auch von Männern, die das Recht haben, ihre Frauen und Kinder zu schlagen, vom Gehorsam dem Vater gegenüber und von Blutfehde. Man weiss nicht mehr, was man von diesem Blerim halten soll …

Mich interessieren Figuren nicht, die entweder Schwarz oder Weiss sind. Dies trifft auch auf Arnold zu, der mit seiner Krankheit einen Freipass für widersprüchliche Aussagen hat. Eine rundum positive Figur stimmt für keinen Menschen. Um Blerims Monologe musste ich kämpfen. Der Regisseur und der Produzent sind viel jünger als ich. Sie hatten ein grosses Problem damit.

Es könnte der Vorwurf kommen, die Bühne Aarau und Schertenleib bringen Rassismus auf die Bühne …

Es gibt diese albanischen Klanstrukturen wirklich, und es ist wichtig, dass wir darüber sprechen. Es zeigt, wohin die Verklärung der Familie führen kann. Das eine Extrem in diesem Stück ist, dass man sich nicht um den kranken Vater kümmert, weil man keinen Platz hat.

Am anderen Ende des Pendels ist die Familie ein Gefängnis, das die Rechtsprechung aushebelt und Frauen unterdrückt. Ich hätte aus Blerim einen aufgeklärten Germanistik-Studenten machen können, der Vegetarier ist, nicht fliegt und sich im Kunsthaus Zürich an Bilder klebt. Aber dies entspräche nicht der Realität.

Ein solches Drehbuch hätten Sie dem «Tatort» verkaufen können. In der Schweiz gibt es aber nicht nur das Abschieben ins Altersheim. Dreiviertel der Menschen mit Demenz werden hier zu Hause betreut, meist von Angehörigen. Im letzten Interview mit alzheimer.ch erzählten Sie, wie sehr sich Ihr Vater um Ihre krebskranke Mutter gekümmert hatte. Sie gehen zu hart ins Gericht mit der Schweiz! 

Ich möchte kein Schweiz-Bashing betreiben. Die Schweiz kommt in diesem Stück nicht vor, es könnte sich auch in Deutschland oder Österreich abspielen, aber nicht in Irland. Das Stück stellt die Frage: Wie gehen wir um mit kranken alten Menschen? Ich sehe auch viele tolle Sachen in der Schweiz.

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Sie sind ein Mann der klaren Worte und kontroversen Figuren, die sich auch mal derb ausdrücken. Wokeness muss für Sie ein Gräuel sein.

Im Stück «Ein Vorhang aus Rasierklingen» geht es auch um die Frage, ob wir auf einem guten Weg sind, wenn wir jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen. Arnold öffnet mit seiner Sprache Türen für andere Menschen.

Mir erging es so mit meinem Schwiegervater: Er sagte oft Sachen, die man zuerst einmal schlucken musste. Seine Aussagen lösten aber wichtige Gespräche aus. Die Konventionen verbieten dies leider immer mehr. 

> Hier gibt’s weitere Informationen und Tickets zum Stück «Ein Vorhang aus Rasierklingen»