Vom Umgang mit Ekel und Scham - demenzjournal.com

Tabuthemen im Pflegeberuf

Vom Umgang mit Ekel und Scham

Sowohl Pflegende als auch Patienten:innen sind davon betroffen. Die Herausforderung besteht darin, in diesem Moment auf den Menschen zuzugehen. shutterstock

Ekel und Scham sind natürliche Gefühle, die sich nur bedingt steuern lassen. Die Autorinnen zeigen anhand einer systematischen Literaturrecherche die Bedeutung und Ansätze für den Umgang damit im Pflegeberuf auf.

Von Soraya Hämmerli und Andrea Käppeli

Ekel und Scham werden oft mit der Körperarbeit oder der Körperausscheidung assoziiert. Aber ebenso können bestimmte Verhaltensweisen oder Essen und Trinken diese Emotionen auslösen. Viele Pflegende halten Ekel und Scham für unangemessene Reaktionen, die ausgehalten werden, um schnellstmöglich der unangenehmen Situation zu entfliehen. Einige dulden die Emotionen bewusst, da dies professionellem Verhalten zugeschrieben wird.

Negative Emotionen belasten

Gefühle, die unterdrückt, verleugnet oder nicht ernstgenommen werden, können zu Stress, Frustration, Angst, Wut und Gewalt führen. Es werden direkte Auswirkungen auf die Pflegequalität sowie die Zufriedenheit von Patient:innen und Mitarbeitenden beschrieben.

Die Auseinandersetzung mit Ekelempfindlichkeit von Pflegeauszubildenden und dessen Einfluss ergab, dass 60 Prozent der Befragten Ekel bei Pflegeaufgaben verspüren. Aus Ekel haben 14 Prozent diese Pflegeaufgaben vermieden und 26 Prozent glaubten, dass sie aufgrund dieser Emotion nicht als Pflegende qualifiziert wären, beziehungsweise den Beruf verlassen (Özkan et al. 2021).

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Toleranz und Empfinden

Es scheint ein direkter Zusammenhang zwischen ekelauslösenden Pflegesituationen und der Pflegequalität zu bestehen. In der klinischen Praxis wird beobachtet, dass Pflegeinterventionen, die mit Ekel verbunden werden, rascher durchgeführt werden. Ausserdem werden Patient:innen, die «ekelerregende Verhaltensweisen» zeigen, von Pflegenden weniger häufig und weniger lang besucht.

Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass hier eine Vernachlässigung der Pflegequalität möglich ist. Vermeidung von Seiten der Pflegenden ist eine oft beobachtete Strategie (Özkan et al., 2021).

Umgang mit Ekel und Scham

Genauso unterschiedlich wie Emotionen erlebt werden, gibt es auch Strategien. Aktuell gibt es keine einheitlichen evidenzbasierten Empfehlungen. Unabhängig der Quellen gibt es verschiedene deckungsgleiche Empfehlungen. Als zentral wird der vertrauensvolle Beziehungsaufbau zwischen Patient:innen und Pflegenden genannt, gefolgt von Wissen, Motivation und positivem Arbeitsumfeld.

Beziehung zwischen Patient:innen und Pflegenden und Wissen: Als hilfreich beschrieben wird die Haltung der Pflegenden, dass nicht der/die Patient:in als Mensch ekel- oder schamauslösend ist, sondern dass das Auslösende, z. B. ein Stoma, Körpergeruch, Wunden oder Verhaltensweisen, sind.

Dies zu reflektieren ist zentral. Es wird empfohlen, den Fokus auf die Interaktion zu legen. Auch das Wissen über auslösende Faktoren hilft, sich mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Herausforderung besteht darin, in diesem Moment auf den Menschen zuzugehen.

Das benötigt eine reflektierte Haltung, Geduld und Mut, sich solchen Situationen zu stellen. Floskeln wie «daran gewöhnst du dich schon» können so erklärt werden, dass sich mit den Erfahrungsjahren einer Pflegenden der Fokus ändert.

Mit zunehmender Erfahrung verstärkt sich die Fähigkeit, den ganzen Menschen zu sehen und sich mehr auf die Interaktion zu fokussieren. Es ist wichtig, diese Emotionen anzusprechen, um eine unterstützende Haltung zu entwickeln. Das erfordert Empathie.

Arbeitsklima und eigene Motivation: Arieli (2013) beschreibt die Denkweise «ich bin stark und erinnere mich daran, warum ich den Beruf Pflege gewählt habe» als Motivation, um mit emotional belastenden Situationen umgehen zu können. Dies gilt auch für Ekel und Scham. Pflegenden, die davon potenziell betroffen sein könnten, wird empfohlen, das arbeitsbezogene Wohlbefinden zu optimieren.

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Die Literatur empfiehlt folgende Massnahmen:

  • Ruhepausen sicherstellen
  • regelmässige Fenster für Kommunikation mit Berufskolleg:innen und Vorgesetzten
  • Steigerung der emotionalen Selbstwirksamkeit mit Trainingsprogrammen zur Resilienz oder Achtsamkeit,
  • positive Arbeitsbedingungen, z. B. durch das Ermöglichen von individuellen Wünschen bei der Dienstplanung, eingehen auf die Bedürfnisse von Mitarbeitenden durch die Vorgesetzten
  • motivierende Arbeit durch z. B. regelmässiges Feedback, Lob, Dank, Förderung,
  • Mitarbeitendenbindung durch attraktive Angebote, z. B. Benefits, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Förderung von Weiterbildung

Die Investition in den Umgang mit Ekel und Scham verbessert indirekt auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen. Das fördert das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und der Institution.

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Empfehlungen für die Praxis

Die Autorinnen legen Wert darauf, dass Personen in Führungspositionen, Fachverantwortliche, Pflegeexpert:innen, Berufsbildner:innen oder Lehrpersonen sich mit Tabuthemen auskennen. Es ist wünschenswert, dass Personen in Schlüsselpositionen und Vorbildrollen das Thema ansprechen.

Da keine Richtlinien oder Expertenstandards bekannt sind, gilt in erster Linie Erfahrungswissen. Ein offenes Ohr und das Ernstnehmen sind wichtige Unterstützungsmassnahmen. Das Aufnehmen der Themen Ekel und Scham in Fallbesprechungen, Rapporten, Themenwochen oder im Vieraugengespräch ist wirksam, um den Umgang damit zu reflektieren und bewusste Strategien zu entwickeln.

Schlussfolgerung

Der Alltag zeigt, dass der professionelle Umgang mit Ekel und Scham noch weiterer Aufmerksamkeit bedarf. Insbesondere ist das Bewusstsein für das Auftreten zu schärfen. Es scheint zentral, da Auswirkungen auf die Patientensicherheit und Mitarbeitendenzufriedenheit nicht unerheblich sind.

Allgemein gilt es auch, für weitere Tabuthemen zu sensibilisieren, am besten früh und bereits in der Ausbildung. Aufgrund der Vielfältigkeit des Berufs erleben Pflegende unterschiedlichste Situationen und Emotionen in einer Bandbreite, wiewohl in keinem anderen Beruf. Weitere Forschung in diesem Bereich wird empfohlen.

Die aktuelle Studienlage basiert aktuell auf retrospektiven Erzählungen. Da es herausfordernd ist, solche Emotionen zu erfassen, würde ein Instrument in Form einer evidenzbasierten Skala Unterstützung bieten, um das Erlebte zu beschreiben. Die Autorinnen sehen einen Nutzen in einer Weiterentwicklung eines Instrumentes, das die Emotionen greifbar machen kann oder sie zumindest einordnen lässt.

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Literatur

Arieli, D. (2013). Emotional Work and Diversity in Clinical Placements of Nursing Students: Diversity in Clinical Placements. Journal of Nursing Scholarship, 45(2), 192–201.

Dongen, E. V. (2001). It isn’t something to yodel about, but it exists! Faeces, nurses, social relations and status within a mental hospital. Aging & Mental Health, 5(3), 205–215.

Goerdeler, K. J., Wegge, J., Schrod, N., Bilinska,

P., & Rudolf, M. (2015). “Yuck, that’s disgusting!”—“No, not to me!”: Antecedents of disgust in geriatric care and its relation to emotional exhaustion and intention to leave. Motivation and Emotion, 39(2), 247–259.

Kaiser, M., Kohlen, H., & Caine, V. (2019). Explorations of disgust: A narrative inquiry into the experiences of nurses working in palliative care. Nursing Inquiry, 26(3),

Özkan, I., Taylan, S., Adıbelli, D., & Yılmaz, F. T. (2021). Investigation of the relationship between nursing students’ disgust sensitivity and caring behaviours. Nurse Education in Practice, 54, 103090.


Die Autorinnen

Soraya Hämmerli BScN, cand. MScN, Pflegeexpertin Hirslanden Klinik Im Park, soraya.haemmerli@hirslanden.ch
Andrea Käppeli MScN, Pflegeexpertin APN, Spital Muri, Studiengangsleitung Bachelor of Science in Nursing, Careum Hochschule Gesundheit, andrea.kaeppeli@careum-hochschule.ch


Dieser Beitrag erschien in SBK Krankenpflege Nr. 2/2023. Vielen Dank an die Redaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.