Fehlende Krankheitseinsicht ist ein Segen - demenzjournal.com

Wolkenfische (6)

Fehlende Krankheitseinsicht ist ein Segen

«Gestern sind wir auf einer Bank über dem Fluss auf der anderen Seite der Brücke gesessen und haben Kuchen gegessen und unseren ‹Granatapfel-Wein› getrunken. Das war schön.» «ΙΘΑΚΗ – Ithaka», Foto Susanna Erlanger

Marc hält sich trotz starker Demenzsymptome für gesund. Das ist ein Segen, denn die Realität wäre unerträglich für ihn. Doch ich trauere über das Verlorene, das immer mehr wird. Kleine Rituale geben uns Halt.

Wie von einer fremden Kraft angezogen, stürzt du dich auf Krumen, dürre Blätter, Haarfäden, auf alles, was auf dem Boden liegt, auf dem Teppich. Es ist, als ob du in diesen Momenten aus einem lethargischen Stillstand erwachtest, als ob deine Entschiedenheit und Leidenschaft sich der vergangenen Jahre erinnerte.

Alles Verdorrte und Leblose – Samenstände zum Beispiel – klaubst du mit Vehemenz auf, als wären es lästige Insekten, die du eliminieren musst. Auch mein Nein schützt sie nicht davor.

Blog Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger

Auch schmutzige Gegenstände sind in deinen Fokus geraten: Du reibst sie reinlich aus, benetzt sie wieder und trocknest sie von Neuem. Dann siehst du die Gerätschaft durch, und kommentierst, wo sie hingehört, wo ihr Platz ist, und was man damit macht.

Später fährt dein angefeuchteter Zeigefinger wieder auf einen Krümel auf dem Boden zu. Dann muss wieder etwas abgewaschen werden, das Becken mit dem Lappen ausgetrocknet, und der Lappen ausgewrungen sein.

Dabei sind deine Bewegungen verzögert wie die Töne eines Harmoniums, so als ob du dir zuerst überlegen müsstest, wie du die Gabel hinlegst, den Schrank schließt, die Klinke der Küchentür loslässt.

Demenzabklärung beim Spezialisten

Wir fahren den weiten Weg mit dem Zug in die Stadt: Dein Kopf soll geröntgt werden. Dann liegst du in der MRI-Röhre. Doch nach sieben Minuten sehen wir von außen durch die Glasscheibe, dass du aufstehen willst.

So gehe ich in den Röntgenraum und setze mich neben die Maschine, um dir die Hand zu halten und dir zuzureden. Vorher unterschreibe ich noch ein Formular, in dem ich bestätige, dass mir bewusst ist, dass ich mich Strahlen aussetze. Dann fährt der Schlitten dich wieder in die Röhre, und die Aufnahme beginnt von vorn.

Die Geschichte von Marc und Susanna Erlanger

Demenz und Sinnhaftigkeit

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Mail an die Praxishilfen des Augenarztes:

»Seit letztem Freitag wissen wir, dass mein Mann an der Alzheimerkrankheit leidet. Ich habe mit der Hausärztin Rücksprache genommen, ob es noch sinnvoll ist, unter diesen Bedingungen eine Gesichtsfelduntersuchung durchzuführen. Sowohl die Ärztin, wie auch ich, finden dies nicht mehr angezeigt.

Daher möchte ich den Termin heute bei Ihnen, sowie die nachfolgende Sprechstunde absagen. Dass dies so kurzfristig geschieht, ist dem Umstand zu schulden, dass ich seit der Diagnose durcheinander bin und erst gerade eben daran gedacht habe, Ihnen Bescheid zu geben. Ich dachte, der Termin sei Ende Woche. Entschuldigen Sie bitte.»

Mail an den Augenarzt:

»Ich möchte Ihnen herzlich für das heutige Telefonat danken. Ihre Anteilnahme und Ihr Verständnis haben mich sehr getröstet.«

Marc sieht seine Krankheit nicht

Mail an J.:

»Wir sind im Moment beide bedrückt. Für Marc ist es sehr schwierig, ins Altersheim zu gehen, auch wenn es jeweils nur für zwei, drei Stunden ist. Und ich habe niemanden gefunden, der bereit wäre oder es sich zutrauen würde, einen dementen Menschen zu Hause zu betreuen. Andererseits hat sich unser Leben beruhigt, seit ich nun weniger auswärts arbeite.«

Angehörige Ursula Kehrli dokumentiert die Erkrankung ihres Mannes

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Antwort von J.:

»Der Besuch bei euch, unser Zusammensein, hat mich erfreut, weil es schön war euch wiederzusehen, aber halt auch erschüttert, weil mir wieder so deutlich wurde, in welch schwieriger und trauriger Lage ihr seid.

Ich sehe, wie Du Dich am Rande Deiner Kräfte bewegst und ich sehe bei Marc, wie so überhaupt keine Einsicht in die Krankheit möglich ist – ein verbreitetes Phänomen bei alzheimerkranken Menschen.

Als Du mal draußen warst, sagte mir Marc, er brauche doch niemanden und wolle niemanden, denn schließlich sei er ja gesund.

Als er dann kurz von seinen Aufenthalten im Pflegeheim berichtete, hatte ich den Eindruck, nicht mehr die totale Ablehnung herauszuspüren. Vielleicht kann er sich ja doch langsam an diese Aufenthalte gewöhnen, so dass es niemanden zusätzlich für zuhause bräuchte. Ich weiß es nicht, es ist nur so eine Idee. Es ist oft schwierig, wenn wir in Marcs Anwesenheit nicht offen miteinander sprechen können.«

Mail an J.:

»Ich danke Dir für Deine lieben Worte. Weißt Du, es ist nicht eigentlich die Lage, in der wir uns befinden, die soviel Kraft braucht, sondern die Trauer über das Verlorene, das immer mehr wird, und dies schon seit einiger Zeit und mit der Aussicht auf noch mehr Verlust.

Manchmal bricht es mir schier das Herz und in meinem Bauch zieht sich alles zusammen, wenn die Situation surreal und aus der Verwirrung heraus so abstrus ist, dass ich mich gar nicht mehr heimisch fühlen kann. Ich versuche dann nur noch, auf das Unbegreifliche zu reagieren.

Außerhalb meiner selbst komme ich mir die meiste Zeit vor, aus der eigenen Fremde heraus.

Und das immer gleiche Thema, um das sich unser Leben nun dreht: das Heim, das Heim, das Heim, warum, warum, warum – jeden Tag, und immer wieder. Das zermürbt.

Und dass M. keine Einsicht zeigt: Stell Dir vor, es wäre ihm bewusst, dass er den Verstand verliert! – Es wäre eine noch größere Tragödie, als sie es jetzt schon ist. Nein! Gut, dass er nur am Rande realisiert, was mit ihm passiert!

Heute war wieder ein Arbeitstag, und er ist mir zuliebe die drei Stunden ins Heim gegangen –, und heute Abend höre ich wieder den Sermon darüber, dass das doch eigentlich nicht nötig sei. Ja, der Schutzwall ist dick, Gott sei Dank. Aber dem standzuhalten, erfordert Kraft. Und auch Marc ist geschlagen und bedrückt. – Mist!

Gestern sind wir auf einer Bank über dem Fluss auf der anderen Seite der Brücke gesessen und haben Kuchen gegessen und unseren ‹Granatapfel-Wein› getrunken. Das war schön.

Ich will mehr solche ‹Pflöcke› in unseren Alltag schlagen und mehr mit Marc rausgehen und uns Luft und Raum verschaffen und Gemeinsamkeit. Ich bin sehr froh um unsere Freundschaft, und ich werde Dir gerne telefonieren. Hab’ Dank!«

Mail an die Hausärztin:
»Marc ist die Woche vom 9. Oktober im ‹Ferienzimmer› im Altersheim und wird von Frau Dr. S. im Krankheitsfall betreut. (Ich bin an einer Messe.) Würden Sie bitte veranlassen, dass Frau Dr. S. die Unterlagen meines Mannes zugestellt werden?«

Nun bin ich wieder vom Ausland zurück und sehe, wie dir die Einsamkeit im ‹Ferienzimmer› den Blick getrübt hat. Deine Verlorenheit blickt mir auch noch in den Tagen nach meiner Rückkehr entgegen, und ich versuche, unter meiner Schuld nicht erdrückt zu werden.

Sonst bist du immer an die Messen mitgekommen. Doch an der letzten haben dich die vielen Eindrücke und die Betriebsamkeit so verwirrt, dass du angefangen hast, dich gegen meine Kunden zu wehren wie gegen eine Bedrohung.

Dossier: Zu Hause

Die meisten Menschen mit Demenz leben zu Hause. Ihre Betreuung und Pflege erfordert Empathie, Zeit, Wissen und ein intaktes Netzwerk. In diesem Dossier finden Sie hilfreiche und spannende Beiträge zur Pflege zu Hause.

Mail an die Hausärztin:

»Gerade habe ich mit der Pflegeleiterin des Altersheims telefoniert. M. war ja letzte Woche dort im ‹Ferienzimmer›, weil ich weg war. Er sei sehr anspruchsvoll in der Zuwendung. Er habe Verlustängste und leide unter einer großen inneren Verlorenheit. Ich möchte Sie nun bitten, ob Sie nochmals mit dem Gerontopsychiater Kontakt aufnehmen könnten, um zu beraten, ob nicht ein anderes Antidepressivum eine Besserung brächte.«

Wirkt das Alzheimermedikament?

Du nimmst nun seit drei Monaten dieses Alzheimermedikament, und ich versuche deine Auffassungsgabe von vor der Einnahme mit dem Jetzt zu vergleichen: Ist da wirklich eine Verbesserung festzustellen oder bilde ich sie mir nur ein? Hat sich deine Erkrankung wirklich verlangsamt, und bist du morgens wirklich weniger verzweifelt als vorher?

(Fortsetzung folgt.)


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise ihre persönlichen Texte zur Verfügung stellt.