Herr Zwicker, Sie sind 32 Jahre jung und schreiben aus der Sicht eines 91-Jährigen, der im Altersheim lebt. Wie ist es dazu gekommen?
Frédéric Zwicker: 2004 arbeitete ich fünf Monate als Zivildienstler in einem Neuenburger Altersheim. 2009 gewann ich einen Preis für meine Kurzgeschichten, und ich machte mich an ein Romanprojekt. Ich fand ein Pflegeheim als Schauplatz sehr interessant. Durch die intensiven Erfahrungen hatte ich eine starke Inspiration. Es kam zur Idee mit dem Rückzug eines alten Mannes.
«Hier können Sie im Kreis gehen»
Johannes Kehr ist 91 und möchte seine Mitmenschen nicht mehr seinem Trübsinn aussetzen. Damit er in einem Altersheim endlich zur Ruhe kommen kann, täuscht er eine Demenz vor. Im Heim beobachtet er das merkwürdige Verhalten der Mitbewohner und Pfleger.
Zwicker glänzt mit klugen Reflektionen und präziser Sprache. Mit seinen treffenden Beobachtungen zum Alltag des Heimes hält er Bewohnern, Pflegern und Angehörigen den Spiegel vor.
«Hier können Sie im Kreis gehen», Frédéric Zwicker, Verlag Nagel & Kimche
Viele Menschen setzen sich nicht gerne mit Alter und Pflege auseinander. Woher kommt Ihr Interesse?
Es ist eine der grossen Fragen unserer Gesellschaft, wie wir mit unseren Alten umgehen. Zudem bin auch persönlich betroffen: Meine beiden Grossmütter erkrankten an einer Demenz. Ich hatte das Gefühl, mit meiner Erfahrung kann ich etwas dazu sagen.
Welche Schlüsse ziehen Sie nun aus der Auseinandersetzung mit Alter, Demenz und Pflege?
«Das ist eine extrem schwierige Frage. Ich sah Dinge, die ich schrecklich fand.»
Als Schriftsteller sind Sie ein professioneller Denker. Die Vorstellung, nicht mehr denken zu können, ist für Sie wohl besonders schlimm…
Ich glaube nicht, dass diese Vorstellung für mich schlimmer ist als für andere. Bei mir ist es mehr die Vorstellung, völlig fremdbestimmt zu leben, weil ich ein sehr selbstbestimmtes Leben führe und immer wieder ungewöhnliche Wege nehme.
Welche Aufgaben stellen sich im Zusammenhang mit Alter und Demenz unserer Gesellschaft? Wie können wir in Zukunft angemessen mit alten und kranken Menschen umgehen?
Ich glaube, dass wir zu wenig Zeit und nicht mehr genug Wohnraum haben, um Menschen mit Demenz ausserhalb von Heimen zu betreuen. Wir werden immer älter, und das macht es noch schwieriger. Ich glaube, es gibt keine wirklich gute Lösung. Wahrscheinlich wird künftig mehr über den Freitod gesprochen, weil es viele Leute gibt, die ihn wollen. Aber das ist eine sehr heikle Diskussion.
Wer nicht funktioniert, wird ausgemerzt – das gab es unter den Nazis. Würden Sie den Freitod einer Demenz vorziehen?
Die Frage ist für mich noch zu weit weg. Sich in die Figur des alten Mannes zu versetzen, ist das eine. Im Moment tendiere ich zu einem «Ja». Aber es wird wohl auch davon abhängen, wie meine Angehörigen darüber denken. Es ist nicht nur meine Entscheidung.
In Ihrem Buch verwenden Sie drastische, manchmal auch zynische Wörter zum geistigen und körperlichen Abbau im Alter. Mussten Sie Ihre Sprache anpassen, als Sie im Heim arbeiteten?
«Ich schreibe aus der Sicht des 91-jährigen Johannes Kern, der ein ereignisreiches und tragisches Leben hinter sich hat. Er ist verbittert, und ich bin nicht mit allem einverstanden, was er sagt.»
Bei der Betreuung von Menschen mit Demenz kommt es manchmal zu sehr schwierigen Situationen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Manches ist mir sehr nahegegangen. Alle sagen, man müsse Distanz halten und abschalten können. Trotzdem macht man sich auch nach der Arbeit viele Gedanken. Man muss das gesamte System der Altersversorgung immer wieder hinterfragen. Ich finde diesen Job sehr schwierig.
Man findet in Ihrem Buch kluge und fundierte Reflektionen. Haben Sie bei Ihrer Recherche auch Bücher gelesen und Fachleute befragt?
Ich bin nicht auf dem aktuellsten Stand und nenne mich nicht «Experte». Aber ich las viel über Demenz im Internet oder in Broschüren, die im Heim auflagen, und stellte den Pflegenden viele Fragen. Filme schaute ich auch. 2010 arbeitete ich zwei Monate in der Demenzstation eines weiteren Heimes. Dazu kamen kürzere Einsätze als Zivildienstler. Auch als Fahrer des Tixi-Dienstes kam ich in Kontakt mit alten Menschen.
Fanden Sie die Heime gut, in denen Sie arbeiteten?
Es gab in beiden Heimen sehr Schönes. Ich will niemandem Vorwürfe machen, es sind ja alles Menschen, die in einem System arbeiten. Schlimm fand ich, wenn man Bewohner sehr früh am Abend ins Bett brachte, weil es nicht möglich war, sie abends zu betreuen und später ins Bett zu bringen. Ich finde es furchtbar, wenn solche von wirtschaftlichen Realitäten erzwungene Abläufe die Selbstbestimmung so massiv einschränken.
Brauchen diese Heime mehr Ressourcen?
Ja. Aber sie können nicht mehr Personal einstellen, weil ihnen das Geld fehlt. Dies führt zu Problemen. Es gibt auch grosse Unterschiede zwischen den Heimen. Die Situation hat sich in den letzten Jahren dennoch vielerorts verbessert, weil man viel mehr über einen angemessenen Umgang mit Dementen weiss.
Was haben Sie persönlich bei der Auseinandersetzung mit Alter und Demenz gelernt?
Verschiedenes. Als Betreuer merkte ich, wie viel nonverbal kommuniziert wird. Das ist eine spannende Erkenntnis. Es gab auch lustige Situationen. Zum Beispiel, als eine Frau sagte: «Die Amsel ist überhaupt ein anständiges Tier». Ich finde diesen Satz grandios!