Sie kann nicht verstehen, dass Elli, ihre Schwester, nicht anruft. Neun ältere Geschwister hat sie, aber Elli ist ihre Lieblingsschwester. Ihr Sohn beruhigt sie, Elli werde sich schon wieder melden, sie sei ja die treueste Seele der Mutter. Dann erzählt Guido ihr ein paar lustige Geschichten, die sie zusammen mit Elli erlebt haben. Etwa, wie sie im Pool versucht hatten, alle zusammen auf einer Luftmatratze zu sitzen. Elli ist im vergangenen Jahr gestorben, aber Guidos 84-jährige Mutter hat es vergessen. Dafür versucht ihr Sohn, sie für die Mutter lebendig zu machen.
Buch »19521 Schritte«
Guido Maria Kretschmer ist das Gedächtnis seiner Mutter
»Du musst dir keine Sorgen machen – was du nicht mehr weißt, weiß ich«, sagt Guido Maria Kretschmer zu seiner Mutter, wenn sie sich Sorgen macht. Bild GABO Photos
Der Star-Designer Guido Maria Kretschmer offenbart in seinem neuen Buch, dass seine Mutter an Demenz erkrankt ist und wie er damit umgeht.
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Der Modedesigner Guido Maria Kretschmer schreibt in seinem neuen Buch »19521 Schritte« auch über die Demenz seiner Mutter Marianne – ohne die Krankheit als solche zu benennen, er belässt es dabei, sie zwischen den Zeilen zu erwähnen. Und er denkt darüber nach, wie sich die Bedeutung von Wahrheit für Menschen mit Demenz wandeln kann, weil die Betroffenen sie immer wieder vergessen können.
»Ich vergleiche ihre Demenzerkrankung manchmal mit den Bildern von Gerhard Richter, bei dem die Übergänge fließend sind. Es ist wie mit ihren Erinnerungen, sie verwischen immer mehr.«
»Was wäre es doch für ein Glück, wenn die Wahrheit hin und wieder nicht so unausweichlich wäre«, schreibt Kretschmer. Er selbst wünsche sich, »im Alter nicht ständig korrigiert zu werden«. So wie er seine Mutter nicht korrigiert, wenn sie auf den Anruf ihrer Lieblingsschwester wartet. Einmal sagt seine Mutter zu ihm: »Guido, kannst du nicht bitte zaubern, dass alles wieder so wird, wie es früher war.« Er wünschte, er könne es.
Wenn man das Buch des Mode-Designers liest, fällt auf, wie eng seine Beziehung zur Mutter ist, wie ähnlich sich die beiden in vielem sind. Die Mutter, erfahren wir, liebt Mode und hat leidenschaftlich geshoppt – gern zusammen mit ihrem Sohn. Gleichzeitig war sie überaus fleißig, hatte immer ein offenes Haus für ihre vielen Geschwister und deren Familien.
Am Sonntag, wenn die Verwandten zum Kaffee kamen, glich das Haus einem gut funktionierenden Café. Einige mussten mit ihren Tellern auf der Treppe sitzen, weil am Tisch nicht genug Platz war. Die Mutter hat das alles gemanagt, ohne zu klagen, ihr Mann war ihre Stütze, »ein perfektes Team«, wie Kretschmer im Buch schreibt. Seine Eltern hätten es geschafft, sich zu zweit »eine Parallelwelt neben uns Kindern aufzubauen«. Auch im Alter, als das Leben für beide beschwerlich wurde, liebten sie sich wie eh und je.
»Er war ihre große Liebe. Vielleicht wäre sie sonst an seinem Tod zerbrochen. Ich glaube, da war ihre Krankheit ein Rettungsanker.«
Die Demenz hat ihr offenbar auch über den Tod ihres Mannes Erich, der vor Kurzem mit 87 Jahren gestorben ist, ein wenig hinweg geholfen. »Ich glaube, es ist oft auch ein Selbstschutz. Er war ihre große Liebe. Vielleicht wäre sie sonst an seinem Tod zerbrochen. Ich glaube, da war ihre Krankheit ein Rettungsanker«, sagte Kretschmer kürzlich in einem Interview. Glücklicherweise wisse die Mutter über ihn aber immer noch ganz genau Bescheid. Auch dass sein Partner Frank heißt, ist ihr präsent, sie »schickt 1000 Küsse an meinen Mann Frank«, berichtet der Designer. Darüber freue er sich sehr.
Anrührend ist, wie der 58-jährige der Mutter anbietet, auf seine Erinnerungen zurückzugreifen, er ist quasi ihr Gedächtnis. »Wir saßen beim Essen, als sie mich umarmt hat und sagte: ›Ach Guido, ich habe Angst, dass alles weggeht.‹ Ich habe ihr dann gut zugeredet und gesagt: ›Mama, du musst dir keine Sorgen machen, alles, was du nicht mehr weißt, weiß ich noch. Ich mache das für uns beide. Alles, was du heute vergisst, weiß ich morgen noch.‹« Die Traurigkeit, die er selbst erlebt, lasse er sich nicht anmerken, lieber versuche er, seine Mutter abzulenken, erzählt er im Interview.
»Ich glaube, dass es den Angehörigen von Demenzerkrankten eine Leichtigkeit geben könnte, wenn man bei den Erinnerungslücken mitspielt.«
Guido Maria Kretschmer hat länger darüber nachgedacht, ob er die Krankheit in seinem Buch thematisieren soll. Der Ton, mit dem er über seine Mutter spricht, im Buch, in Interviews, ist immer respektvoll und innig – eine Zärtlichkeit, die zweifellos auch die Mutter erreicht, ihr Freude und ein Stück Halt geben mag. Einen Rat für Angehörige hält der Designer im Interview auch bereit: »Ich glaube, dass es den Angehörigen von Demenzerkrankten eine Leichtigkeit geben könnte, wenn man bei den Erinnerungslücken mitspielt.« Das kann auch heißen, nicht einzuschreiten, wenn Betroffene Tote zum Leben erwecken – so wie es seine Mutter mit ihrer Lieblingsschwester getan hat.
Auf dem Hippiemarkt von Udo Lindenberg entdeckt
Guido Maria Kretschmer wurde 1965 in Münster geboren, er ist mit drei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Mechaniker-Meister. Zunächst studierte Kretschmer Medizin, später in Barcelona Mode. Seine ersten Kreationen verkaufte er auf einem Hippiemarkt auf Ibiza, wo ihn der Musiker Udo Lindenbarg entdeckte und ihn mit der Herstellung von Jacken für seine Tournee beauftragte. Der Star-Designer ist auch als Fernseh-Moderator und Juror in TV-Shows bekannt. Kretschmer lebt in Hamburg. 2018 heiratete er seinen langjährigen Lebensgefährten Frank Mutters. Sein Buch »19521 Schritte. Vom Glück der unerwarteten Begegnung« (208 Seiten) ist im Heyne Verlag erschienen.
Die Gesprächs-Zitate stammen aus Interviews von t-online und Bild.