Michel Houellebecq hat sich im Roman »Vernichten« dem Gesundheitswesen angenommen. Wird er es ähnlich schonungslos und scharfsinnig zerlegen wie in seinem 2019 erschienenen Roman «Serotonin» die Agrarpolitik und den Freihandel? Angriffsfläche ist genug da: Die Langzeitpflege wird von Pflegekonzernen aufgerollt, denen Rendite wichtiger ist als Qualität. Das System der Fallpauschalen in den Spitälern, das in Frankreich ebenso wie in den deutschsprachigen Ländern eingeführt worden ist, setzt falsche Anreize. Hinzu kommen die Auswirkungen des Personalnotstands.
Wer Houellebecqs Schreibe kennt, erwartet von ihm, dass er Salz in diese Wunden streut. Doch der gescheite Provokateur gibt sich im Roman »Vernichten« ungewohnt versöhnlich, was bei diesem Titel umso mehr erstaunt. Zu Beginn begleiten wir den hohen Beamten Paul Raison, der sich mit gefälschten Videos, Cyberattacken und Angriffen auf Handelsschiffe beschäftigt.
Nach dem Hirnschlag im Wachkoma
Dann hat sein Vater Éduard, ein pensionierter Geheimagent, einen Hirnschlag. In einem Lyoner Spital kümmern sich Ärzte und Pflegende vorbildlich um ihn. Später wird er in eine spezialisierte Klinik für Wachkomapatienten verlegt, die sich in der Nähe seines Heimatdorfes im Beaujolais befindet. Auch dort wird er von engagiertem und empathischem Personal gepflegt.
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Die Protagonisten sind für einen Roman Houellebecqs ungewohnt normal und gesund. Die Hauptfigur Paul hat zwar seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner in der gleichen Wohnung lebenden Ehefrau Prudence. Doch sonst funktioniert er so gut, dass er es bis zum engsten Vertrauten des Wirtschaftsministers Bruno Juge bringt. Diese Figur ist übrigens dem smarten Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire angelehnt, mit dem Houellebecq im richtigen Leben befreundet ist.
Auch die anderen Familienmitglieder, die am Krankenbett Éduards wieder zusammenfinden, sind Normalos. Für einmal irritiert und provoziert Houellebecq seine Leser weder mit sexsüchtigen Neurotikern noch mit suizidgefährdeten Depressiven. Nur Indy, die Ehefrau von Pauls Bruder Aurélien, ist hochneurotisch, bösartig und intrigant.