Von Ida Geyr und Sophie Trafoier, Zeitenspiegel Reportagen
Wir finden ein gefrorenes Durcheinander wieder, als wir die Kühltruhe öffnen. Das Brot ist durchnässt, die restlichen Lebensmittel kaum noch vom Boden der Truhe zu lösen. Auf die Frage, warum sie einen Eimer Wasser in die Kühltruhe gekippt hat, antwortet meine Großmutter ganz selbstverständlich: «Dort muss doch Eis sein. Ich habe Eis gemacht.»
Regina, von allen in der Familie Mutti genannt, ist meine Großmutter, 83 Jahre alt und trägt noch ihren Morgenmantel, als sie mir am Samstagnachmittag die Tür öffnet. Sie wirkt müde, kränklich, doch ihr Gesicht leuchtet auf, als sie mich sieht. Besuch hatte sie schon immer gern – auch wenn sie sich nur schwer an die Namen erinnern kann.
Dossier: Tun! Wie geht gute Pflege?
Diplomierte Pflegefachpersonen verbringen heute weniger Zeit mit den Bewohnern als früher. Die Ausbildung gewichtet die intellektuellen Fähigkeiten stärker als die Arbeit mit den Patienten. Wie geht eigentlich gute Pflege?
Wir wissen, dass Regina eine von den 12’000 von Demenz betroffenen Südtirolern ist. Regina weiß, dass sie manchmal bloß etwas wirr im Kopf ist. Wieder strahlt sie, als ich sie nach einem Kaffee frage. «Gerne!» Sie dreht sich zum Schrank um, nur um mir im nächsten Moment eine Packung Taschentücher in die Hand zu drücken. Der Kaffee ist vergessen.
Meine Großmutter bekam ihre Diagnose vor knapp drei Jahren, das Vergessen begann schon früher.
Für die Familie wurde sie damals bloß wunderlicher, ihre Aktionen seltsamer. Sie brachte erst Termine, dann ihre Kinder durcheinander. Sie verlegte ihren Schmuck. Videokassetten fanden wir plötzlich im Ofen wieder. Wir schoben das auf das Alter. Nur, dass es dann doch etwas mehr war. Ihr Zustand bekam einen Namen. Aber in der Familie hatte sich Ungewissheit ausgebreitet.
Es folgte bewusstes Beobachten, dann, mit der Diagnose Demenz, Verstehen. Der Begriff Demenz bezeichnet keine bestimmte Krankheit, sondern das gemeinsame Auftreten von Symptomen. Er umfasst über 50 Krankheitsformen, darunter die Alzheimer-Krankheit oder vaskuläre Demenz.
Symptome können Probleme beim aufmerksamen Zuhören, Sprechen und bei der Orientierung sein. Dazu kommt der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.
Wir entwickelten eine gewisse Akzeptanz gegenüber Mutti und ihren Seltsamkeiten. Vor allem forderte das jedoch Geduld. Geduld, wenn sie jeden Tag aufs Neue einkaufen gehen will, obwohl der Kühlschrank gefüllt ist.
Geduld, wenn sie jeden Tag wieder darauf drängt, in die Stadt zu gehen. Jeden Tag in die Bank zu rennen. Jeden Tag die kleine Wohnung zu verlassen, obwohl draußen nichts auf sie wartet.
Mutti hat keine Verpflichtungen mehr. Ihre Kinder kümmern sich um ihre Rechnungen und ihr Vermögen. Ihr Tag besteht aus kurzen Besuchen in der Stadt, einem gelegentlichen Kaffee, ihren Büchern. Kleinigkeiten, und doch legt sie noch immer Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Der nächste Frisörtermin steht bereits fest, ohne ihre Perlenkette verlässt sie nicht das Haus.
Als wir uns im Wohnzimmer setzen, fragt mich meine Großmutter, ob ich Hunger habe. Ich verneine, und ihre Pflegerin Jana bringt uns beiden eine Tasse Tee. Dann wird sie von Regina wieder aus dem Raum geschickt. Sie will sie nicht dauernd sehen müssen.
Meine Familie fand anfangs eine freundliche Südtiroler Pflegerin, die halbtags kam und stets höflich und nett war. Nur von Regina selbst wurde sie nicht akzeptiert. Nach einem halben Jahr brauchte es eine Vollzeit-Betreuung.
Über eine Agentur war es relativ leicht, eine Pflegerin zu finden; nur stellte sich diese als gänzlich ungeeignet heraus. Sie leistete Mutti bloß Gesellschaft, der Haushalt war ihr egal.
Also ging für meine Familie die Suche weiter. Mittlerweile haben wir Jana gefunden.
Jana wechselt sich ab mit Erika, beide kommen aus der Slowakei. Alle drei Wochen kehrt sie zu ihrer Familie zurück. Bei Jana bleibt die Wohnung sauber, der Kühlschrank gefüllt, für Regina wird frisch gekocht. Regina aber nimmt sich kein Blatt vor den Mund, um über ihre Betreuung zu schimpfen. Sie will keine Fremden in der Wohnung. Sie braucht keine Hilfe.
Meine Großmutter erzählt mir von ihrem Tag, während wir unseren Tee trinken. Zuerst hat sie Freunde in Brixen getroffen, sie sind zusammen Mittagessen gegangen. Am Nachmittag ist sie mit ihrem kleinen Malteser Lucy, der jetzt neben ihr auf dem antiken Sofa schläft, spazieren gegangen.
Sie erzählt am liebsten von ihrer Kindheit in Kaltern, ihren vier Schwestern, ihrem jung verstorbenen Bruder. Von ihrer Ausbildung in Mailand, wo sie Italienisch lernte. Von ihrer Vergangenheit, denn die ist ihr im Gegensatz zu dem, was täglich hinzukommt, noch nicht entfallen.
Regina weiß noch, wie mühsam es damals war, jeden Tag mit dem Zug von Kaltern nach Bozen zur Schule zu fahren. Ich erzähle ihr, dass ich meinen Schulweg genauso anstrengend finde. Mutti fragt, wo ich denn zur Schule gehe. In Meran, und das seit vier Jahren. Sie reagiert überrascht. «Vier Jahre? Das, nun das wusste ich nicht.»
Sie kommt auf den heutigen Tag zurück. Zuerst hat sie ihre Enkel von der Grundschule abgeholt, dann ist sie mit dem Auto nach Bozen gefahren. Einfach mal ein gemütlicher Tag allein. Doch die Enkel studieren längst im Ausland, und Regina hat weder Auto noch Führerschein. Unsere Tassen sind mittlerweile leer.
Ein Lächeln breitet sich auf Muttis vom Alter geprägten Gesicht aus, als sie anfängt, von ihrem Mann zu sprechen.
1961, auf einer der zahlreichen Feiern, die ihr Freund Hans immer gab. Da lernte sie Conny kennen. Er war damals in der Bäckerei eines Freundes angestellt, bei ihr in Kaltern. Ihre erste große Liebe, und ihre Einzige.
Es folgte die Hochzeit und der Umzug nach Sterzing, dann die Eröffnung ihres eigenen Hotels. Nach einigen Schwierigkeiten schließlich drei langersehnte Kinder, darunter mein Vater. Regina nennt mir eine Jahreszahl nach der anderen, lässt kein Detail über diese Zeit aus.
Sie holt ein schweres Fotoalbum aus einer Schublade. Die Seiten sind gefüllt mit ihren Reisen nach Palm Springs, Kalifornien. Das Ehepaar mit Freunden beim Essen, Regina allein auf einem Schiff. Mutti lächelt. «Da war ich glücklich.» Dann verstummt sie. Ihr Lächeln verschwindet.
Conny ist vor zehn Jahren verstorben. Nur mehr zwei ihrer fünf Geschwister sind am Leben, weit von ihr entfernt in Kaltern. Den Kontakt zu vielen Freunden hat sie verloren, andere sind bereits tot. Regina zuckt mit den Schultern, ihr Blick schweift aus dem Fenster ins Nichts. «Alt werden ist keine Freude.»
Jana kommt aus dem Gästezimmer, als Mutti kurz ins Bad geht. Sie erzählt, dass Regina diese Nacht nur drei Mal aufgestanden ist. Mutti kommt zurück und ist wütend. Sie will nicht, dass man hinter ihrem Rücken über sie redet. Besonders nicht Jana.
Meine Familie hatte anfangs gehofft, Mutti würde sich an die Hilfe im Haus gewöhnen, sie irgendwann akzeptieren.
Das ist noch immer nicht der Fall. Ihr Neurologe gab ihr ein Buch, in das sie schreiben soll. Ein einzelner Satz am Tag genügt, um die Finger zu bewegen und das Denken zu fordern. Zuerst öffnete sie es immer wieder, doch mittlerweile hat Regina es in eine Schublade verbannt. Aus Angst, kontrolliert zu werden.
Meine Familie hat Glück, dass wir Jana gefunden haben und uns diese Unterstützung leisten können. So kann Mutti zuhause bleiben. Für andere Senioren in Reginas Zustand wird oft ein Platz in einem Heim gefunden; eine Option, die für unsere Mutti nicht in Frage kommt. Einen Umzug ins Seniorenwohnheim würde sie nicht tolerieren.