Von Andrea Mertes, Mut – Magazin für Lösungen
Kennen Sie das? Man schlendert eine Strasse entlang, ist guter Dinge – da löst sich aus der Masse ein Gesicht und spricht einen an: «Hallo, wie geht’s?» Leichte Panik wallt durchs Grosshirn und mit ihr die Frage: «Ach Gott, bitte, wer ist das bloss?»
Was solche Momente angeht, kann man von Menschen mit Demenz etwas lernen. Von Beatrix Gulyn aus Wien zum Beispiel. Die 72-jährige Ärztin lebt seit 14 Jahren damit und hat den Mut zur Lücke. «Ich sage dann, tut mir leid, ich kenne so viele Leute und kann das nicht mehr alles verarbeiten.» Ihre blaugrünen Augen halten den Blick, sie streicht eine Strähne graublonder Haare aus der Stirn und erklärt: «Die Leute gehen freundlich mit dieser Offenheit um.»
Demenz erschrickt vor allem Ältere. Vor dem 65. Lebensjahr sind nur wenige betroffen, aber unter 85- bis 89-Jährigen leidet schon jeder Vierte daran. Quälend kann vor allem das erste Stadium sein, wenn man sich noch bewusst ist, dass die Demenz begonnen hat und mit fortschreitendem Verlauf zu Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Inkontinenz führen wird.
Auch die Tatsache, dass weder eine Impfung noch irgendeine Therapie helfen könnte, schürt Angst.
Mutet es da nicht seltsam an, darüber nachzudenken, ob man von Menschen mit Demenz etwas lernen kann? Klingt es am Ende vielleicht sogar zynisch, zu behaupten, dass vergesslich zu werden auch Vorteile birgt? Doch beides, lernen von der Krankheit und Chancen, mit ihr zu leben, sind Aspekte, die oft übersehen werden.
Das meint nicht nur Beatrix Gulyn. Sondern auch der österreichische Verein «Promenz», für den sie seit Jahren unterwegs ist. Er unterstützt Menschen, die an Vergesslichkeit leiden. Von Demenz redet übrigens keiner der Mitglieder. Der Begriff sei zu negativ belegt, erklärt Geschäftsführer Raphael Schönborn, der zum Unterstützerkreis zählt, also selbst nicht erkrankt ist. Was ihn antreibt?
«Wir wollen der Krankheit den Schrecken nehmen»
Das fängt schon mit dem Gruppennamen an. Um sich positiv abzugrenzen, haben die Mitglieder ihre Gemeinschaft «Promenz» getauft, was heisst, dass man «für den Geist» eintritt und damit im Gegensatz zu dem Begriff «Demenz» steht, der so viel wie «ohne Geist» bedeutet.
Die Gruppentreffen finden alle zwei Wochen in Wien und in Klosterneuburg statt. Die jeweils zwei Stunden für maximal zwölf Betroffene sind ein geschützter Raum, in dem das Leben in seiner Vielfalt Platz hat. Die wichtigsten Spielregeln der Gruppensitzung stehen Schwarz auf Weiss auf einem Flipchart, damit sie nicht vergessen werden können: «Alles, was in der Gruppe besprochen wird, bleibt in der Gruppe», lautet eine davon.