«Ein Gespräch, das bis heute andauert» - demenzjournal.com
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Lenice und Paul

«Ein Gespräch, das bis heute andauert»

«Als ob ich ein Leben lang auf ihn gewartet hätte.» Die Brasilianerin Lenice und ihr Urbayer Paul. Uli Reinhardt

Sie sind über 70 Jahre alt und waren eigentlich nicht mehr bereit für eine Beziehung. Nachdem sie sich in einer Strassenbahn in Rio begegneten, gerieten die beiden «in Flammen wie ein Teenagerpärchen» und bis heute «schweben sie über den Wolken».

Von Erdmann Wingert, Mut – Magazin für Lösungen

Lenice, 73, wohnt in Alicante: Ich hatte ihn schon beim Einsteigen bemerkt, weil er mich mit seinem freundlichen, runden Gesicht anzulächeln schien. Er sass zwei Reihen vor mir, die Strassenbahn war ziemlich voll, wie immer auf dieser Strecke, die vom ZOB quer durch Rio führt. Sie ist beliebt, denn in den klimatisierten Wagen ist es angenehm kühl.

Er schaute auf das bunte Strassenbild, das vorüberglitt, und zwischendurch streifte er mich mit einem Blick, dem ich natürlich auswich. Aber drei Stationen später passierte etwas, was sich nicht ignorieren liess: Eine Kontrolleurin stieg ein, gefolgt von zwei uniformierten Polizisten, und wollte unsere Fahrkarten sehen.

Der freundliche Fahrgast vor mir zückte seinen Ausweis, was genügt hätte, denn in Rio darf jeder, der nachweist, dass er im Rentenalter ist, umsonst fahren. Doch die Kontrolleurin behauptete, die Regel gelte nicht auf dieser Strecke, und verlangte ein saftiges Bussgeld.

Er protestierte, wodurch ich mitbekam, dass er kein Brasilianer war. Er sprach zwar recht gut portugiesisch, aber mit einem Akzent, der mich an meine Zeit in Deutschland erinnerte. Ich war lange Jahre mit einem Deutschen verheiratet und mochte das Land mit seinen zuverlässigen Leuten und der Ordnung, die dort herrscht.

Umso empörter war ich über diese Kontrolleurin, die den ausländischen Gast offensichtlich abzocken wollte.

Noch ahnte ich ja nicht, dass sie der Himmel geschickt hatte. Ich sprang also auf und mischte mich ein, erklärte, dass ich als ehemalige Beamtin der Stadtverwaltung von Rio wüsste, dass sie Unrecht hätte, und verlangte ihren Namen, weil ich sie anzeigen würde.

Sie reagierte wie erwartet: stieg beim nächsten Halt wüst schimpfend aus und mit ihr die beiden Beamten. Klar, dass sich der Deutsche bedankte, er wollte mich einladen. «Nur einen Kaffee als Dankeschön», sagte er. Gleich an der Ecke setzten wir uns in ein Strassencafé und kamen übergangslos in ein Gespräch, das bis heute andauert.

Die Begegnung in Rio schlug ein wie der Blitz.PD

Seit einem halben Jahr reden wir miteinander, Stunde um Stunde, Tag und Nacht, und wenn wir getrennt werden, telefonieren wir. Fast pausenlos. Zuweilen kommt es mir so vor, als ob ich ein Leben lang auf ihn gewartet hätte.

Dabei war ich doch glücklich mit einem Mann verheiratet gewesen. Kinder hätten wir gern bekommen, aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Dennoch, ich hatte ein schönes Leben an seiner Seite. Er verdiente gut als Abteilungsleiter einer Fabrik in Siegen, wir konnten uns sogar ein Haus an der Costa Blanca kaufen, nahe Alicante, wo wir oft den Urlaub verbracht hatten.

Als er vor 18 Jahren starb, dachte ich, auch mein Leben sei damit an ein Ende gekommen, zumindest mein Liebesleben.

Eine Frau, die mit 55 Witwe wird, hat in dieser Beziehung wenig zu hoffen. Nicht, dass ich vereinsamt wäre, schliesslich hatte ich noch meine Familie in Brasilien, Freunde in Deutschland und in Spanien gute Freundinnen, denen es ähnlich ergangen war. Für Geselligkeit war gesorgt, wir hockten oft zusammen und besuchten Flamenco-Kurse. Männer waren kein Thema.

Bis bei meinem Besuch in Rio der Blitz einschlug. Anders kann ich es nicht erklären, denn unsere Beziehung fühlt sich an wie ein Naturereignis. Sie erschöpfte sich nicht in Gesprächen und Händchenhalten, sondern spielte sich als leidenschaftliches Verhältnis ab, von Kopf bis Fuss.

Das mag sich verrückt anhören, denn nicht zu vergessen: Paul und ich sind beide 73, in diesem Alter steht man nach langläufiger Meinung nicht in Flammen wie ein Teenagerpärchen. Und doch ist es so, ja, ich behaupte sogar, dass ich mich heute inniger und leidenschaftlicher hingebe, als ich es mit zwanzig vermochte, und Paul empfindet es auch so.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Darüber staune ich immer wieder, denn eigentlich suchen sich doch Männer jüngere Frauen aus, auch bei ihm war es sein Leben lang so. Deshalb schleicht sich bei mir gelegentlich Misstrauen ein, ob mein Glück von Dauer sein kann.

Das mag Paul überhaupt nicht hören und jedes Mal, wenn ich davon anfange, tischt er neue, verrückte Ideen auf, die wir gemeinsam anpacken sollten. Gerade seine Abenteuerlust gefällt mir, auch wenn ich davor zurückschrecke, mit ihm an einem Gleitschirm über Land zu segeln. Wozu auch? Ich schwebe doch schon jetzt über allen Wolken.

Paul, 73, wohnt in München: Ich mochte nie allein leben, war drei Mal verheiratet und hab drei Töchter aus diesen Ehen. Doch als meine Frau vor acht Jahren an Krebs starb, konnte ich lange Zeit keine neue Bindung eingehen, und wenn sich doch etwas anbahnte, war’s nichts Bleibendes.

Mein Herz war noch nicht frei. Denn im Gegensatz zu meinen beiden ersten Ehen, die geschieden wurden, passte es mit Kristina, es war die grosse Liebe, umso schwerer traf mich ihr Tod. Sie war ja erst Mitte 40, eine ehemalige Leistungssportlerin der DDR. Der Verdacht, dass Doping ihren Krebs verursacht hat, macht mich bis heute zornig.

Nein, ich war nicht bereit für eine neue Beziehung, zumal ich mich von da an als alleinerziehender Vater um unsere Tochter kümmern musste.

Zum Glück hatte ich als Manager einer amerikanischen Elektronikfirma gut verdient, konnte also ohne materielle Sorgen in den Ruhestand treten und meine Jüngste bis zum Abitur begleiten und danach wieder auf Reisen gehen.

Schon als Elektroniker bin ich weit in der Welt herumgekommen, auch nach Brasilien, das mir seit je ans Herz gewachsen ist. Die Mentalität der Brasilianer gefiel mir, ihre Spontanität, ihre Begeisterung für Musik und Tanz, die Fähigkeit, ganz und gar in den Tag hineinzuleben und sich nicht ständig Sorgen um das Morgen zu machen wie wir Deutschen.

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Vielleicht war diese Sympathie die Basis für den Sturm der Gefühle, der nach der Begegnung mit Lenice ausbrach, ein weiterer Grund sicher auch, dass ich mich fragte, was ich künftig mit meinem Leben machen würde.

Aber der entscheidende  Faktor war die beherzte Art, in der sich diese zierliche, doch eher zerbrechlich wirkende Person für mich eingesetzt hatte. Respekt, dachte ich! Auch wie sie danach mir gegenüber Distanz wahrte, gefiel mir.

Welch ein Glück, dass wir uns dennoch gefunden haben! Es mag Leute geben, die sich wundern, dass Menschen in unserem Alter noch in Flammen stehen. Aber so ist es halt und wird auch so bleiben. Wir beide müssen uns ja nichts mehr beweisen und können in Ruhe gemeinsam alt werden. Dass es nicht langweilig wird, dafür will ich schon sorgen.

Denn so selbstbewusst, sogar kämpferisch meine Lenice auch sein kann, wenn’s um andere geht, so verzagt ist sie gelegentlich in eigener Sache. Sicher hängt das auch damit zusammen, dass sie 18 Jahre lang allein in ihrem Haus in Alicante verbracht hat und dennoch weniger von Spanien gesehen hat als ich.

In diesem Punkt herrscht Nachholbedarf. Abgemacht ist, dass wir im Wohnmobil durch Europa streunen werden, Süditalien gehört zu den ersten Zielen. Noch hat sie ein wenig Scheu, meine waghalsigen Hobbys zu teilen: Ich kraxle zum Beispiel gern auf Bergen herum und geniesse es, in einem Segelboot in See zu stechen. Dafür muss ich noch ein wenig Überzeugungsarbeit leisten, vor allem für die Idee, im Gleitschirm abzuheben, davor schaudert sie noch zurück.

Ich werde sie deshalb behutsam ans Abenteuer heranführen, kleine Schritte zuerst.

Einer ist, ihr erst mal Radfahren beizubringen, denn nicht einmal das hat sie sich bisher getraut. Kann sein, dass ich manchmal übertreibe, um ihr zu beweisen, wie willkommen sie in meinem Leben ist. Zum Beispiel vorige Woche, als sie mich zum ersten Mal von Alicante aus in München besuchen kam.

Ich hatte mich dafür als Urbayer ausstaffiert: krachlederne Hosen, Wadenstrümpfe, rotkariertes Hemd und Filzhut mit Gamsbart. In der Empfangshalle des Flughafens hatte ich ein Tischchen platziert, auf dem zwei Flaschen Weissbier standen, daneben in einer Vase die Nationalflagge Brasiliens und die Rautenfahne Bayerns.

Als sie mich entdeckte, erstarrte sie, mochte es kaum glauben, dann rannte sie lachend auf mich zu und fiel mir um den Hals.

Ich weiss nicht mehr, wie lange wir uns küssten. Aber in einem Punkt bin ich sicher: Wir waren das meistfotografierte Paar des Jahres auf dem Münchner Flughafen.


Dieser Artikel erschien im Herbst 2019 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Reaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.