Von Erdmann Wingert, Mut – Magazin für Lösungen
Lenice, 73, wohnt in Alicante: Ich hatte ihn schon beim Einsteigen bemerkt, weil er mich mit seinem freundlichen, runden Gesicht anzulächeln schien. Er sass zwei Reihen vor mir, die Strassenbahn war ziemlich voll, wie immer auf dieser Strecke, die vom ZOB quer durch Rio führt. Sie ist beliebt, denn in den klimatisierten Wagen ist es angenehm kühl.
Er schaute auf das bunte Strassenbild, das vorüberglitt, und zwischendurch streifte er mich mit einem Blick, dem ich natürlich auswich. Aber drei Stationen später passierte etwas, was sich nicht ignorieren liess: Eine Kontrolleurin stieg ein, gefolgt von zwei uniformierten Polizisten, und wollte unsere Fahrkarten sehen.
Der freundliche Fahrgast vor mir zückte seinen Ausweis, was genügt hätte, denn in Rio darf jeder, der nachweist, dass er im Rentenalter ist, umsonst fahren. Doch die Kontrolleurin behauptete, die Regel gelte nicht auf dieser Strecke, und verlangte ein saftiges Bussgeld.
Er protestierte, wodurch ich mitbekam, dass er kein Brasilianer war. Er sprach zwar recht gut portugiesisch, aber mit einem Akzent, der mich an meine Zeit in Deutschland erinnerte. Ich war lange Jahre mit einem Deutschen verheiratet und mochte das Land mit seinen zuverlässigen Leuten und der Ordnung, die dort herrscht.
Umso empörter war ich über diese Kontrolleurin, die den ausländischen Gast offensichtlich abzocken wollte.
Noch ahnte ich ja nicht, dass sie der Himmel geschickt hatte. Ich sprang also auf und mischte mich ein, erklärte, dass ich als ehemalige Beamtin der Stadtverwaltung von Rio wüsste, dass sie Unrecht hätte, und verlangte ihren Namen, weil ich sie anzeigen würde.
Sie reagierte wie erwartet: stieg beim nächsten Halt wüst schimpfend aus und mit ihr die beiden Beamten. Klar, dass sich der Deutsche bedankte, er wollte mich einladen. «Nur einen Kaffee als Dankeschön», sagte er. Gleich an der Ecke setzten wir uns in ein Strassencafé und kamen übergangslos in ein Gespräch, das bis heute andauert.
Seit einem halben Jahr reden wir miteinander, Stunde um Stunde, Tag und Nacht, und wenn wir getrennt werden, telefonieren wir. Fast pausenlos. Zuweilen kommt es mir so vor, als ob ich ein Leben lang auf ihn gewartet hätte.
Dabei war ich doch glücklich mit einem Mann verheiratet gewesen. Kinder hätten wir gern bekommen, aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Dennoch, ich hatte ein schönes Leben an seiner Seite. Er verdiente gut als Abteilungsleiter einer Fabrik in Siegen, wir konnten uns sogar ein Haus an der Costa Blanca kaufen, nahe Alicante, wo wir oft den Urlaub verbracht hatten.
Als er vor 18 Jahren starb, dachte ich, auch mein Leben sei damit an ein Ende gekommen, zumindest mein Liebesleben.
Eine Frau, die mit 55 Witwe wird, hat in dieser Beziehung wenig zu hoffen. Nicht, dass ich vereinsamt wäre, schliesslich hatte ich noch meine Familie in Brasilien, Freunde in Deutschland und in Spanien gute Freundinnen, denen es ähnlich ergangen war. Für Geselligkeit war gesorgt, wir hockten oft zusammen und besuchten Flamenco-Kurse. Männer waren kein Thema.
Bis bei meinem Besuch in Rio der Blitz einschlug. Anders kann ich es nicht erklären, denn unsere Beziehung fühlt sich an wie ein Naturereignis. Sie erschöpfte sich nicht in Gesprächen und Händchenhalten, sondern spielte sich als leidenschaftliches Verhältnis ab, von Kopf bis Fuss.
Das mag sich verrückt anhören, denn nicht zu vergessen: Paul und ich sind beide 73, in diesem Alter steht man nach langläufiger Meinung nicht in Flammen wie ein Teenagerpärchen. Und doch ist es so, ja, ich behaupte sogar, dass ich mich heute inniger und leidenschaftlicher hingebe, als ich es mit zwanzig vermochte, und Paul empfindet es auch so.