Wenn immer mehr temporär Angestellte in der Pflege arbeiten, leiden der Teamgeist und die Qualität.
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Immer öfter können Institutionen den Betrieb nur dank temporären Mitarbeitenden in der Pflege aufrechterhalten. Das ist keine gute Entwicklung, denn sie belastet die Stammteams zusätzlich. Weil die Temporären mehr verdienen und attraktivere Arbeitszeiten haben, locken sie auch zunehmend Festangestellte in dieses Anstellungsmodell.
«Personalnotstand in Berner Spitälern». «Mehr Bettensperrungen über den Sommer». «Lange Schlangen in den Notfallstationen». Das sind nur drei der Schlagzeilen der letzten Wochen. Der Mangel an Pflegenden wächst. Ende Juni 2022 waren gemäss Jobradar 7453 Stellen für diplomierte Pflegefachpersonen unbesetzt, 2460 für Fachfrauen/Fachmänner Gesundheit.
Die Covid-Pandemie hat den schon seit langem bestehenden Pflegepersonalmangel weiter verschärft. Immer mehr Pflegende verlassen den Beruf erschöpft, frustriert oder weil sie psychisch oder physisch krank werden. Der Druck auf die Verbleibenden steigt – ein Teufelskreis.
Temporäre Mitarbeitende als Lösung?
Vor diesem Hintergrund wird es immer schwieriger, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Neben internen Lösungsansätzen wie der Erhöhung der Pensen, oder dem Einsatz von Pflegepersonal aus anderen Abteilungen oder eigenen Springerpools wird zunehmend externes Temporärpersonal eingesetzt, um Betten- oder Stationsschliessungen zu verhindern.
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In einem Artikel der NZZ am Sonntag vom Herbst 2021 bestätigten verschiedene grosse Spitäler, unten ihnen die drei Deutschschweizer Unispitäler, dass sie auf die Zusammenarbeit mit Temporärfirmen angewiesen sind. Die Zahl der Personen, die in der Pflege temporär arbeiten, wird nicht systematisch erfasst.
Das Bundesamt für Statistik hat lediglich Zahlen zu den Pflegemitarbeitenden in einem «befristeten Anstellungsverhältnis» für den sozialmedizinischen Bereich, also Pflegeheime. 2018 betrug ihr Anteil 16 Prozent.
Der Versorgungsbericht 2021 von Obsan und GDK gibt an, dass der Anteil der Pflegenden mit einem befristeten Vertrag zwischen 2012 und 2018 von 9,8 auf 14,0 Prozent gestiegen ist. Sie haben mit 57,6 Prozent eine deutlich höhere Fluktuationsrate als das unbefristet angestellte Pflege- und Betreuungspersonal (19,6 Prozent).
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Im Abschlussbericht des Swiss Nursing Homes Human Resources Project (SHURP 18) gaben 20,9 Prozent der Pflegeheime an, dass sie auf externe Ressourcen wie temporäre Mitarbeitende angewiesen sind, um Langzeitabsenzen abzudecken. Jede zehnte Pflege- und Betreuungsperson, die den SHURP-Fragebogen ausfüllte, befand sich einem temporären Anstellungsverhältnis.
Damit ist ihr Anteil leicht höher als in der ersten SHURP-Studie 2013 – ob diese Verände rung eine tatsächliche Änderung in den Betrieben widerspiegelt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Gemäss Studienleiterin Franziska Zúñiga vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel gaben damals 6,5 Prozent der Antwortenden an, temporär angestellt zu sein.
Allerdings seien in beiden Erhebungen nur Angestellte zur Teilnahme eingeladen worden, die seit mindestens einem Monat zu mindestens 20 Prozent auf der betreffenden Abteilung arbeiteten. Sie schätze die Prozentzahl allgemein eher höher ein. Zu beachten ist, dass die verfügbaren Zahlen aus der Vor-Covid-Zeit stammen.
Belastung für die Teams
Eine hohe Personalfluktuation stellt für die Stammteams generell eine Belastung dar. Neue Mitarbeitende müssen eingearbeitet werden, was Ressourcen beansprucht. Bei temporären Mitarbeitenden, insbesondere wenn sie nur kurze Zeit auf der Abteilung arbeiten und oft wechseln, nimmt die Belastung zu.
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Für amerikanischen Pflegeheime zeigte Castle (2009) weitere Nachteile für die Festangestellten: schlechtere Zusammenarbeit im Team, höhere Arbeitsbelastung, Gleichgültigkeit, sinkende Arbeitsmoral, höherer Betreuungsaufwand und unbeständige Teams.
Zusätzlich belastend ist, wenn das temporäre Personal Wunschschichten und -arbeitstage verlangen kann.
In Kombination mit dem (zumindest scheinbar) höheren Lohn ist die schlechte Stimmung praktisch vorprogrammiert.
Bei einem der grossen Anbieter von Pflegepersonal wird erwartet, dass angestellte Freelancer-Mitarbeitende in allen Schichten arbeiten, erklärt Petra Fischer von Careanesth. Sie könne aber nicht ausschliessen, dass andere Agenturen anders arbeiten.
Viele ihrer Freelancer übernähmen zudem längerfristige und wiederkehrende Einsätze auf bestimmten Abteilungen und würden daher von den Teams gut aufgenommen. Eine Pflegedienstleiterin aus der Ostschweiz sagt gegenüber der «Krankenpflege» hingegen, dass die Temporären anders als früher nicht mehr die ungünstigen Schichten übernehmen, sondern diese zunehmend an den Stammteams hängen blieben.
Eine ungute Entwicklung sei zudem eine aggressive Anwerbung von Pflegenden durch die Agenturen, welche sie dann mit hohen Vermittlungspreisen den Spitäler anbieten. Diese Pflegenden bewerben sich somit nicht mehr frei auf dem Markt.
Auswirkungen auf Qualität
Es stellt sich die Frage, ob der Einsatz von temporären Mitarbeitenden die Pflegequalität beeinflusst. Die Evidenz dazu ist nicht eindeutig. Ältere Studien aus den USA berichteten, dass mehr temporäres Personal die Mortalität nicht beeinflusst, resp. das Vorkommen von unerwünschten Ereignissen oder Medikationsfehlern sinkt.
Eine kleinere Studie aus Grossbritannien ermittelte eine tiefere Rate von Dekubitus und tiefen Venentrombosen bei mehr temporärem Personal. Andere Untersuchungen fanden keine signifikanten Zusammenhänge bei qualitätsbezogenen Outcomes. Doch gibt es auch Studien, die bespielsweise mehr Stürze mit Verletzungsfolgen nachweisen, wenn mehr temporäres Pflegepersonal eingesetzt wird (vgl. Dall’Ora & Griffiths 2020).
Eine neuere Untersuchung in Grossbritannien ging der Verbindung zwischen unterlassenen Pflegeleistungen («care left undone») und dem Anteil von temporärem Pflegefachpersonal in verschiedenen Abteilungen von Akutspitälern nach. Sie zeigt auf, dass die Wahrscheinlichkeit für unterlassene Pflegeleistungen mit zunehmendem Anteil an temporären Mitarbeitenden steigt.
Die Resultate legen zudem nahe, dass der Versuch, dank temporären Pflegefachpersonen Vollbesetzung zu erreichen, das Problem nicht unbedingt beseitigt: Die Wahrscheinlichkeit für «care left undone» ist bei Schichten mit 50 Prozent temporären Pflegefachpersonen um 10 Prozent höher als bei Schichten mit einer moderaten Unterbesetzung von maximal 25 Prozent (Senek et al, 2020).
Auch in Pflegeheimen ist gemäss Castle temporäres Personal der Qualität nicht zuträglich.
Er verweist neben den bereits genannten Belastungen für die Stammteams auf die fehlende Kontinuität und Vertrautheit, was bei den Bewohnenden zu psychologischem Stress führe. Franziska Zúñiga relativiert, zumindest zum Teil: «Es gibt Temporäre, die lange da sind und schon fast zum Team gehören».
Wenn aber in einer Notlage temporäre Pflegende wochenweise geholt würden, sei das weder für die Teams noch für die Qualität förderlich: «Sie kennen die Bewohner:innen, die Abläufe und die Prozesse nicht. Die Festangestellten müssen immer abwägen, was sie delegieren können und für sie wird die Arbeitsbelastung noch höher.
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Die Temporären haben keine Beziehung zu den Bewohner:innen und meistens auch keine Zeit, um sich einzulesen. Die Bewohner:innen sind dann zwar unterstützt bei der Pflege, aber das wäre es dann schon…». Zudem sei es auch für die Institution belastend, da es praktisch unmöglich werde, an einem Thema zu arbeiten.
Kein Zuckerschlecken
Auf den ersten Blick erscheint Temporärarbeit attraktiv zu sein: Arbeitstage und -schichten wählen zu können, unterschiedliche Arbeitsgebiete kennenlernen, gut verdienen, zwischen Einsätzen länger pausieren, um zu reisen oder in humanitären Projekten zu arbeiten. Doch die Herausforderungen sind nicht zu unterschätzen.
Temporäre Mitarbeitende müssen sich laufend in neue Arbeitsumfelder einarbeiten und unter Umständen auch eine dicke Haut gegen allfällige Animositäten von seiten der Stammteams mitbringen. Zudeist es für sie schwieriger, im Team Rat und Unterstützung zu erhalten, wie Wilkin et al. (2018) in einer organisationpsychologischen Studie herausgearbeitet haben.
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Als Grundlage dienten zwei Studien aus Bereichen, in denen Temporärarbeitende relativ oft eingesetzt werden, wie zum Beispiel Produktion, Call Center oder Hotellerie. Damit Teams effizient zusammenarbeiten, braucht es Netzwerke, in denen Wissen geteilt wird und man sich gegenseitig hilft, im besten Fall auf der Grundlage von freundschaftlichen Beziehungen.
Diese Netzwerke sind in Teams, in denen sowohl fest als auch temporär Angestellte arbeiten, weniger eng. Die temporären Mitarbeitenden werden weniger um Rat gefragt und fragen ihrerseits weniger bei den Festangestellten nach. Gleichzeitig entstehen weniger Freundschaften zwischen Festangestellten und Temporären. Tendenziell bleiben die temporär Angestellten also «aussen vor», auch wenn sie mit viel Engagement, möglicherweise einer hohen Kompetenz und dem Wunsch, eine Hilfe zu sein, in ein Team kommen.
Allerdings muss man berücksichtigen, dass sich die Arbeit in der Pflege ganz wesentlich von jener in der Produktion oder in einem Call Center unterscheidet: Sie ist hochspezialisiert, geht mit viel Verantwortung einher und erfordert enge Kooperation. Diesem Aspekt geht ein Teilprojekt der aktuell laufenden CroWiS-Studie nach, die Temporärarbeit in der Pflege aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven untersucht.
Folge von Ökonomisierung und Flexibilisierung
Der zunehmende Einsatz von temporären Pflegefachpersonen ist kein neues Phänomen. Die genannte Pflegedienstleiterin verweist darauf, dass die Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung, die zunehmende Standardisierung und die Digitalisierung dazu geführt hätten, dass die Betriebe je länger, je mehr wie Produktionsstätten funktionieren.
Vor zehn Jahren sei die Flexibilisierung der Personalplanung richtiggehend gepusht worden: «Man setzte auf kleine Kernteams, die bei Bedarf mit temporären (Pool- oder Agentur-)Pflegenden aufgestockt wurden.» Damit sei beim Personal eine Spirale in Gang gesetzt worden, die immer schneller drehe:
«Die Kolleg:innen erzählen, dass sie bei der Agentur mehr verdienen, ziehen so andere aus den Teams raus, die dann als Agenturpflegende wieder zurückkommen».
Pflegedienstleiterin aus der Ostschweiz
Auch sinke die Bereitschaft, für das Team einzuspringen – «sie können ja jemanden von der Agentur oder aus dem Pool holen». Immer häufiger komme es vor, dass Pflegende neben einer (Teilzeit-)Festanstellung auch noch für eine Agentur arbeiten. Dank digitalen Tools, etwa für das Smartphone, können sie schnell für Einsätze angefragt werden.
Wenn es dann grad passt, und sei es nur, weil Regen angesagt ist, sagen sie zu, unter Umständen sogar für eine Zusatzschicht im eigenen Betrieb. Für diese Spirale seien die Betriebe selber verantwortlich, auch wenn es natürlich Ausnahmen gäbe: «Um die Pflegenden, die die Wertschöpfung bringen, sorgt man sich nicht. Die Betriebe schieben damit die Verantwortung für ihre Care-Arbeitenden an Agenturen ab und optimieren ihre Lohnkosten», sagt die Pflegedienstleiterin.
Auch Florian Liberatore vom Institut für Gesundheitsökonomie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften kritisierte die Arbeitgeber im August im Tessiner Radio RSI: Die Betriebe hätten nur Kosten gespart, ohne sich die Frage zu stellen, wie wichtig die Pflegefachpersonen für die Versorgungsqualität sind.
Fehlt den Betrieben der Wille?
Es bringt wenig, Temporärarbeit in der Pflege per se zu verteufeln. Massvoll eingesetzt, kann sie dazu beitragen, Belastungsspitzen abzufedern. Auch kann diese Arbeitsweise attraktiv sein, um in unterschiedlichen Betrieben und Bereichen Erfahrungen sammeln oder selber zu entscheiden, wann man arbeitet und wann man anderen Aktivitäten nachgeht.
Frauen, die nach der Geburt eines Kindes nur in einem tiefen Pensum arbeiten können oder wollen, finden bei Agenturen passende Angebote, inklusive fixen Arbeitstagen. Das gibt ihnen Planungssicherheit, was für junge Familien absolut zen tral ist.
Damit ist ein wichtiger Punkt angesprochen: Offenbar ergreifen die Betriebe nicht alle notwendigen Massnahmen, um ihre Mitarbeiter:innen zu halten, obwohl es in ihrem Interesse wäre. Die Pflege ist nach wie vor ein Beruf, der zu 85 Prozent von Frauen ausgeübt wird.
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Die Arbeitgeber machen es sich zu einfach, wenn sie klagen, dass sie kein Personal finden, und gleichzeitig auf Mindestpensen von 40 Prozent und mehr bestehen, auch von Mitarbeiterinnen mit kleinen Kindern maximale Flexibilität erwarten und keine unbezahlten Urlaube gewähren. Eine Pflegefachfrau geht vor dem Hintergrund des ausgetrockneten Arbeitsmarktes ein kleines Risiko ein, wenn sie ihre Festanstellung kündigt.
Nicht erstaunlich geben in der CroWiS-Studie die befragten temporär arbeitenden Pflegefachfrauen die Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Verpflichtungen als einen Grund für den Wechsel in die Temporärarbeit an.
Kreative Lösungen finden
Dabei sind andere Wege möglich. Einige Betriebe entwickeln Modelle, die den Bedürfnissen von Mitarbeiterinnen mit Kindern entgegen kommen, auch wenn diese noch klein sind. So hat das Luzerner Kantonsspital den «Supportdienst» von 7 bis 11.15 Uhr eingeführt, mit dem er die vormittägliche Spitze abfedert.
Der Dienst ermöglicht Müttern fixe Arbeitstage und -zeiten und sie sind wieder zu Hause, wenn die Kinder aus der Schule kommen.
Auch die Kinderspitex Stiftung Kifa bietet flexible und den Mitarbeitenden entsprechende Lösungen an, z. B. mit Einsätzen von zwei Stunden am Abend.
Auch interne Springerpools können eine interessante Lösung sein. Franziska Zúñiga empfiehlt zudem, dem Personal die Möglichkeit zu geben, vorübergehend auf anderen Abteilungen zu arbeiten, nicht nur, um in der Not auszuhelfen. «Es kann auch eine Bereicherung sein, zu schauen, wie die anderen arbeiten. Und wenn man dann im Ernstfall einspringt, kennt man die Abteilung schon.»
Die Personalnot in der Pflege ist eine grosse Herausforderung und bereits jetzt für die Versorgung eine Gefahr. Um sie abzuwenden, braucht es neue Ansätze, die echte Wertschätzung gegenüber dem Pflegepersonal zeigen und die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ernst nehmen. Natürlich ist die Dienstplanung anspruchsvoll, wenn Kleinstpensen berücksichtigt werden müssen.
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Doch Kinder werden grösser, die Chancen stehen gut, dass die Pflegefachfrauen ihre Pensen dann wieder erhöhen. Sie bleiben aktiv im Beruf – und loyal zum Betrieb – anstatt jahrelang zu pausieren oder möglicherweise nie mehr zurückzukommen. So verlieren sie den Anschluss an den sich rasant entwickelnden Beruf nicht. Und nicht zuletzt beweist der Betrieb, dass er seine Mitarbeitenden wirklich wertschätzt, anstatt von ihnen einseitig Loyalität einzufordern.
Die Pflegenden im Beruf zu halten, ist das Gebot der Stunde. Das gelingt mit Wertschätzung, mit attraktiven Arbeitsbedingungen, mit der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mit genügend Zeit für die Patient:innen und zur Erholung. Einseitig auf temporäre Mitarbeitende zu setzen, führt nicht zum Ziel, im Gegenteil.
Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift «Krankenpflege» des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner), Nr.09/2022. Herzlichen Dank an die Redaktion und die Autorin für die Gelegenheit der Zweitverwertung!
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