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Entlastungsanzeige

Wenn das Mass voll ist

Wenn Bewohner wegen Personalmangels in Gefahr kommen, kann dies für die Pflegenden sehr unangenehme Folgen haben. Adobe Stock

Wenn Pflegefachpersonen unter hohem Stress einen Fehler begehen, kann dies verheerende juristische Folgen haben. Damit sie in solchen Situationen nicht schutzlos dastehen, stellt ihnen der Schweizer Berufsverband SBK die sogenannte «Entlastungsanzeige» zur Verfügung.

Den meisten Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern ist ein Wesenszug gemeinsam: Sie machen es möglich. Egal wie hoch der Stresspegel, egal wie tief der Personalschlüssel, noch ein bisschen mehr geht immer. Das Fach «Neinsagen» haben sie in der Ausbildung offenbar geschwänzt, oder es wurde gar nicht angeboten.

Klingelt im Frei das Handy und wird Verstärkung für den Spätdienst gesucht? Klar, man richtet es irgendwie ein. Machen sich die ersten Anzeichen einer bösen Erkältung bemerkbar: Wenn ich mich krankmelde, müssen es die Patient:innen und die Kolleg:innen ausbaden.

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Ist der Arbeitsanfall einfach too much? Man verzichtet hier auf ein Patientengespräch, schiebt da den Gang aufs Klo hinaus, macht dort eine Stunde später Feierabend. Meist schwingt auch die Angst mit, andernfalls als unflexibel, wenig belastbar oder gar als für den Pflegeberuf ungeeignet (dis)qualifiziert zu werden.

Das Problem: So wird es sicher nie besser, und damit wird auf lange Sicht weder den Patient:innen noch der Pflege ein Dienst erwiesen. Das System verspürt keinerlei Reformdruck, denn es geht ja anscheinend irgendwie immer! 

Juristisch auf sehr dünnem Eis 

Mit ihrer im besten Fall gut gemeinten Bereitschaft, bis zur Selbstaufgabe zu arbeiten, bewegen sich die Pflegenden juristisch aber auf sehr dünnem Eis. Denn kommt es überlastungsbedingt zu einem fatalen Vorfall, sind es sie, die sich vor Gericht verantworten und möglicherweise auch noch mit einer Verwarnung oder Kündigung seitens des Arbeitgebers rechnen müssen. 

Der fatale Vorfall kann eine Komplikation aufgrund einer verspätet durchgeführten Überwachung sein, oder ein Patient, der aufs WC muss und stürzt, weil es der Pflege nicht möglich war, rechtzeitig auf die Klingel zu gehen.

Tragische Kettenreaktion 

Damit sie nicht ganz schutzlos dastehen, stellt ihnen der SBK die sogenannte «Entlastungsanzeige» zur Verfügung. Wie diese funktioniert, zeigt das folgende Beispiel:

Pflegefachfrau Rahel R. ist im Alters- und Pflegeheim «Tannen- blick» angestellt. Zu den Bewohner:innen zählt die schwer demente, motorisch stark beeinträchtigte Frau Sutter. Diese dürfte an sich 24/7 nicht aus den Augen gelassen werden.

Mangels genügend Personals ist dies aber schlicht unmöglich (so sind im Spätdienst für die auf vier Stockwerken verteilten 18 Bewohner:innen eine diplomierte Pflegefachperson und eine Hilfe, im Nachtdienst nur eine FaGe anwesend).

So kommt es in einem Spätdienst dazu, dass Rahel R. von ihrer Kollegin dringend um Unterstützung gebeten wird und Frau Sutter (laut Rekonstruktion der Ereignisse) genau zwei Minuten auf dem WC unbeaufsichtigt lässt.

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In dieser Zeitspanne schafft es Frau Sutter, alleine aufzustehen, humpelt aus dem Bad und stürzt im Treppenhaus zu Tode. In der Folge wird Rahel R. der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. 

«Entlastungsanzeige» als Schutz 

Mittels Entlastungsanzeige kann eine Pflegefachperson (oder noch besser: ein ganzes Team) schwarz auf weiss erklären, dass, inwiefern und warum es, z.B. aufgrund Personalmangels, die Patientensicherheit nicht gewährleisten kann. Die Anzeige wird sodann auf den Dienstweg «nach oben» geschickt. 

Kommt es zu einem Vorfall und zu einem Strafprozess, bewahrt die Anzeige die Pflegenden als Urheber des fraglichen Pflegefehlers nicht vor Bestrafung. Aber erstens wird das Gericht aufgrund der Umstände das Strafmass reduzieren, aus der Erkenntnis, dass sich der Fehler aus einer «von oben» auferlegten Notlage erklären lässt (es ist fraglich, ob sich der Arbeitgeber nicht sogar der Nötigung nach Art. 181 StGB schuldig macht).

Zweitens rückt die Entlastungsanzeige die für diese Umstände eigentlich Verantwortlichen in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. Sie lässt nicht zu, dass die Verantwortung, wie so oft üblich, ungestraft nach unten delegiert wird, nach dem Motto: Sollen die Hunde die Letzten beissen! 

Die Entlastungsanzeige wirkt wie ein Warnruf an die Verantwortlichen und Vorgesetzten. Übrigens: Bisher konnten bei jedem Einsatz nun doch andere Lösungen gefunden und die Situation entschärft werden – «irgendwie geht es doch» funktioniert nämlich auch in die umgekehrte Richtung! 

Falls Sie den Einsatz einer Entlastungsanzeige in Erwägung ziehen, raten wir Ihnen dringend, sich die Unterstützung der – für SBK-Mitglieder unentgeltlichen – Rechtsberatung Ihrer Sektion zu sichern. Allenfalls kann schon eine vorgängige Intervention des SBK beim Arbeitgeber eine Lösung erwirken.


Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift «Krankenpflege» des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner), Nr.12/2019. Herzlichen Dank an die Redaktion und den Autoren für die Gelegenheit der Zweitverwertung!