alzheimer.ch: Wie haben Sie die letzten 18 Monate erlebt, beziehungsweise überstanden?
Jürg Acklin: Ich hatte keine Probleme. Ich las noch mehr als vorher – auf der Terrasse meines Hauses, was ich auch sonst mache. Aber am Anfang war ich verunsichert. Von dem Moment an, als meine Frau und ich uns impfen lassen konnten, trat eine grosse Beruhigung ein.
Wie hielten Sie sich sonst noch bei Laune?
Ich habe einen sehr lebendigen 17-jährigen Sohn, wir hatten viele Diskussionen. Meiner 2-jährigen Enkelin las ich über FaceTime Geschichten vor. Es war wunderbar, dass ich mit ihr auf diese Weise in Kontakt bleiben konnte. Ich traf auch Freunde – auf Distanz auf meiner Terrasse.
Welche Bücher haben Sie gelesen?
Ich bin fast süchtig geworden nach den Maigret-Romanen von Georges Simenon. Ich las auch den Philosophen Michel de Montaigne – seine unglaublich modernen Essays, in denen er die wesentlichen Fragen zeitlos und ohne Ideologie beantwortete.
Ich fand es sehr schön, immer wieder etwas aus meiner Bibliothek zu holen, die Musse zu haben, in aller Ruhe zu schauen. Und mich zu fragen: Sagt es mir noch etwas? Die Pandemie wirft uns zurück auf das Existenzielle, die Attitüde geht zurück.
Ich liess den ganzen Bildungsdünkel hinter mir.
Sie sagten, dass Sie die Berührungen nicht so sehr vermissten, weil Sie die Nähe zu anderen Menschen auch ohne sie spüren würden…
Meine Tochter sagte: «Du umarmst mich auch sonst nicht so wahnsinnig». Bei mir ist der emotionale Austausch auch durch die Maske möglich. Ich hatte mit meinem einjährigen Enkel sehr emotionale Kontakte über die Augen. Ich war erstaunt, was möglich ist.
Jürg Acklin
Der Psychoanalytiker, Schriftsteller und Sozialwissenschaftler Jürg Acklin (76) lebt in Küsnacht und arbeitet in Zürich. In seinem Roman «Der Vater» (1998) trägt der Sohn seinen Vater auf dem Rücken auf einen Hügel. Im Kopf des Sohnes spult sich ein Film ab, der ihn zurückbringt in die Kindheit.
Gaben Sie während des Lockdowns Telefonberatungen?
Ja, weil ich die Praxis schliessen musste. Ich konnte sie dann wieder öffnen, das war wichtig in dieser Zeit. Ich wollte den Menschen wieder gegenüber sitzen. Auch sonst sprach ich mit vielen Leuten.
Wo drückte der Schuh?
In meiner eigenen Praxis war ich sehr überrascht, wie gut und gelassen es die Menschen meisterten. Sie setzten sich vernünftig damit auseinander und konnten über ihre Ängste reden, ohne dass die Angst überhand bekommen hätte.
Jürg Acklin über den Austausch mit Corona-Leugnern und Impfskeptikern
Sie sind ein resilienter Mensch und haben das Grundvertrauen. Viele Menschen haben das nur in beschränkter Form oder gar nicht. Wie kann man Resilienz und Vertrauen aufbauen?
Ich hatte Menschen in langjährigen Therapien, die es sich im geduldigen Dialog erarbeiten konnten. Dabei sind Sie sind mit sich selber in ein anderes Zwiegespräch gekommen. Sie kamen am Schluss zu einer versöhnlichen Erinnerungsgeschichte, und das gab ihnen einen besseren Boden. Sie konnten die Schmerzen nicht einfach wegblasen, sondern setzten sich mit ihnen auseinander und ordneten sie neu.
Stabilität, Sicherheit und Planbarkeit gingen verloren. Viele Menschen litten oder leiden noch heute unter emotionalen Verstimmungen. Was macht diese Pandemie mit uns?
Man konnte lesen, dass mehr Menschen mit Depressionen zu kämpfen hatten. Aber man darf nicht vergessen: Das ist die Rezeption der Medien. Sie sollen auf der einen Seite informieren, auf der anderen Seite brauchen sie Klicks.
Den Klick bekommen sie eher, wenn sie schreiben, es gehe den Leuten nicht gut. Das hat sich verselbstständigt. Auch mich haben die schlechten Nachrichten verunsichert. Wir haben viele Möglichkeiten, damit fertig zu werden. Wir können archaische Abwehrmechanismen hervorholen wie zum Beispiel magisches Denken.
Dieses Denken führt zu Gräben. Sie gehen quer durch die Gesellschaft, auch durch Freundschaften und Familien. Es geht um Verschwörungen, Verharmlosung und Impfskepsis. Was ist passiert?
Das ist eigenartig. Wenn wir nach Amerika schauen, haben wir den Eindruck, wir fallen zurück in die Zeit vor der Aufklärung. Man löste sich damals von selbstgewählter Unmündigkeit und Verschwörungstheorien. Ich biete das Gespräch immer an und bin offen. Aber wenn es völlig irrational wird, schalte ich um auf den inneren Therapeuten.
Ich bin erstaunt, mit welcher Sturheit die Menschen solche Theorien vertreten.
Diese Leute haben irrsinnige Ängste, sie können keinen vernünftigen Umgang damit finden und kommen in die Magie. Sie suchen sich einen Gegner und beruhigen sich damit: Wenn Bill Gates nicht da wäre, dann gäbe es keine Pandemie. Es ist eine unsinnige Art, die Angst zu reduzieren. Es ist, wie wenn man den Kopf in den Sand steckt und denkt, es passiere dann nichts mehr.
Sie sagten in einem anderen Zusammenhang: «Wir ertragen unsere eigene Widersprüchlichkeit nicht mehr.» Auch in der Pandemie zeigt sich, dass Menschen widersprüchliche Wesen sind.
Ich sehe mich selber als sehr widersprüchliches Wesen. Ich finde es nicht toll, eine Maske tragen zu müssen. Gleichzeitig sagt die Vernunft: Es ist nötig! Man muss sich seiner eigenen Widersprüchlichkeit bewusst sein. Wenn ich Auto fahre, regen mich die Velofahrer auf. Wenn ich Velo fahre, regen mich die Autofahrer auf. Ich muss das Bewusstsein für beide haben. So kann man mit sich und anders denkenden Menschen ins Gespräch kommen.