alzheimer.ch: Frau Kinnert, Einsamkeit ist so etwas wie eine neue Pandemie geworden. Wie kommen Sie dazu, sich für das Thema zu engagieren?
Diana Kinnert: Ich habe vor einigen Jahren die britische Regierung bei der Einrichtung eines Anti-Einsamkeitsministeriums beraten. Dabei ist mir klar geworden, welche Tragweite das Thema für unsere Gesellschaft hat und dass es vor allem auch hochaltrige Menschen betrifft. Viele Alte empfinden, sie würden unsichtbar gemacht, nur noch mit Krankheit und Betreuung assoziiert, jeder sehe in ihnen nur noch eine Belastung.
Sie verwenden in Ihrem Buch das Wort «Daseinsscham».
Unsere industriell geprägte Gesellschaft ist stark von dem Gedanken geprägt, dass nur der Erwerbsfähige etwas wert sei. In dieser Vorstellung gelten Alte als Nutzniesser und Versager. Das gipfelt dann in Sätzen wie: Warum sollen wir als Gesellschaft überhaupt noch das neue Hüftgelenk für einen alten Menschen bezahlen?
Diana Kinnert
Diana Kinnert, 1991 in Wuppertal geboren, ist Buchautorin, Unternehmerin und Politikerin. Die studierte Politologin gehörte zur Reformkommission der CDU, die die Partei für junge Leute attraktiver machen sollte. Kinnert, die offen lesbisch ist, kämpft für die Gleichstellung von Minderheiten. Ihr Buch «Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können» ist vor Kurzem bei Hoffmann und Campe erschienen (448 Seiten). Die Autorin lebt in Berlin.
Etwas überspitzt formuliert …
Das stimmt. Aber Alter ist bei uns immer noch stigmatisiert: Wenn Parfümerie-Firmen von Anti-Aging-Produkten sprechen, entsteht der Eindruck, dass man das Alter bekämpfen muss. Dabei kann diese Phase durchaus schön sein und mit Genuss, Gelassenheit, Erfahrung zu tun haben.
Es braucht ein kulturelles Umdenken. Wir müssen älteren Menschen eine neue Rolle zuschreiben, die sie selbstbestimmt in der Gesellschaft einnehmen können.
Wie lässt sich das konkret umsetzen?
Viele Senioren sind bereits in Ehrenämter eingebunden. Wenn diese Leistungen alle wegfielen, würde unsere Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Darüber hinaus müsste es mehr halb-ehrenamtliche Tätigkeiten geben, die vom Staat mitbezahlt werden. Ich finde die drastische Trennung von Lohnarbeit und kompletter Arbeitslosigkeit mit Beginn der Rente nicht zeitgemäss.
Alle müssen mitziehen, der Staat, Versicherungen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer. Da ist noch ganz viel Potenzial für vergütetes Ehrenamt, einen flexiblen Renteneintritt, sowie eine altersgerechte Arbeit, die Spass macht, Identität stiftet und das Miteinander fördert.
In vielen Familien haben die alten Menschen Aufgaben, sie kümmern sich beispielsweise um die Enkel.
Das sollte aber nicht darauf hinauslaufen, dass die Einbindung künstlich inszeniert wird. Ich habe mit alten Leuten gesprochen, die sagen: Meine Kinder denken, sie müssten sich um mich kümmern, und deshalb geben sie mir bestimmte Aufgaben, zum Beispiel einmal in der Woche die Blumen bei ihnen zu giessen.
Viele Alte empfinden das als Nonsense-Hilfe. Die Aufgabe muss natürlich sein, eine Funktion erfüllen. Ansonsten schwindet das Belastungsgefühl nicht.
Zitate aus dem Buch:
… immer mehr ,Verlaufsbeobachtungen’ legen nahe, dass alte Menschen schneller dement werden und generell geistig abbauen, je weniger soziale Kontakte sie haben und je einsamer sie sich fühlen.
Ärzte berichten davon, dass immer mehr Senioren sich mit akuten Beschwerden melden und einen schnellen Termin wünschen. Sie kommen in die Praxen, klaglos bereit, zwei, drei oder mehr Stunden im Wartezimmer zu sitzen. Einmal im Sprechzimmer beim Arzt, sind die Beschwerden auf einmal ,halb so schlimm’… Grund: Die älteren Damen und Herren suchten einfach nur Gesellschaft.
Was lässt sich noch auf politischer Ebene tun?
Es braucht eine konkrete Zuständigkeit, das kann ein Ministerium sein wie in England oder Japan oder sonst auch eine*n Beauftragte*n für das Thema. Alle Parteien sollten sich darum kümmern, Einsamkeit und Isolation auch in ihre Wahlprogramme aufnehmen.
Alte Menschen sind keine «digital natives» und von den sozialen Medien häufig abgekoppelt. Was lässt sich dagegen tun?
Zunächst einmal muss in den Heimen eine digitale Infrastruktur vorhanden sein. Dann sollte es mehr Lernangebote für die Älteren geben, damit sie sich im Netz zurecht finden können. Mein Vater ist Anfang 60, also noch lange nicht hochbetagt. Er meint, er könne nicht allein fliegen, weil er nicht weiss, wie er online einchecken soll.
Durch Corona hat sich die Einsamkeit vieler Senioren noch einmal verschärft. Es gibt eine Reihe von Telefon-Hotlines für Menschen, die sich allein fühlen, zum Beispiel Silbernetz. Mitarbeiter sagen, dass die Anrufer jetzt offener über das Thema sprechen. Ist das Thema Einsamkeit heutzutage ein Stück weit enttabuisiert?
Ich denke schon. In der Corona-Zeit war die Isolation sozusagen unverschuldet, die Betroffenen konnten sie an der Pandemie festmachen. Dadurch empfanden sie auch weniger Scham, darüber zu sprechen.
Hat der gesellschaftliche Zusammenhalt unter Corona gelitten oder ist er sogar besser geworden, was die alten Menschen angeht? Am Anfang gab es viel Solidarität, mit Einkaufshilfen etc. Später hat der Zuspruch etwas abgenommen, die Alten wurden sogar diffamiert mit Sprüchen wie: «Was trauen die sich überhaupt in den Supermarkt, sollen sie doch zu Hause bleiben!»
Ich bin skeptisch bei Sätzen wie Wir sind gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Dennoch ist es sicher so, dass der Blick jetzt geschärft ist, was die Einsamkeit der alten und hochaltrigen Menschen angeht.
Durch Corona sind viele alte Leute einsam gestorben, die Angehörigen durften nicht bei ihnen sein. Das war für die betroffenen Familien traumatisch.
Gleichzeitig gibt es auch eine starke Polarisierung: Bei Kindern und Jugendlichen steigt die depressive Symptomatik, ein Fünftel von ihnen neigt zu selbstverletzendem Verhalten. Für sie sind Schulen und Universitäten noch lange verschlossen geblieben, während manche Senioren-Gruppen schon wieder im Mallorca-Urlaub waren. Das ist als Ungerechtigkeit empfunden worden. Aber diese Zuspitzungen helfen nicht weiter.
Wie kann der Austausch zwischen jungen und alten Menschen besser funktionieren, damit es mehr gegenseitiges Verständnis gibt?
Es gibt viele Möglichkeiten. Schön fände ich, wenn zunehmend Altersheime und Kitas gemeinsame Projekte umsetzen würden. Ältere könnten vermehrt Nachhilfe bei Schülern anbieten. Oder Senioren, die genug Platz bei sich zu Hause haben, könnten Studenten bei sich aufnehmen, das ist dann wie eine WG; die Studenten zahlen weniger Miete, müssen aber feste Aufgaben im Haushalt übernehmen.