Was wir aus der universalen und auch kulturvergleichenden Forschung wissen, indiziert grosse Unterschiede und auch Wandlungen in der Thematisierung von Endlichkeit, Sterben und Tod in der Existenzbewältigung der Menschen. Leicht getan haben sich die Menschen damit wohl nie.
In unserer heutigen Gesellschaft hat das mögliche lange Alter die Situation verschoben und die Abwesenheit von unmittelbar erfahrbaren Kriegen (wie die im 20. Jahrhundert) verschiebt die Auseinandersetzung «nach hinten». Auch von grösseren Naturkatastrophen bleibt die westeuropäische Region weitgehend verschont (was der Klimawandel hier bewirken wird, können wir heute mit Evidenz durchaus imaginieren).
So fehlen uns seit Jahrzehnten die Erfahrungselemente von Krieg auf eigenem Boden sowie das Trauma der Flucht. Vielleicht können wir uns deshalb so schwer in die Lage der Menschen versetzen, die Asyl suchen. Unsere Empathie fokussierte sich in den letzten Jahrzehnten auf andere Daseinsthemen im wohlfahrtsstaatlich mehr oder weniger effektiv regulierten Kapitalismus.
Nur die ganz alten Menschen erinnern sich an die Flucht und Vertreibung während des 2. Weltkrieges, an die Wohnungsnot und den Hunger der Nachkriegszeit.
Tiefe Verstrickung in komplexe Verkettungen
Corona hat die globalisierte Welt sich nunmehr als Dorf erfahren lassen. Der Mensch erfährt seine tiefe Verstrickung in komplexe Verkettungen zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen Mensch und Natur, erfährt sich selbst in seiner Biologie als Teil des grossen Naturzusammenhangs.
In seinem cartesianischen Wahn der prometheischen Hybris gefangen, wird er in seinem Mythos der Autonomie des souveränen Subjekts kastriert. Er erfährt seine Bedingtheit, er ahnt die radikale Kontingenz seiner Existenz, muss demütig sein.
Über den Autor
Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt hat die Professur für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (ISS) inne und ist geschäftsführender Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln. Ausserdem ist er Honorarprofessor für Sozialökonomie der Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Prof. Schulz-Nieswandt ist federführender Herausgeber von ProAlter. Kontakt: schulz-nieswandt@wiso.uni-koeln.de
Der Mensch realisiert das Eingestelltsein im Evolutionszusammenhang (zu dem immer schon auch das Virus gehört) und erlebt sich als abhängig in seinem Geworfensein in den grossen Daseinszusammenhang zwischen Kultur und Natur.
Natürlich hat er als homo faber kreative Freiheitsgrade der Reaktion auf alle Entwicklungsaufgaben: Forschung und Medizin in Verbindung mit kommunikativem Krisenmanagement und rechtlichen Regulierungsregimen etc.
Er erkennt die Kraft der Solidarordnung der Rücksichtnahme und bemüht sich in der liberalen Demokratie um die affektregulative Zivilisationsleistung der Verhältnismässigkeit temporärer Grundrechtseinschränkungen.
Dass sogar ein Teil der jungen Bildungselite in ihrer charakterneurotischen Party-Gier Probleme mit Triebaufschub hat, sagt viel über die Lücken in der Erziehung zur Tugend. Zugleich zeigt sich aus Sicht kritischer Theorie erneut die Bedeutung der psychoanalytischen Kulturdiagnostik:
Das neue Bündnis von Solidaritätsverweigerern, der extremistischen neuen Rechten und Verschwörungstheoretikern verweist auf eine Sozialpathologie des Denkens und Wahrnehmens.
Es lässt uns an Theodor W. Adorno erinnern, der fragte, wie in dieser unwahren Welt eine Gestaltwahrheit des Menschen, in dessen Entfremdung sich die grosse Lüge des glücksbringenden Kapitalismus (heute als digitaler Turbo eines ästhetischen Kapitalismus) tief in Geist, Seele und Körper wie ein religiöser Geist einschreibt, denn möglich sein soll.
Corona generiert eine kollektive Chance der Selbsterkenntnis
Doch in der Mehrheit erleben wir nicht nur die daseinsthematische Kraft der Solidarität für den Mitmenschen. In der Corona-Krise spüren wir mit Blick auf den Zwischenraum sozialer Beziehungen, auf die Begegnung, die Berührung, der Anrufung durch den Mitmenschen, wie bedürftig wir selbst sind.
Erneut wird erfahrbar, dass das Leben ein Nehmen und Geben in der Balance zwischen Nähe und Distanz, Offenheit und Verschlossenheit ist.
Wir erfahren die Bedeutung von Familie (wenn sie denn menschlich, also gewaltfrei gelingt), von sozialen Netzen der Freundschaft und sorgender Nachbarschaft. Tabuiert oder gar verdrängt haben wir den Tod auch vor Corona nicht. Ich halte diese kulturkritische Selbstdiagnose für falsch.
Der Tod war jedoch nicht mehr entlang der ganzen Lebensspanne im lebensweltlichen Nahraum allgegenwärtig. Wir sehen den Tod in den Massenmedien als ein Geschehen in anderen Weltregionen. Bei uns wird er kontrolliert konsumiert in Kriminalstorys und Science-Fiction-Werken.
Achtsam reflektierte Kultur des Sterbens
Das sehr hohe Alter wirft dann allerdings zivilisationsgeschichtlich neuartige kulturelle (die Art und Weise der sozialen Gestaltung betreffende) Fragen nach dem Sterben, insbesondere nach dem letzten Jahr auf. Wenn Kinder sterben, ist alles nochmal ein völlig anderes Thema.
Dennoch stehen wir heute kollektiv vor einer Entwicklungsaufgabe: Drängend ist die Frage nach einer neuen, achtsam reflektierten Kultur des eben nicht im Anti-Aging-Wahn elimierbaren Faktums des Sterbens. Es zeigt sich aber auch, dass alles seine Zeit braucht. Kulturwandel ist kein technisches Change-Management (Lichtschalter an/aus).
Soziale Verantwortung ist gefragt: Einsames Sterben ist nicht selten. Caring Communities sind auch hier gefragt. Personale Selbstverantwortung ist eine Aufgabe: Sterben können (akzeptieren) lernen.
Wie das Leben, so ist auch der Tod eine Frage des authentischen souveränen Selbstseins im gelingenden sozialen Miteinander.