Was Menschen mit Demenz vor ihrer Erkrankung erlebt haben, muss bei der täglichen Pflege nicht immer von Belang sein – vor allem, wenn die Erlebnisse aus zweiter oder dritter Hand geschildert wurden.
Dennoch ist es von Vorteil, wenn wir wissen, was die uns anvertrauten Menschen geprägt hat und in welchem Umfeld sie früher gelebt haben. Historiker aus der Schweiz, Österreich und Deutschland zeigen in ihren Texten auf, wie es sich in diesen Ländern zwischen 1940 und 1975 gelebt hat, was die Menschen beschäftigte und welche gesellschaftlichen Regeln und Werte sie geprägt haben.
Über die Bedeutung der Biografie in der täglichen Betreuung von Menschen mit Demenz gibt es unterschiedliche Ansichten. Während die einen Fachleute die Vergangenheit stark in den Alltag einfliessen lassen, lehnen dies andere Fachleute ab und sagen, das Hier und Jetzt sei entscheidend.
1. Arbeitsprägung im Zweiten Weltkrieg
Generell: Diese Jahre sind tief ins Gedächtnis eingebrannt. Die hier geschilderten Prägungen gelten ausschliesslich für die Schweiz. Wer den Krieg in einem kriegführenden Land erlebt hat, ist grundsätzlich anders geprägt worden.
Männer und Frauen arbeiten getrennt, in zwei verschiedenen Welten, und machen sehr verschiedene Arbeitserfahrungen. Wichtige, emotional beladene Begriffe waren: Generalmobilmachung, Réduit, Gotthard, General Guisan.
Die jungen Männer sind praktisch alle im Aktivdienst. Ihre «Arbeit» besteht in der Schweiz darin, die Grenzen zu bewachen, jederzeit bereit zu sein zur Verteidigung – aber sie kommen nie zum Kriegseinsatz. Dies wird häufig sehr ambivalent erlebt.
Je nach Kriegslage können sie manchmal auch einige Zeit in den Beruf zurück, aber das Militär hat Priorität. Berufliche Weiterbildungen usw. sind nicht möglich. Einige nehmen die Chance wahr, im Militär eine Karriere einzuschlagen und werden Offiziere. Die Führungsmaximen KKK (Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren) sind weit verbreitet.
Die jungen Frauen haben, je nach dem, welcher Gesellschaftsschicht sie entstammen, verschiedene Arbeitsprägungen. Frauen in Arbeitsgemeinschaften erleben häufig Drei- und Vierfachbelastungen. Junge Frauen aus dem Mittelstand haben Chancen, als «Lückenspringerinnen» die Männer zu ersetzen und gute Stellen auszufüllen, zum Beispiel als Lehrerinnen, in der Buchhaltung usw., auch der Einsatz im Zivilschutz wird häufig positiv erlebt.
Junge Frauen, die nicht unbedingt verdienen müssen, gehen oft in den Militärischen Frauenhilfsdienst (FHD). Im Lauf des Krieges arbeiten sie nicht nur im Büro und als Hilfen für die Männer, sondern dürfen (als Höhepunkt) Auto und Lastwagen fahren lernen, oder sogar Autos reparieren. Viele dieser Frauen haben sehr positive Erinnerungen an die Kriegszeit.
Prägung durch das Zusammenleben
Generell: Junge Männer und Frauen leben getrennt. Die ältere Generation erinnert sich noch an die gleichen Umstände während des Ersten Weltkriegs, für die Jungen ist dies neu und einmalig. Neue Erlebniswelten wirken häufig positiv, doch herrschen auch Angst, Sorge und Heimweh bei Frauen wie bei Männern, und darüber hinaus eine existenzielle Unsicherheit, ob man sich überhaupt je wieder sehe, wie der Krieg wohl ausgehen werde, usw. Prägende Begriffe: Plan Wahlen, Anbauschlacht, Rationierung, Notvorräte.
Die jungen Männer leben dicht an dicht mit ihresgleichen. Viele vergessen das Erlebnis der Kameradschaft ihr Leben lang nicht mehr: Junge Männer aus allen Schichten und Landesgegenden, die sich sonst nie kennengelernt hätten, sind in einer unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweisst.
Die Serviertochter als Gemeinschaftserlebnis: Fantasien zum Thema Frauen, Freizeit, Erotik oder Sexualität konzentrieren sich auf diese Frauen. Der äusserst populäre Film von Franz Schnyder «Gilberte de Courgenay» nimmt dies auf. Die Serviertochter Gilberte im jurassischen Dörfchen Courgenay steht ein für die geistige und militärische Landesverteidigung; sie stellt während des Krieges eine wichtige Identifikationsfigur dar.
Eine wichtige Frauenfigur ist auch die Soldatenmutter. Das sind (häufig auch ledige) Frauen, die im Auftrag von Frauenvereinen alkoholfreie Baracken führen, wo die Soldaten ohne Konsumationszwang ihre Freizeit verbringen können. Die Soldatenmutter kümmert sich um die jungen Männer, näht Knöpfe an, hört Sorgen und Kümmernisse ab.
Die jungen Frauen erleben ihren Beziehungsalltag zumeist im gewohnten familiären Rahmen. Es gibt traditionelle Zusammenschlüsse zwischen Verwandten – zum Beispiel kommt die Mutter zur Tochter und führt ihr den Haushalt, damit diese einem Gelderwerb nachgehen kann, oder die verwandten Frauen führen zusammen den Bauernhof.
Junge Verheiratete werden während der Kriegszeit schwanger, weil die Soldaten auf Urlaub dürfen; das sind die sogenannten «Urlauberli».
Die Begegnung mit dem Fremden: Internierte Soldaten, hauptsächlich solche aus Polen, werden zu Arbeitseinsätzen in Bauern- und Gewerbebetriebe geschickt. Diese jungen fremden Männer sind ähnliche Fantasieträger wie die Serviertöchter für die Soldaten. Es gibt in einzelnen Fällen auch Liebesbeziehungen («Polenkinder») und nach dem Krieg auch Ehen zwischen Schweizerinnen und Polen.
Prägungen durch nationale Ideologien
Generell: Die Armee gilt als Garantin der Neutralität und der Freiheit der Schweiz mit General Guisan als Identifikationsfigur. Schon während der 30er-Jahre intensiviert der Bundesrat die sogenannte «geistige Landesverteidigung» als Verankerung der Abwehr von Nazi-Ideologien und Nazideutschland.
Man darf nicht vergessen, dass bis 1941 eine Eroberung der Schweiz durch Nazideutschland wahrscheinlich erschien. Erst ab 1942 zeichnete sich ab (Russlandfeldzug, Eintritt der USA in den Krieg), dass die Alliierten gewinnen würden.