Ungleiche Chancen auf ein gutes Leben im Alter

Glück im Alter

Ungleiche Chancen auf ein gutes Leben im Alter

Familie mit mehreren Generationen.

Wenn eine unterstützende Familie da ist, lebt es sich im Alter besser. Bild Michael Hagedorn

Ohne betreuende Angehörige sinkt die Lebensqualität im Alter. Auch Geld, Bildung und Kultur haben einen Einfluss auf einen guten Lebensabend. Dies ergab eine von der Paul Schiller Stiftung unterstützte Studie.

Von Fachhochschule Nordwestschweiz und Martin Mühlegg

Den größten Teil der Betreuung von alten Menschen leisten in der Schweiz die Angehörigen. Wie steht es um die Lebensqualität von älteren Menschen, wenn sie alleinstehend sind und keine Unterstützung von der Familie erhalten? Vermögen die bestehenden Angebote die Lücken zu füllen? Die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) führte dazu eine Studie durch, die von der Paul Schiller Stiftung und sieben weiteren Organisationen finanziell unterstützt wurde. Damit liegen erstmals detaillierte Einblicke in die Lebensrealitäten von älteren Menschen ohne betreuende Angehörige vor.

8 Prozent der über 65-Jährigen – insgesamt rund 142’000 Menschen – werden in der Schweiz ohne Angehörige alt. Weil die Familien künftig kleiner und tendenziell mehr über die Kontinente und den Globus verteilt sein werden, ist damit zu rechnen, dass es in den nächsten Jahren noch mehr sein werden. Frauen werden besonders häufig ohne betreuende Familienmitglieder alt. Die Erkenntnisse der Studie lassen sich in acht Punkten bündeln:

  1. Individuelle Vorstellungen von Lebensqualität: Ältere Menschen ohne betreuende Angehörige haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, ob sie ein gutes Leben führen und was es braucht, um die Lebensqualität zu verbessern. Trotzdem ergab die Studie drei Bereiche, die für alle Befragten von grosser Bedeutung sind: Gesundheit, finanzielle Sicherheit und Autonomie.
  2. Alleinsein muss kein Unglück sein: Die einen sind gerne allein, während sich andere einsam fühlen und mehr soziale Beziehungen wünschen. Wer erst im Alter vereinsamt ist, hat mit diesem Zustand mehr Mühe als jene, die schon früher viel allein waren. Die befragten älteren Menschen suchen auf sehr verschiedene Weise nach sozialer Einbindung und Sinnstiftung.
  3. Viele sind schlecht informiert: Die Interviewten sind nicht gut informiert über die Alters- und Sozialangebote an ihrem Wohnort. Die Angebote in Grossstädten werden tendenziell als unübersichtlich eingeschätzt. In kleineren Gemeinden ist es einfacher, die Menschen zu erreichen und zu informieren.
  4. Betreuung ist Nebensache: Im Vergleich zu Hilfeleistungen und Pflege wird die Betreuung als nebensächlich wahrgenommen. Die erhaltene Unterstützung entspricht nicht immer den psychosozialen Bedürfnissen der älteren Menschen. Für viele von ihnen kommt Unterstützung nur im äussersten Notfall infrage. Bei zu viel Unterstützung befürchten sie einen Verlust von Autonomie.
  5. Andere springen ein: Wenn keine familiäre Unterstützung da ist, springen Freund:innen, Bekannte, Nachbarn oder auch vertrautes Personal (Läden, Apotheke, Post usw.) ein. Diese Personen können auch erkennen, wenn es mehr Unterstützung braucht und bieten dazu ihre Hilfe an.
  6. Für die eigene Situation verantwortlich: Die Eigenverantwortung ist ein wichtiges Handelsprinzip für ältere Menschen ohne betreuende Angehörige. Die meisten von ihnen kümmern sich aktiv um eine Tagestruktur und das geistige, körperliche und psychische Wohlbefinden. Dass eine Betreuung durch dritte auch einen Beitrag dazu leisten könnte, wird von ihnen nur selten so betrachtet. Trotzdem halten einige der Befragten das bestehende »System« als ungerecht – besonders bei der finanziellen Tragbarkeit von Betreuung.
  7. Ängste vor Krankheit und Verlust der Autonomie: Die Mehrheit der älteren Menschen gibt an, keine Pläne mehr zu haben. Dies kommt daher, dass sie zufrieden sind mit dem, was sie haben – oder sie haben gelernt, sich damit zufriedenzugeben. Dennoch gibt es Ängste vor gesundheitlichen Einschränkungen und dem damit verbundenen Verlust der Autonomie. Der Wunsch, im eigenen Zuhause bleiben zu können, ist gross. Die Frage, wem sie sich für wichtige Angelegenheiten anvertrauen können, ist nicht einfach zu beantworten.
  8. Wunsch nach Verbesserung der Lebensqualität: Unter einer besseren Lebensqualität verstehen die meisten befragten älteren Menschen ein erhöhtes Sicherheitsgefühl, weniger Einsamkeit, mehr Autonomie und Integration.

Dialog stärken für gute betreuung im alter

Die Paul Schiller Stiftung will dazu beitragen, gemeinnützige Werke aller Art zu schaffen, zu betreiben oder zu fördern. Sie setzt sich unter anderem für eine qualitätsvolle und bezahlbare Betreuung von älteren Menschen in der Schweiz ein. Auf der Website www.gutaltern.ch berichtet die Stiftung über Grundlagen, Politik, Publikationen, Veranstaltungen und aktuelle Entwicklungen im Bereich Alter.

> Hier kannst du die Kurzfassung der Studie gratis herunterladen

Empfehlungen für ein gutes Leben im Alter

Bei der Auswertung der Studie hat sich gezeigt, dass zwei Verlaufsmodelle wünschenswert sind: die Bewahrung zufriedenstellender Situationen und die Verbesserung weniger zufriedenstellender Situationen. Die Wünsche und Bedürfnisse von älteren Menschen ohne betreuende Angehörige variieren stark. Trotzdem zeigen sich Bereiche, die für diese Menschen relevant sind und in denen Handlungsbedarf besteht:

Prävention

  • Information
  • Regelmässige Abklärung der Situation
  • Schaffung von Bewusstsein über Unterstützungsmöglichkeiten und Ansprechpartner:innen
  • Angemessene Kommunikation durch die Akteur:innen der Altersarbeit, um die Angst vor dem Verlust der Autonomie zu verringern
  • Aufsuchende soziale Arbeit (alle alte Menschen werden regelmässig von Akteur:innen der Altersarbeit besucht und befragt)
  • Zusammenarbeit in den verschiedenen Unterstützungsbereichen (Hilfe, Betreuung, Pflege)
  • Bessere Koordination und Weitervermittlung innerhalb der Altersarbeit

Das Recht auf Betreuung im Alter

Im Gegensatz zum Recht auf Hilfe und Pflege gibt es gegenwärtig kein Anrecht auf Betreuung, auch wenn ein ausgewiesenes Bedürfnis danach besteht. Die Verfasser der Studie fordern deshalb, dass alle älteren Personen unabhängig von der Wohnform und den finanziellen Möglichkeiten ihren Bedürfnissen gemäss betreut werden können. So könnten auch Angehörige entlastet und mehr Gerechtigkeit im Alter geschaffen werden.

Ein weiteres Anliegen der Verfasser: Ältere Menschen sollen selbstbestimmt und partizipativ mitentscheiden, wann und in welcher Form sie Betreuungsangebote in Anspruch nehmen. Ein regelmässiges Reporting soll helfen, die Angebote für ältere Menschen den Bedürfnissen gerecht zu gestalten.

Die Frage ist, was gebraucht wird – und nicht, was gemacht werden kann

Frau berät zwei ältere Menschen zu ihren Bedürfnissen.

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Den Gesundheitsbegriff erweitern

Unter dem Begriff Gesundheit versteht man heute vor allem die körperliche Dimension. Der Begriff soll um die psychosoziale Dimension erweitert werden. Damit könnten auch die bisher getrennten Politikbereiche Gesundheit und Soziales zusammenrücken. Nur so, schreiben die Verfasser, können mehr sektorübergreifende Massnahmen, die Betreuungsleistungen oft auszeichnen, gestaltet werden. Zudem sollen lokale und selbstorganisierte Caring Communities gefördert werden. Diese könnten als Schnittstelle dienen zwischen älteren Menschen und den Organisationen mit ihren Angeboten.