Jeder vierte Bürger über 80 Jahre und fast jeder zweite über 90 Jahre lebt mit der Diagnose Demenz. Sie betrifft nicht nur die erkrankten Personen, sondern in ganz besonderer Weise auch deren persönliche Umgebung: Familie, Angehörige und Pflegende.
Trotz der massiven Betroffenheit schwankt der gesellschaftliche Umgang mit Demenz zwischen Verdrängung und Tabuisierung auf der einen Seite sowie der Schaffung isolierter Vorzeigemodelle ohne Flächenwirkung und gut gemeintem, aber wenig wirksamen Lob für die Angehörigen auf der anderen Seite. Beides hilft uns nicht weiter.
Was aber muss tatsächlich geschehen? Welche Konsequenzen sind im täglichen Umgang mit demenziellen Erkrankungen gefordert? Woran verzweifeln Betroffene und Angehörige in der Praxis? Welche Angebote brauchen sie?
Warum ist das österreichische Pflegegeldsystem dringend neu auszurichten – nicht nur, aber auch in Anbetracht der Demenz?
Wie steht es mit der Umsetzung der «Österreichischen Demenzstrategie»? Und was muss der «Masterplan Pflege» für Demenzkranke und deren Angehörige leisten?
Rund 130’000 Österreicher:innen leben derzeit mit demenziellen Beeinträchtigungen. Gesellschaft und Gesundheitssystem müssen sich aber schon jetzt darauf einstellen, dass sich diese Zahlen deutlich erhöhen werden, denn: Der wichtigste Risikofaktor ist die steigende Lebenserwartung. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl der Menschen mit Demenz etwa verdoppeln.
Mitten in der Gesellschaft – und doch aussen vor
Führt man sich die Anzahl der Menschen mit Demenz vor Augen und rechnet ihre unmittelbaren Angehörigen dazu, müssten fast alle Österreicher:innen tagtäglich mit Demenz-Betroffenen in Kontakt kommen. Das Gegenteil ist aber der Fall.
Die Diagnose Demenz bedeutet in der Regel Stigmatisierung, Ausgrenzung und eine in Gang gesetzte Schweigespirale.
Für einen Menschen mit einer demenziellen Beeinträchtigung stellt die Diagnose eine Bedrohung dar, vor der man sich schützen will, deren Realität man auch gerne verleugnet. Von ihren Mitmenschen werden Personen mit Demenz oft auf die Rolle als «Patienten» beziehungsweise auf ihre Defizite reduziert.
Das Hilfswerk Österreich fordert ein Umdenken und die entsprechenden Rahmenbedingungen, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Betroffenen zu ermöglichen.
«Ein Mensch mit Demenz hört nicht auf Mensch zu sein. Wir brauchen als Gesellschaft einen anderen Umgang mit dem Phänomen Demenz», sagt der Demenz-Experte und diplomierte psychiatrische Gesundheits- und Krankenpfleger Raphael Schönborn.
«Weg von der Stigmatisierung, weg vom medizinisch geprägten Krankheitsdenken, hin zu einem Betreuen und Begleiten, das Menschen mit Demenz weiter als Menschen wahrnimmt!»
Mit einer Reihe von Videos vermittelt das Hilfswerk Demenz-Wissen
Diese lebensweltliche Pflegekultur berücksichtige die individuellen biografischen Rahmenbedingungen der Betroffenen und orientiere sich an der alltäglichen Lebensrealität, an Bedürfnissen und vorhandenen Ressourcen, so Schönborn.
Seiner Ansicht nach müssten «Special Care Units» mit dem Schwerpunkt Demenz in den pflegerischen Regelbetrieb bestmöglich integriert werden. «Nur so kann es gelingen, Menschen mit Demenz von Objekten der Pflege zu Subjekten der Begegnung werden zu lassen, wie es personenzentrierte, psychobiographische, mäeutische und andere Handlungs- und Betreuungsansätze seit langem vorschlagen», erläutert Schönborn.
Hilfswerk denkt vor: zweijähriger Fachschwerpunkt Demenz
«Das Hilfswerk ist der grösste heimische Anbieter von Pflege zu Hause. Wir beobachten seit vielen Jahren die steigende Zahl an Menschen mit Demenz. Damit wir noch besser auf die speziellen Bedürfnisse der Betroffenen und ihrer (pflegenden) Angehörigen reagieren können, haben wir einen Fachschwerpunkt Demenz gesetzt», sagt Sabine Maunz, Leiterin des Fachbereichs Pflege und Betreuung im Hilfswerk Österreich.
Durch spezifische Weiterbildungsangebote für Mitarbeiter/innen aller Berufsgruppen im mobilen Dienst, durch einen die Qualität der Pflege sichernden Fachleitfaden Demenz sowie durch Entwicklung und Ausbau neuer Angebote in Beratung und Betreuung trägt das Hilfswerk zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Demenz bei.
Auch die Entstigmatisierung von Demenz ist dem Hilfswerk Österreich ein grosses Anliegen.
Die Webportale «Mehr als vergesslich» und «Ich bin dann mal alt», die mobile Info-Initiative HILFSWERK ON TOUR, eine Hotline 0800 800 820 und spezielle Beratungsangebote in den Bundesländern bieten einen breiten und niederschwelligen Zugang.
Das Hilfswerk präsentiert zwei neue Ratgeber rund um das Thema Demenz: «Ich bin dann mal alt. Wie sich das Gehirn im Alter verändert» führt Menschen behutsam an die Fragestellung heran, wann und wie man auf wachsende Vergesslichkeit reagieren soll. «Mehr als vergesslich. Alltag mit Demenz: Ein Ratgeber für Angehörige» steht Angehörigen mit vielen praktischen Tipps für deren Betreuungsalltag zur Seite.