Wie funktioniert das Wählen mit Demenz? - demenzjournal.com
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Politisches Wahlrecht

Wie funktioniert das Wählen mit Demenz?

Ein «Mangel an kognitiven Fähigkeiten» oder an einer «Fähigkeit zur Willensäusserung» allein reicht nicht aus, um das Wahlrecht zu entziehen. PD

Hilde W. vermisst ihren Ehemann. Sie hat vergessen, dass er im letzten Jahr gestorben ist. Doch weiss sie: «Wählen ist eine Bürgerpflicht!». Zwar stützt die UN-Behindertenrechtskonvention Menschen wie sie in ihrem politischen Teilhaberecht, doch das aktuelle deutsche Wahlrecht geht weniger weit.

Früher war sie Stammwählerin, sagt sie. Seit dem Tod ihres Ehemannes ist Hilde W. sehr verwirrt und hat vergessen, dass sie in jüngeren Jahren elegante Blusen genäht hat. Erinnert man sie daran, geht sie an ihrem Rollator wieder etwas aufrechter.

«Wählen muss man! Das ist eine Bürgerpflicht!», sagt sie, als sie auf die Wahlen angesprochen wird. Ob sie tatsächlich ein Wahlrecht hat, hängt jedoch davon ab, ob für sie ein Betreuer zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten bestellt ist.

Erst wenn Hilde W. keinen der für sie wichtigen Lebensbereiche mehr selbst regeln kann (auch nicht teilweise), darf sie in Deutschland vom Wahlrecht ausgeschlossen werden (§13 BWahlG). «Eine umfassende Betreuung bedeutet immer einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff und ist daher nur in den seltensten Fällen zu erteilen», sagt Susanne Kilisch vom Kester-Haeusler-Forschungsinstitut, Fürstenfeldbruck.

Auch bei Annemarie F. sind Raum und Zeit in Unordnung geraten. Kürzlich hat eine ihrer beiden Töchter die Betreuung für sie übernommen. Diese weiss nicht, ob ihre Mutter vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Wählen? «Ach ja», meint Annemarie F. und ahnt die Bürgerpflicht.

Doch schon ziehen ihre Gedanken weiter zu einer anstehenden Operation. Diese hat sie nicht vergessen. Ihre Angst hat Vorrang. Die Tochter meint intuitiv: «Ich glaube, das lassen wir einfach mit dem Wählen». Gemäss der UN-Behindertenrechtkonvention (UN-BRK) übt Annemarie F. ihr Wahlrecht einfach nicht aus, wenn sie auf Nachfrage den Wunsch zu wählen nicht äussert oder von ihrer Tochter nicht verstanden wird.

Ein «Mangel an kognitiven Fähigkeiten» oder an einer «Fähigkeit zur Willensäusserung» allein reiche nicht aus, um das Wahlrecht zu entziehen, sagt Bärbel Schönhof, Vizepräsidentin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und Juristin.  

Die UNO und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stufen einen Wahlrechtsausschluss wegen jeglicher kognitiver Beeinträchtigung als unzulässige Diskriminierung ein.

Und doch ist die politische Teilhabe noch immer nicht für alle Menschen mit Behinderung in Deutschland realisiert.

Die zwölffache Paralympics-Siegerin Verena Bentele, derzeitige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und Ulla Schmidt (SPD), Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, riefen gemeinsam zur Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse auf.

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Auch eine Gesetzesinitiative von Vertretern der Opposition (Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE) zur Umsetzung der UN-BRK im Wahlrecht legte zuletzt im Mai 2017 einen Gesetzentwurf vor, die auf körperlich behinderte Menschen beschränkte Unterstützung bei der Stimmabgabe aufzuheben und auf Menschen mit geistiger Behinderung auszuweiten.

In Deutschland sind laut einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2016) 85’000 Menschen mit einer Behinderung vom Wahlrecht ausgeschlossen – obwohl nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der «Allgemeinheit der Wahl» nach Artikel 38 des Grundgesetzes ihnen das Wahlrecht zusteht und nach Artikel 3 es sogar verboten ist, Gruppen zu diskriminieren.

Wie ist die Situation in der Schweiz?

Quelle Youtube

Teilhabe muss garantiert sein

Ein Wahlrechtsausschluss steht auch Artikel 19 (Meinungs- und Informationsfreiheit) und Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Allgemeines, gleiches Wahlrecht; politische Teilhabe) sowie Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) entgegen, nach der allen Menschen mit Behinderung, einschliesslich Menschen mit Demenz, die «Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben» zu garantieren ist.

Von diesem Recht eingeschlossen ist, sich über Medien jeder Art Informationen zu suchen, diese zu empfangen und zu verbreiten. Der Zugang zu politischer Information ist barrierefrei zu gestalten. Doch was kann das für die Praxis bedeuten?

Hannelore B. ist nach einem Sturz auf Hilfe angewiesen und lebt im Seniorenheim. Als Fachärztin in Rente ist sie sehr an politischen Debatten und am Austausch mit anderen interessiert. Gerne würde sie dazu an den Zeitungsrunden am Morgen teilnehmen.

Dass sie sich stattdessen in ihr Zimmer zurückzieht und politische TV-Sendungen ansieht, liegt lediglich an einem nicht richtig eingestellten Hörgerät: Ohne kann sie sich nicht an Diskussionen beteiligen, mit ist jedes Wort für sie unerträglich laut. Da ihr keine richtige Anpassung des notwendigen Hilfsmittels ermöglicht wird, zieht sie sich in ihr Zimmer zurück, nutzt die Möglichkeit der Briefwahl.

Lore W. dagegen zieht politische TV-Sendungen in ihrem Zimmer vor, da sie aufgrund starker Schmerzen die meiste Zeit des Tages an ihr Bett «gefesselt» ist. An besseren Tagen sucht sie die Geselligkeit und diskutiert mit anderen Heimbewohnern über Weltpolitik. Sie erhält 23 Tagesdosen an Medikamenten und wird daher früh müde. Sie bedauert sehr, dass sie abends nicht mehr die politischen TV-Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verfolgen kann. Sie macht Briefwahl, denn «Wählen muss man», sagt sie.

Alle Vertragsstaaten, welche die UN-BRK ratifiziert haben, sind dazu verpflichtet sicherzustellen, dass «Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind».

Bei der Stimmabgabe steht es Menschen mit Behinderung frei, sich eine persönliche Assistenz ihrer Wahl zu Hilfe zu nehmen.

Auch unterstützende Technologien sollen im Bedarfsfall bereitgestellt werden. So werden die rüstigen Senioren zum Beispiel auf dem Weg zum externen Wahlbüro von Beschäftigungstherapeuten begleitet, wie im Hans-Sponsel-Haus, einer Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt in Würzburg.

«Bis vor ein paar Jahren noch wurde durch die Stadt Würzburg ein eigenständiges Wahlbüro in der Einrichtung errichtet», sagt Einrichtungsleiter Jürgen Görgner. Damals sei eine Wahlteilnahme der Senioren noch wesentlich leichter gewesen. Eine Hürde also, die nicht jeder meistern kann.

Konsequente Aufklärung

Doch was wäre nun, wenn Hilde W. als langjährige Stammwählerin wählen darf und plötzlich eine der 40 kleinen Parteien aus einem völlig anderen Spektrum wählt? «Oftmals haben die Bewohner bestellte Betreuer, welche den zu Betreuenden nur unzureichend kennen und somit den politischen Wunsch nur bedingt wissen», so Görgner. Wie aber Missbrauch des Wahlrechts verhindern?

«Durch eine konsequente Aufklärung der bestellten Betreuer und die Nutzung aller Möglichkeiten des Strafrechts», erklärt Dr. Leander Palleit, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtkonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin. «Ein bestellter Betreuer muss aufgeklärt werden, dass es keine Wahlpflicht gibt», so Palleit, und «dass die Ausübung des Wahlrechts ein höchst persönliches und nicht übertragbares Recht ist.»

Wie die Wahlhandlung bei Menschen mit Demenz selbst gestaltet werden und wie die Informationen über Wahlprogramme in einer für Menschen mit Demenz verständlichen Sprache aufbereitet werden könnten, bleibt weiterhin offen.