Die Demenzbotschafterin Sophie Rosentreter hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Demenz mit Leichtigkeit zu begegnen. Ihr Engagement wurde bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet – so wurde sie zum «Freund der Pflege» beim Deutschen Pflegetag 2018 gekürt.
Deutschlandweit gibt Sophie Rosentreter ihr Wissen in Vorträgen und Demenzschulungen weiter, ganz im Sinne ihres Leitsatzes: «Es ist nicht wichtig, was man im Leben erreicht, sondern wen man erreicht.»
Frau Rosentreter, Sie waren Fernsehmoderatorin, haben erfolgreich international gemodelt und einige Jahre hinter den Kulissen beim Fernsehen gearbeitet. Heute produzieren Sie die Reihe Ilses weite Welt. Was hat Sie bewogen, Demenz zu Ihrer Lebensaufgabe zu machen?
Sophie Rosentreter: Ganz am Anfang dieser Geschichte steht meine Grossmutter Ilse, mit der ich ein sehr enges Verhältnis hatte. Omi begann eines Tages, sich merkwürdig zu verhalten. Sie versalzte den Griessbrei, verlegte die Haustürschlüssel …
Irgendwann hatten wir einen Namen für ihr merkwürdiges Verhalten – Alzheimer. Natürlich fühlten wir uns als Familie verantwortlich und haben aus grosser Liebe heraus entschieden, Omi in der Häuslichkeit zu pflegen. Nach sieben Jahren ist meine Mutter leider fast daran zerbrochen, und so mussten wir Omi schweren Herzens in eine Pflegeeinrichtung bringen, wo sie zwei Jahre verbrachte.
Meine Mutter starb kurze Zeit nach dem Tod meiner Grossmutter an den Folgen von Krebs. Wir sind also an dieser schwierigen Situation gescheitert.
«Rückblickend ist mir klar: Hilfe anzunehmen ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche. Das haben wir in der Begleitung meiner Omi falsch gemacht.»
Dann haben Sie damit begonnen, Filme zu machen. Wie kam es dazu?
Meine Grossmutter wurde in der Pflegeeinrichtung gerne vor dem Fernsehgerät geparkt und ich bemerkte schnell, dass da Welten aufeinanderprallen. Die Fernsehwelt, deren Inhalte im besten Fall über kognitive Fähigkeiten transportiert werden, Werbung, die schnell geschnitten und laut ist, Nachrichten, die womöglich an Kriegszeiten erinnern.
Omi hat vor dem eingeschalteten Fernsehgerät abgeschaltet. Da ich aus der Medienwelt komme, wusste ich, dass es Möglichkeiten gibt. Es bedarf nur der richtigen Umsetzung. Und so habe ich damit begonnen, Filme für Menschen mit Demenz zu machen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Zu Anfang hatte ich keine Ahnung, wie man ein solches Konzept umsetzen kann. Also habe ich Seminare besucht und mit Gerontologen und anderen Experten gesprochen. Dann habe ich die Filme über eineinhalb Jahre in verschiedenen Szenarien getestet.
Das waren Testvorführungen in der Häuslichkeit, in Betreuungsgruppen und in stationären Einrichtungen, mit grossen und mit kleinen Gruppen. Bis schliesslich Ilses weite Welt 2010 auf den Markt kam.
Warum der Titel ‹Ilses weite Welt›?
Der Titel bringt auf den Punkt, dass es noch immer eine grosse Welt voller Erinnerungen und Gefühle in Menschen mit Demenz gibt, die es für uns zu erreichen gilt. Das Konzept ermöglicht, über Filme an Erinnerungen anzuknüpfen und somit manche Leere zu füllen.
Das Begleitmaterial gibt darauf aufbauend Anregungen zur Beschäftigung: Die Themen, die in den Filmen angesprochen werden, können interaktiv weitergeführt werden. Das funktioniert sehr gut.
Warum ist das «normale» Fernsehprogramm für Menschen mit Demenz ungeeignet?
Das kann ich sehr gut an einem Beispiel festmachen. Bei einer der ersten Testvorführungen von Ilses weite Welt in einer Senioreneinrichtung war der Fernseher eingeschaltet, als ich ankam. 20 Personen sassen davor. Die Nachrichten liefen und plötzlich hörte man eine Bombe explodieren.
In diesem Moment schnellte eine alte Dame aus ihrem Stuhl hoch und schrie: «Das ist keine Übung! Runter in den Bunker!» Sie zitterte am ganzen Körper. Ich besuchte sie eineinhalb Stunden später nochmal und sie war noch immer in dieser Stimmung. Hier zeigt sich, wie man mit einer vermeintlich guten Absicht ganz viel falsch machen kann.
Worauf genau kommt es bei Filmen für Menschen mit Demenz an?
Menschen mit Demenz sind über die Sinne zu erreichen.
Die Filme von Ilses weite Welt sind wie ein warmer Bilderteppich. Kleine Episoden, die die Gefühlsebene ansprechen.
Grundsätzlich sind es lange Einstellungen, die dazu einladen, den Bildern zu folgen und die Zuschauer nicht immer wieder in einer Bildstrecke fallen lassen. Das langsame Tempo der Filme ermöglicht es, an Erinnerungen anzuknüpfen.
Wie reagieren die Menschen, wenn sie Ilses weite Welt sehen?
Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich, aber immer schön. Manchmal sind es Worte, manchmal kleine Erinnerungen, ein Lächeln oder eine Aufmerksamkeit, die über 15 Minuten anhält.
Es gibt beispielsweise einen Musikfilm, an dem der Musiktherapeut Jan Sonntag und der Liedermacher Rolf Zuckowski mit seinem Sohn Alexander mitgearbeitet haben. Der Film ist sehr aktivierend, weil direkt in die Kamera aufgefordert wird, mitzusingen. Man hört Gitarrenmusik, sieht ein Grammophon und schliesslich spricht man über alte Tage und darüber, wie es früher zuhause war.
Durch Schulungen und Vorträge stehen Sie auch im Austausch mit Angehörigen und Pflegepersonal. Wie wirken sich die Filme auf deren Situation aus?
Natürlich ist es für pflegende Angehörige eine Entlastung, zu wissen, ein zu betreuender Mensch sitzt vor dem Fernseher und es läuft ein Programm, das ihm guttut und ihn nicht überfordert. Somit haben sie die Zeit und Ruhe, sich um den Haushalt oder etwas anderes zu kümmern.
Das funktioniert auch sehr gut bei Betreuungs-Assistenten, die die Filme entweder bei bettlägerigen Personen oder in Gruppen nutzen, z.B. für Kinonachmittage. Aber das ist nur ein Aspekt.
In erster Linie sind die Filme so konzipiert, dass der Austausch und die Beziehung gefördert werden.
Die Selbständigkeit nimmt ab und die Menschen ziehen sich irgendwann zurück. Wenn man gemeinsam vor dem Fernseher sitzt und über Hundebabys lachen kann, weil sie lustig über ihre Tatzen stolpern, bringt das eine Leichtigkeit zurück, die einander wieder verbindet und die auch heilt.
Die Filme bieten Möglichkeiten, sich wieder auf Augenhöhe zu begegnen. Ein kurzes raus aus dem Pflegealltag und rein ins Menschsein, das tut nicht nur der Seele gut, sondern auch dem Körper.
Zu Ilses weite Welt zählen auch Begleitbücher und ein Haptik-Set. Was ist die Idee hinter dem interaktiven Beschäftigungskonzept?
Die Filme sind eine wunderbare Brücke, um die Tür zur Welt der Erinnerungen zu öffnen. Wird eine Tür aufgestossen und die Menschen erinnern sich oder fühlen sich angerührt von dem, was sie sehen, dann sollten wir diese Aktivierung nutzen.
Ich reiche dem Menschen eine Fotokarte und er streckt die Hand aus, nimmt die Fotokarte, zieht sie zu sich heran, dreht sie um, spricht darüber und gibt sie dann weiter. Diese kleinsten Bewegungen zur Interaktion sind aus ergotherapeutischer Sicht sehr wertvoll, wenn Menschen nichts machen, ausser in ihrem Stuhl zu sitzen.
In den Begleitbüchern liefern wir zu den einzelnen Themen auch Malvorlagen und Ideen von der Ergotherapeutin Gudrun Schaade. Das sind ganz unterschiedliche Anregungen, aber mit einer klaren Empfehlung: Nutzen Sie die Sinne!
Darüber können Menschen mit Demenz bis zum Schluss aktiviert werden und sich selbst spüren. Sie erleben etwas, z.B. ein Picknick auf dem Tisch, können vielleicht auf einer Fotokarte etwas lesen und das ganz nebenbei, ohne Druck und ohne einen spezifischen therapeutischen Kontext.