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Geschichte

Bundesrepublik Deutschland – zwischen Trümmern und Revolte

Der Deutsche Reichstag. PD

Nationalsozialismus, Weltkrieg, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, sexuelle Befreiung und Studentenrevolte: Von 1940 bis 1980 gab es in der damaligen Bundesrepublik Deutschland eine grosse Dichte von extremen Ereignissen und Erfahrungen.

Der vorgestellte Zeitraum zeichnet sich durch eine breite Spanne und grosse Dichte von extremen Erfahrungen aus. Er umfasst den Nationalsozialismus mit seiner menschenverachtenden Ideologie und den Zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, die entbehrungsreiche Nachkriegszeit, den Wiederaufbau des zerstörten Landes, das «Wirtschaftswunder» der 1950er Jahre und die «wilden» 1960er und 1970er Jahre mit ihren tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.

Der Wandel der Werte und Normen in dieser Zeitspanne war ebenso gross wie der technische Fortschritt, der beispielsweise Massenmotorisierung, Fernsehen und die Mondlandung brachte. Etwa 18 Prozent der heutigen Deutschen haben ihre Kindheit während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges verbracht. Zu ihren Lebenserfahrungen gehören traumatisierende Erlebnisse von Repression, Gewalt, Zerstörung und Hunger genauso wie Wohlstand, Überfluss, Rebellion und Freiheit. 

Kinder und Jugendliche erlebten während der NS-Zeit eine Kindheit, in der die Werte Disziplin und Gehorsam im Mittelpunkt standen und die Autorität der Erwachsenen nicht angezweifelt werden durfte.

Der nationalsozialistische Staat versuchte, die Erziehung mit seiner Ideologie zu überformen: in Kindergärten und Schulen sowie in den NS-Organisationen wie dem Jungvolk und den Jungmädel, dem Bund Deutscher Mädel (BDM) und der Hitlerjugend (HJ). Gehorsam, Tapferkeit und «reines Deutschtum» lauteten die vermittelten Werte.

Mit dem Beginn des Bombenkriegs der Alliierten gegen Deutschland im Frühjahr 1940 brach der Krieg auch in die Erfahrungswelt der Kinder ein: Der Vater war im Krieg, die Mutter war alleine für die Versorgung und Ernährung verantwortlich. Zunächst waren viele Grossstädte und Industrieregionen betroffen, ab 1944 erfasste das Kriegsgeschehen das ganze Land:

Sirenen unterbrachen jäh die alltäglichen Verrichtungen, Nächte wurden in Luftschutzbunkern und Kellern verbracht, die Strassen waren gesäumt von Trümmern und Toten, viele Menschen verloren ihr Zuhause.

Das Dröhnen der Bomber, die angstvollen Schreie, Dunkelheit und der Anblick der Toten haben sich tief ins Gedächtnis der Kriegskinder eingebrannt. Todesangst, das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht waren prägende Gefühle.

Über zwei Millionen Kinder waren durch die Kinderlandverschickung manchmal Jahre von ihren Eltern getrennt und litten unter Trennung, Heimweh und Einsamkeit. Die Folge waren Angstträume oder Angstzustände, die durch bestimmte Geräusche und Gerüche ausgelöst wurden. Sie begleiteten viele Kriegskinder lebenslang.

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Jungs und Mädchen mussten mit anpacken bei der Trümmerbeseitigung und beim Besorgen von Lebensmitteln auf dem Schwarzmarkt. Auf den Schultern vieler Kinder lastete ein für sie eigentlich untragbares Verantwortungsgefühl. 

«Ich war ja mit meiner Mutter und meinen drei Geschwistern ausgebombt. Ich war der Älteste, und mit meinen sechs Jahren musste ich mich um den Kleinen kümmern; meistens hatte ich den auf dem Buckel. Bis mein Vater aus der Gefangenschaft heimkam, war ich Mutters ‹kleiner Mann› und musste Verantwortung für meine Geschwister übernehmen. Das waren Lasten, die sich tief eingegraben haben.»1

Diese Erfahrungen liessen viele über Nacht erwachsen werden. Nur wer selbständig, hart im Nehmen, egoistisch und skrupellos war konnte im allgemeinen Chaos überleben. Den Kindern und Jugendlichen wurden Genügsamkeit, Selbstbeherrschung und Disziplin abverlangt. 

«Ich erinnere mich, dass wir Kinder nach einem Luftangriff gelobt wurden, wenn wir uns stundenlang muckmäuschenstill verhalten hatten und vor allem nicht aufs Klo mussten. Keines von uns wollte beschämt werden, weil es in die Hosen gemacht hatte. Unterdrückung auch der ganz elementaren Bedürfnisse, das lernte ich als erstes. Es fehlten einfach Freude, Zärtlichkeit und Unbeschwertheit in diesen frühen Jahren.» 2

Viele erfuhren bei Kriegsende sexuelle Gewalt an sich selbst oder sie mussten miterleben, wie ihre Mütter oder Schwestern von Soldaten vergewaltigt wurden. Psychologische Hilfe gab es nicht und auch emotional wurden die Frauen meistens alleingelassen. Das Erlittene wurde verdrängt, da man Angst vor Stigmatisierung hatte.

Kinder, die durch eine Vergewaltigung gezeugt worden waren, uneheliche Kinder oder Kinder von Besatzungssoldaten hatten es im Nachkriegsdeutschland schwer. Sie galten als «Schande» und litten unter Spott und Diskriminierung. Etwa 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben traumatisierende Erfahrungen dieser Art gemacht. 

Kein Blick zurück und die Teilung Europas

Nach dem Krieg waren die Deutschen mit sich selbst beschäftigt, mit dem Kampf gegen Hunger und Winterkälte, mit dem Wiederaufbau der in Trümmern liegenden Städte. Die Währungsreform brachte im Juni 1948 die Deutsche Mark (DM) als Zahlungsmittel in den Westzonen.

Mit ihr kam ein Stück Normalität und die gesellschaftliche Situation stabilisierte sich. Quasi über Nacht gab es wieder Waren in den Läden. Im Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft, die Bundesrepublik Deutschland war damit ein eigenständiges Land mit demokratischer Verfassung. Neue Hauptstadt war Bonn. Zuversicht breitete sich aus.

Die schreckliche NS-Vergangenheit erschien vielen wie ein schlechter Traum, über den man besser nicht sprach. Man schaute lieber nach vorne und genoss den allmählich aufkommenden Wohlstand und die damit verbundenen Bequemlichkeiten. Die Jahre des Nationalsozialismus wurden verdrängt und damit die Verbrechen, die von vielen Deutschen begangen wurden.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Stattdessen machte sich angesichts des «Wirtschaftswunders» und des «Wunders von Bern», als 1954 die deutsche Fussballnationalmannschaft Weltmeister wurde, eine «Wir sind wieder wer»-Stimmung breit und das Selbstbewusstsein stieg.

Mit Prozessen gegen NS-Verbrecher wie dem Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung auf der eigenen Geschichte. Die Jugendrevolte der 68er prangerte mit dem Slogan «Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren» auch die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit der Elterngeneration an. Die Kriegsgeneration fing allmählich an, mit ihren Enkeln über ihre Erlebnisse zu sprechen. 

Während der 1950er Jahre begann sich die politische Konfrontation zwischen Ost und West, zwischen der Sowjetunion und den USA im «Kalten Krieg» zuzuspitzen. Einen Höhepunkt fand sie in der endgültigen Teilung Deutschlands durch den Mauerbau im Jahr 1961. «Ich bin ein Berliner» – der denkwürdige Satz des US-Präsidenten John F. Kennedy, 1963 in Berlin geäussert, hat viele Deutsche lange berührt als ein Bekenntnis der Solidarität.

Das zentrale Problem der Deutschen war seit den 1960er Jahren nicht mehr das Überleben. Im Mittelpunkt standen der Ausbau des Wohlstandes und das Erleben.

Die gesellschaftlichen Werte wandelten sich von «Pflicht- und Akzeptanzwerten» hin zu Selbstentfaltungswerten. Persönliches Erfolgsstreben, Freizeitorientierung, Konsumorientierung und Individualismus waren nun wichtig; militärische Disziplin und Besitzdenken wurden eher abgelehnt.

Auf der Suche nach einem neuen Zuhause

Deutschlands Bevölkerung wurde in Folge des Krieges stark umstrukturiert: Zwölf Millionen Deutsche wurden aus den Ostgebieten vertrieben und mussten fliehen. Ausgebombte suchten nach einer neuen Bleibe. Auch Flüchtlinge aus der DDR mussten untergebracht werden. Insgesamt 3,8 Millionen Menschen verliessen zwischen 1949 und 1990 die DDR.

Anfang der 1950er Jahre hatten noch immer Millionen keine Heimat gefunden. Über Auffanglager, in denen Tausende auf engstem Raum zusammengepfercht lebten, wurden sie auf Gemeinden in ganz Deutschland verteilt. Katholiken mussten sich in evangelischen Ortschaften niederlassen, Protestanten in katholischen; Bauernfamilien wurden bei Städtern untergebracht, ausgebombte Stadtbewohner auf dem Lande zwangseinquartiert. Die einheimische Bevölkerung begegnete den Fremden mit offenen Feindseligkeiten. Der Neuanfang war hart, zumal die meisten nicht mehr besassen als das, was sie auf sich trugen.

Wohnraum war sehr knapp. Die meisten Häuser und Wohnungen waren überbelegt. Es fehlte an Privatsphäre. Doch der Wiederaufbau schritt seit den 1950er Jahren rasch voran. Überall im Land entstanden Neubausiedlungen. Die meisten Häuser waren mit Strom, fliessendem Wasser, Toilette und Bad ausgestattet – bis dahin ein seltener Luxus. 30 Prozent der Deutschen konnten sich bis Mitte der 1950er Jahre schon den Wunsch nach einem Eigenheim erfüllen.

«1954 bekamen wir in diesen Wohnblocks, die einer Genossenschaft gehörten, eine kleine 3-Zimmer-Wohnung von zirka 57 m2, aber mir erschien sie damals komfortabel, weil sie zum Beispiel Gasanschluss hatte und fliessend kaltes Wasser und eine Innentoilette. Wir wohnten da zunächst zu viert mit meiner Grossmutter, und hatten zwei Untermieter, die in einem 6 m2 grossen Zimmer hausten.»3

In den 1960er Jahren entwickelte sich der Trend zum verdichteten Bauen: Hochhaussiedlungen entstanden und etablierten neue Wohn- und Lebensformen. Zugleich galt der Zug ins Grüne an den Stadtrand als modern. Man baute grössere Wohnungen und es wurde allmählich üblich, dass jedes Kind sein eigenes Zimmer hatte.

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Bis in die 1960er Jahre war die Küche oftmals der einzige geheizte Raum und somit der Mittelpunkt des familiären Lebens. Das Wohnzimmer wurde nur sonntags geheizt, wenn Gäste kamen. Mit der Verbreitung von Zentralheizung, Öl- und Elektroöfen konnte schliesslich die ganze Wohnung geheizt werden. Das Wohnzimmer wandelte sich ab den 1970er Jahren «vom Repräsentations- zum Alltagsraum».4

Die Küche blieb weiterhin das Refugium der Frau. Der Arbeitsalltag der städtischen Frauen wurde durch moderne Geräte wie Kühlschrank, Waschmaschine, Staubsauger, Elektroherd und viele technische Kleingeräte erleichtert. Auf dem Lande konnte man sich diese Geräte oft erst später in den 1960ern leisten.

Steckrüben, Sonntagsbraten und Pizza

Hunger war der ständige Begleiter der ersten Nachkriegsjahre. Lebensmittel blieben noch bis Anfang der 1950er Jahre rationiert und waren grossteils nur gegen Marken erhältlich. Während die Bevölkerung in den Städten zumeist auf das Warenangebot der Läden und Wochenmärkte angewiesen war, kam die Landbevölkerung besser über die Notjahre.

Gegessen wurde, was man selbst anbauen konnte: Kohl, Steckrüben, Kartoffeln, Karotten, Kürbis; oder was man selbst herstellen konnte wie Schmalz oder Brot. Butter war Luxus, Fleisch kam meist nur am Sonntag auf den Tisch. 

Mit dem «kleinen Wohlstand», der sich im Laufe der 1950er Jahre in Stadt und Land allmählich durchsetzte, wurden viele Nutzgärten in Rasen und Erholungsraum umgewandelt. Sonnenschirm und Hollywood-Schaukel ersetzten Bohnenstangen und Kartoffelbeete. Man kaufte für den täglichen Bedarf in den sich rasch verbreitenden, damals revolutionären Selbstbedienungsläden, den Supermärkten, ein.

Der Schweinebraten am Sonntag durfte nirgends fehlen.PD

Die Konsum- und Essgewohnheiten veränderten sich grundlegend. Schon zehn Jahre nach dem Hungerwinter 1945/46 erfasste eine regelrechte «Fresswelle» die Deutschen. Der Fleisch- und Fettkonsum stieg enorm an. Immer mehr Menschen hatten Übergewicht, was aber zu dieser Zeit eher als Statussymbol («Wohlstandsbauch») angesehen wurde, denn als Gesundheitsproblem.

Zugleich kamen mit den sogenannten Gastarbeitern aus Südeuropa, die geholt wurden, um die deutsche Wirtschaft angesichts der Vollbeschäftigung am Laufen zu halten, neue Lebensmittel wie Südfrüchte, Paprika oder Zucchini ins Land. Neue Gerichte wie Spaghetti oder Pizza fanden Eingang in die Ernährung.

Hingegen blieb der familiäre Speiseplan der ländlichen Bevölkerung noch lange konstant: Bestimmte Gerichte wurden bestimmten Wochentagen zugeordnet – z. B. Mittwoch «Suppentag», Freitag «Süssspeisentag», Sonntag «Fleischtag» –, deftige heimische Hausmannskost dominierte. 

Ab den 1960er Jahren eroberten Fertigprodukte als moderne Kost und Küchenhilfe den Speiseplan: Maggi-Suppen oder Spaghetti-Miracoli waren angesagt und passten als schnelle Küche gut in den Arbeitsalltag der oft in Teilzeit berufstätigen Hausfrau. 

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Trümmerfrauen, Ehe und sexuelle Befreiung

In der unmittelbaren Nachkriegszeit lastete die Verantwortung für den Wiederaufbau und das Überleben der Familie fast ausschliesslich auf den Frauen. Die Männer waren gefallen, vermisst oder kehrten erst Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft heim. Ein Viertel aller Kinder wuchs nach dem Krieg ohne Vater auf.

Die «Trümmerfrau» wurde zum Symbol des Wiederaufbaus in den Städten. Doch von der aus der Not entstandenen Emanzipation der unmittelbaren Nachkriegszeit blieb kaum etwas übrig. Als sich die Verhältnisse stabilisierten, waren die Rollen wieder klar verteilt: Der Ehemann war der Ernährer, die Frau hatte sich um Kinder und Haushalt zu kümmern und -kehrte an den Herd zurück.

Die Familienmitglieder waren einander durch die lange Trennung fremd geworden. Viele Männer kamen gebrochen, traumatisiert und verroht aus Krieg und Lager zurück.

Sie waren mit ihrer Rolle als Familienvater, Ehemann und Ernährer überfordert. Etliche spielten den Patriarchen, der Frau und Kindern seinen Willen aufzwang, wenn es sein musste mit Gewalt. Andere flüchteten sich in den Alkohol, wurden aggressiv. In vielen Familien wurde geprügelt. Die Scheidungsraten stiegen stetig. 

Trotz aller Probleme war die Ehe das propagierte Familienmodell der 1950er– und 1960er Jahre. Es herrschten zutiefst konservative Moralvorstellungen und eine rigide Sexualmoral. Ein Zusammenleben ohne Trauschein war nicht möglich. Personen, die ein unverheiratetes Paar beherbergten, machten sich bis 1971 der «Kuppelei» schuldig.

Juristisch wurde die Abhängigkeit der Frauen von den Männern gestärkt. Im Scheidungsrecht galt das Schuldprinzip, bis Anfang der 1970er Jahre konnte eine Frau in Deutschland ohne die Zustimmung ihres Mannes kein Konto eröffnen. 

Zugleich war in folge des Krieges eine besondere gesellschaftliche Situation entstanden: sieben Millionen Frauen waren alleinstehend. Viele von ihnen lebten mit ihren Kindern alleine oder in Gemeinschaften mit Freundinnen und Verwandten. So gab es Millionen von Frauen-Haushalten, in denen hunderttausende Kinder ohne männliche Bezugsperson aufwuchsen.

Diese Frauen hatten zwar mit grossen finanziellen Problemen zu kämpfen, da sie für die Versorgung der Familie zuständig waren. Die Situation, ohne Mann zu sein, bewirkte bei vielen von ihnen jedoch ein Umdenken und förderte das Selbstbewusstsein.

Die Antibaby-Pille gab vielen Frauen die Kontrolle über ihren Körper zurück.PD

Ab den späten 1960er Jahren veränderte sich die Sexualmoral, Partnerschaften ohne Trauschein nahmen zu. Die neue Verhütungsform «Anti-Baby-Pille», ab 1961 auf Rezept erhältlich, trug zur sexuellen Befreiung der Frauen bei. Oswald Kolles Aufklärungsserien in Illustrierten und als Kinofilme fanden grossen Zuspruch. «Seine Aufklärung über sexuelle Praktiken stand explizit im Dienst der Stabilisierung von Ehe und Familie.»5

Im Juni 1971 bekannten sich auf dem Titel des Magazins «Stern» hunderte von Frauen, darunter viele Prominente, mit Bild und Namen zur damals noch gesetzlich verbotenen Abtreibung. Der Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen 218 war ein wichtiger Anstoss für eine neue Frauenbewegung – und spaltete die Gesellschaft.

Gehorsam, Rock ’n’ Roll und lange Haare

In den Familien herrschte meist ein strenges Regiment. Werte wie Artigkeit und Gehorsam standen noch lange im Vordergrund der geschlechterspezifischen Erziehung. Für Jungen und Mädchen gleichermassen bestand in der Anpassung «das oberste Gesetz der Kindererziehung, und die Forderung, Kinder zu kritischen Menschen zu machen, entwickelte sich erst langsam und unterschwellig.»6

Zwischen den Generationen begann es im Laufe der 1950er Jahre zu brodeln. Es gab zwar in der Mittelschicht eine eher angepasste Teenager-Kultur, der es vor allem darauf ankam, den neu gewonnen Wohlstand zur Schau zu tragen. Gleichzeitig waren viele Jugendliche aber nicht mehr bereit, die strengen moralischen Vorstellungen der Eltern zu akzeptieren.

Die Revolte gegen die Spiessigkeit der Eltern begann in Mode, Musik und Freizeitgestaltung. 

Petticoat und Rock ’n’ Roll nach US-amerikanischem Vorbild waren «in» und mit dem neuen Tanzstil entfaltete sich ein neues Lebensgefühlt der Freiheit und der Rebellion gegen die «Prüderie» der Gesellschaft. In den 1960er Jahren war das Kofferradio «eines der wichtigsten Insignien der Jugendkultur.»

Die ehemals strenge Kleiderordnung geriet ins Wanken. Mädchen trugen enge Caprihosen und Jeans, junge Männer orientierten sich am Kleidungsstil der «Halbstarken» mit enger Jeans, armfreiem T-Shirt und Lederjacke. Bei den Erwachsenen stiessen die neuen Idole wie Elvis Presley, Marlon Brando oder James Dean, Marilyn Monroe oder Hildegard Knef auf Ablehnung, denn sie standen für Freiheitswille, Freizügigkeit und Genuss, Rebellion und weibliches Selbstbewusstsein.

Mit der Kleidung gaben Jugendliche auch gesellschaftspolitische Statements ab: Der Minirock, der ab Mitte der 1960er Jahre allmählich zur Massenmode wurde, stand ebenso wie der Bikini für einen anderen Umgang mit Körperlichkeit und offensiver Weiblichkeit sowie für eine sich wandelnde Sexualmoral. Mit Jeans und länger werdenden Haaren sagten junge Männer auch der Vätergeneration in ihren Anzügen mit Schlips und Hut den Kampf an.

Aus einer jugendlichen Auflehnung wurde ein gesellschaftlicher und politischer Konflikt. Ausgehend von der Hippie- und Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA veränderte sich mit der 68er-Bewegung allmählich das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland. In den ersten «Kommunen» lebten Frauen und Männer ohne Trauschein zusammen.

Es begannen öffentliche Proteste gegen die Aufrüstungspolitik, aber auch gegen das Vertuschen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Bis sich die neuen Werte in der breiten Gesellschaft durchsetzten, dauerte es jedoch noch bis in die 1970er Jahre hinein. 

«Wenn ich auf die sechziger Jahre zurückblicke, so scheint mir, nie habe eine grössere Lücke geklafft zwischen der sich vollziehenden Bewusstseinsveränderung, unseren theoretischen Ansprüchen auf Veränderung der Gesellschaft, der Welt einerseits und der Realität, in der wir lebten, andererseits, zwischen neuen Einsichten und altem Verhalten.»7

Insgesamt setzte sich zwischen 1945 und den 1970er Jahren zunehmend ein als jugendlich und modern empfundener Lebensstil durch, der mehr und mehr erlebnis- und konsumorientiert war. Moden erfassten zwar jeweils nur einen Teil der Heranwachsenden, prägten aber durch ihre Medialisierung das allgemeine Lebensgefühl.

Religion und Kirche

Die christlichen Konfessionen spielten in der BRD eine wichtige Rolle. Sie vermittelten Normen und Werte und mischten sich auch mit Ratschlägen in die Politik ein, ja, sie versuchten sogar, das Wahlverhalten ihrer Schäfchen zu beeinflussen. Während in den grösseren Städten Religion und Kirchlichkeit ab Mitte der 1950er Jahre an Bedeutung verloren, stellte die Kirche gerade im ländlichen Raum eine Macht dar.

Der sonntägliche Kirchgang in Sonntagskleidung gehörte zum Leben. In den katholischen Kirchen hielt sich lange die getrennte Sitzordnung – Männer sassen auf der Seite rechts vom Eingang, Frauen links. Für Frauen im ländlichen Raum hatte die katholische Kirche mit ihren Marien- und Rosenkranz-Gebeten eine wichtige soziale Funktion, denn so konnten die Bäuerinnen Abstand von der Arbeit bekommen und andere Frauen treffen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit machte man Wallfahrten, um für Schutz zu danken, oder weil man für die Rückkehr des vermissten oder kriegsgefangenen Angehörigen bitten wollte.

In vielen Kindergärten sorgten Nonnen oder Diakonissinnen für eine (mitunter sehr strenge) religiöse Erziehung. In der Grundschule erteilten Pfarrer oder Pastoren den Religionsunterricht und vielerorts gab es eine Sonntagsschule, in der Kindern der rechte Glaube beigebracht wurde. Die (katholische) Erstkommunion und die (evangelische) Konfirmation waren die grössten Feste für Kinder und Jugendliche. Der Konfirmandenunterricht war auch ein Freizeitvergnügen, bei dem Jungs und Mädchen sich ausserschulisch treffen konnten. Viele Jugendgruppen im ländlichen Raum waren bis in die 1980er Jahre hinein kirchlich organisiert.

Nicht gern gesehen waren «Mischehen», wenn konfessionsgemischte Partner einander heirateten. Das angehende Paar musste den Widerstand der Familie und die Hürden durch Pastor oder Pfarrer überwinden. 

Männerwelt und Frauenarbeit 

Die Arbeitswelt blieb weitgehend den Männern vorbehalten. Nach wie vor hatten junge Frauen kaum Zugang zur höheren Bildung, die Aufstiegschancen waren gering. Wesentlich weniger Mädchen als Jungs besuchten das Gymnasium. Die Hauptschule stellte (vor allem auf dem Land) die Standardbildung dar. Arbeiterkinder waren bei der höheren Bildung unterrepräsentiert.

In den 1960er Jahren kam der Ruf nach «Chancengleichheit» auf und höhere Schulbildung sollte für Jungs und Mädchen aller gesellschaftlichen Schichten möglich werden. Die Umsetzung begann in den 1970er Jahren, als man auch mit neuen Modellen der Kinderbetreuung (zum Beispiel antiautoritäre Kinderläden) und mit anderen Schulformen experimentierte.

Bis weit in die 1960er Jahre sollten Erziehung und Ausbildung Mädchen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereiten. Ihre Berufstätigkeit wurde meist nur als Übergangsphase auf dem Weg zur Ehe betrachtet. Einen Ausbildungsplatz jenseits der typischen «Frauenberufe» wie Sekretärin oder Krankenschwester zu finden, war für Frauen nur schwer möglich. Die gut bezahlten Arbeitsplätze blieben Männern vorbehalten.

Hatten Frauen eine qualifizierte Stelle, so verdienten sie nur etwa halb so viel wie ihre Kollegen. 

Angesichts der Hochkonjunktur und des Arbeitskräftemangels brauchte man jedoch die weibliche Arbeitskraft und so stieg der Anteil erwerbstätiger Frauen entgegen aller gesellschaftlichen Widerstände zwischen 1950 und 1961 von 19 auf 35 Prozent; 1970 arbeitete bereits jede zweite Frau.

Dennoch musste bis 1957 der Ehemann schriftlich sein Einverständnis zur Berufstätigkeit seiner Frau geben. Nach einer Gesetzesänderung durfte sie erwerbstätig sein, aber nur soweit das mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war.40 Vor allem Teilzeitstellen waren bei Frauen beliebt.Bild 3

In der Landwirtschaft setzte allmählich eine Mechanisierung und Technisierung ein, jedoch dominierte bis in die 1960er Jahre die anstrengende körperliche Arbeit. Nur wenige der Kleinbauern konnten sich die neuen Traktoren und Landmaschinen leisten und arbeiteten weiterhin mit Pferden oder Kühen als Zugtieren. Zur Arbeit in der Landwirtschaft hinzu kamen für die Frauen die Kindererziehung und der Haushalt, der mit dem Einmachen und Weiterverarbeiten von Obst und Gemüse oder dem Waschen von Hand mit Waschbrett und Waschkessel sehr anstrengend und zeitaufwendig war.

Mit dem verstärkten Einsatz technischer Geräte im grossen Stil und der Flurbereinigung, die aus vielen kleinen Flächen grössere Nutzflächen machte, verschwanden innerhalb von zwei Jahrzehnten zwei Drittel der traditionellen landwirtschaftlichen Betriebe. 1970 arbeiteten nur noch neun Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft. Die meisten Bauern betrieben ihre Landwirtschaft nur mehr als Nebenerwerb und verdienten ihr Geld in der Fabrik oder in anderen Berufen. Die Arbeitswelt veränderte sich in den drei Jahrzehnten deutlich. Die Zahl der Arbeiter ging zurück, während sich die Zahl der Angestellten und Beamten allein zwischen 1955 und 1970 von 23 auf 36 Prozent steigerte.

Caprifischer und Mattscheibe

Freizeit spielte eine immer grössere Rolle. Die Wochenarbeitszeit war von 50 Stunden an sechs Werktagen stetig gesunken bis zur Einführung der tariflichen 40-Stunden Woche 1966. Viele Deutsche nutzten die neu gewonnene Zeit für die Ausgestaltung ihres «kleinen Glücks»: Inspiriert wurde man durch bunte Illustrierte und Kataloge, die die schöne neue Warenwelt vorführten und die Erfüllung aller Wünsche versprachen.

Eine beliebte Samstagsbeschäftigung war die Pflege des neuen Autos. Ende der 1950er Jahre fuhren fast 3,7 Millionen Fahrzeuge auf Westdeutschlands Strassen – Ende der 1960er Jahre waren es schon 13 Millionen. 

Das Auto wurde zum Symbol für das «Wirtschaftswunder» und die moderne Gesellschaft schlechthin.

Man machte Wochenendausflüge und entdeckte die «schöne Heimat». Campingurlaub war angesagt. Wer es sich leisten konnte, reiste ins Ausland. Italien wurde zum Reiseland Nummer eins bei den Westdeutschen. Ende der 1960er Jahre fuhr bereits die Hälfte der Bundesbürger in Urlaub.

Auch die Schlager- und Filmwelt bediente die Sehnsucht der Deutschen nach Ferne, privatem Glück und heiler Welt. Schnulzige Lieder wie die «Caprifischer» oder süssliche Filme wie «Mandolinen und Mondschein» fanden ein Millionenpublikum. Vor allem das Kino erlebte in der Nachkriegszeit einen ungeheuren Boom. Heimatfilme wie «Grün ist die Heide», «Schwarzwaldmädel» oder «Die Fischerin vom Bodensee» waren Strassenfeger.

Mit dem Start des Fernsehprogramms in der BRD 1952 gewann das neue Medium in der Freizeitgestaltung sehr schnell an Bedeutung. Ende der 1950er Jahre gab es 3,4 Millionen Fernsehgeräte in deutschen Wohnzimmern, zehn Jahre später waren es bereits 16,6 Millionen. Das Fernsehen gehörte zu den wichtigsten medialen Erfahrungen und stieg zu einem der beliebtesten Mittel zur Entspannung auf.

Maschinen waren Fluch und Segen zugleich.PD

Als noch nicht jeder Haushalt ein Gerät hatte, war fernsehen ein gesellschaftliches Ereignis. In gemütlicher Atmosphäre schaute man gemeinsam mit Freunden und Familie fern. Man holte sich via Bildschirm die grossen Ereignisse ins eigene Wohnzimmer und konnte so am Weltgeschehen teilhaben. Viele dieser Ereignisse prägten das Bildgedächtnis der Menschen: Deutschlands Sieg bei der Fussball-WM («Wunder von Bern»), der erste Atombombentest 1954, der Auftritt von John F. Kennedy in Berlin 1963, die Berichte über die Terrorakte der RAF (Rote Armee Fraktion) in den 1970er Jahren, die Olympischen Spiele 1972 in München und der erneute Weltmeistertitel der deutschen Fussballnationalmannschaft 1974.

Nicht zuletzt prägte das neu aufkommende samstägliche «Familienfernsehen» mit Spiel-Shows und berühmten Entertainern wie Lou van Burg («Der goldene Schuss»), Hans Rosenthal («Dalli-Dalli») oder Rudi Carell («Am laufenden Band») das Wochenende. Auf weite Teile der Jugendkultur der 1970er Jahre hatten Ilja Richters Sendung «Disco» (mit dem Begrüssungsspruch «Licht aus – Spot an») oder auch Dieter Thomas Hecks «Hitparade» grossen Einfluss und prägten den Musikgeschmack.

Nach einem Jahrzehnt des Wiederaufbaus haben sich die materiellen Bedingungen und die zentralen, existenziellen Probleme der BRD deutlich gewandelt: In den 1960er Jahren entwickelte sich jene Konsum- und Mediengesellschaft, die für die nächsten Jahrzehnte gesellschaftsprägend und strukturbildend blieb.


Quellen

1 Kriegskinder. Vierteilige ARD-Dokumentation, 2009, Teil II; Gertrud Ennulat: Kriegskinder – Wie die Wunden der Vergangenheit heilen. Stuttgart 2008, S. 39.

2 Nach Ennulat, S. 55. Frau, bei Kriegsende vier Jahre alt.

3 Aus dem Drehbuch zu dem Videofilm «Vier Mädchen: Kindheit in den 50er Jahren – Ein Versuch sich zu erinnern» von Susanne Godefroid und Renate Trusch, zitiert nach Ingeborg Weber-Kellermann: Mit Pferdeschwanz und Petticoat. Kindheit in den fünfziger Jahren, in: Perlonzeit. Wie die Frauen ihr Wirtschaftwunder erlebten. Hg. v. Elefanten Press. Berlin 1985, S. 13–22 S. 21.

4 Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom
Wirtschaftswunder bis heute. Frankfurt am Main / New York 1997, S. 145.

5 Axel Schildt: Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre
in der Bundesrepublik, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hrsg.):
Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S.21–
53, S.33.

6 Ingeborg Weber-Kellermann: Mit Pferdeschwanz und Petticoat. Kindheit in den fünfziger Jahren, in: Perlonzeit, S. 13–22.

7 Renate Häfner Chotjewitz: «Die große schöne Liebe ersäuft in der kleinen Scheiße»,
in: Hart und zart, S. 429–432, S. 430.