Blog Wolkenfische: Was bleibt übrig, wenn ich loslasse?
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Wolkenfische (12)

Wir sind Schattenmenschen (1. Teil)

Wolkenfische Susanna Erlanger

Im Zwielicht des Schnees sind uns die Hände gebunden – uns beiden.

Ich halte mich an dem fest, was war, weil ich nicht weiss, was von mir übrig bleibt, wenn ich es loslasse. Marc glaubt mir nicht mehr, dass ich seine Frau bin.

Frost überzieht meine Stätte
und eng stehen die Worte zwischen den Zonen
Ich schwinde dahin aus Mangel an Wärme
denn nichts ist – Leere
Zwieschatten, winterblau, sitzen auf Mauern
und Baumkronen fangen die Weite ein
dort, wo ich dich wähne

Hinter dem Höllenschlund
– Schlucht überspannt –
sehe ich dich in Flirrwellen
als Teil deiner selbst
vergleissend im Licht
das mir entgegenstrahlt
verschüttet von Schichten
an denen mein Blick
blind hängen bleibt

Vorstellungen, die mir mein Handeln diktierten, nährten mich nicht. Sie gaben mir aber das Versprechen, das Leben kontrollieren zu können. Nun erkenne ich ihren Trug, da sie sich ins Leere zerstäuben, ins Nichts. An ihrer Stelle breitet sich Enttäuschung aus.

Ich sehe dich im Spiegelbild und ich sehe mich, wenn ich dich sehe.

Winter

Nachts bin ich unter meinen Trümmern begraben, und schrei vor Angst in die Bettdecke hinein. Ich halte mich an dem fest, was war, weil ich nicht weiss, was von mir übrig bleibt, wenn ich es loslasse.

Ich gebe die Wohnung mit den weissen Wänden und der kühlen Einbauküche auf. Ich ziehe in das alte Haus gegenüber mit dem Kachelofen und den Holzwänden. Es ist fast so alt, wie das Haus, in dem du wohntest, als ich dich kennenlernte. Hätte ich dir nur diesen Ort gelassen, und mich nicht so zielstrebig in dein Leben eingemischt, wie ich es getan habe. Du aber hast dich gleich nahtlos in meine Vorstellung von ‚gutem Leben‘ eingefügt, – ganz und gar.

Ich sehe uns in den Paaren, die an meinem Fenster vorüberflanieren. Sie gehen nebeneinander, wie eingehüllt, in gemeinsamer Erwartung auf die Welt. – Wo steckt das ‚Weg-Sein‘ im ‚Auf-dem-Weg-Sein‘?

Frühling

Und dann erzwinge ich den Alzheimer-Test, weil ich mir irgendeinen bürokratischen Vorteil davon verspreche. Und du kannst die gestellten Aufgaben nicht mehr lösen, weil du längst die Fähigkeiten verloren hast, die man damit misst. Ich entwürdige dich, denn du spürst, dass du nicht genügst. Du machst dir Sorgen, dass die Stationsleiterin nun schlecht von dir denkt, weil du nicht verstanden hast, was sie von dir wollte. – Und ich entwürdige mich, weil mir mein Eigennutz vor dem Mitgefühl stand.

„Mein Liebster, ich bin deine Frau“, sage ich, wenn ich komme. Und du glaubst es ungläubig.

Du ringst um Worte, die sich hinter deinen Lippen verlieren, wie sich der Gedanke, den du aussprechen willst, hinter deiner Stirn verliert. Du kalauerst in wirren Andeutungen, die sich am Raum, an der Wand, an der Decke festzumachen suchen, am Boden. Ich sehe dir an, dass du um deinen Verstand kämpfst.

Heute ist der Jahrestag deines Eintritts ins Heim, und ich beginne zu vergessen, wie du einmal warst.

Man gibt dir das Alzheimermedikament wieder, das ich vor zwei Wochen gebeten habe abzusetzen, weil es dich sediert. Nun torkelst du wieder und bist in deine Nebelbank zurückgekehrt. Man nennt diese Wirkung „inneres Gleichgewicht“. Sie soll dich vor Depression bewahren. Aber ich vermute, dass du ohne das Medikament die Tragödie deines Verlusts zu sehr gespürt hast, und ich frage mich, wer das schwerer aushielt: du oder die Pflegenden.

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Auf unserem Spaziergang auf den Campingplatz schone und beschütze ich dich, wie ich immer andere geschont und beschützt habe.

Ich sage dir, dass ich froh bin, dass es dir gut geht, dort wo du bist. – Und das ist die Wahrheit.

Später driften wir wie alte Wracks auseinander, von der Strömung der Zeit getragen: Du an deinen neuen Ort, und ich immer tiefer in ein Leben, von dem ich nicht mehr weiss, wie es letztes Jahr war oder vor einem halben, einem Vierteljahr, denn ich erkenne mich nicht mehr.

Traumbotschaft: Wir sind Schattenmenschen. Wir haben ein Geheimnis, das uns selbst verborgen bleibt.

Sommer

Meine Befürchtung, dass du hinter der Nebelbank des Medikaments für immer verschwunden bist, war unbegründet: Wir gehen Hand in Hand zur Treppe über dem Campingplatz und setzen uns auf die oberste Stufe. Ich notiere mir, was du sagst auf einem Zettel, den ich im Portemonnaie gefunden habe.

Unten setzen wir uns auf eine Bank im Wald, und weil du vergessen hast, was du mir gesagt hast, lese ich es dir vor:

  • „Meine Frau soll geschützt sein. Sie soll nicht machen müssen, was andere wollen.
  • Wir hatten alles, und jetzt wird es immer weniger, etwas verschwindet.
  • Wir konnten alles machen, und das war sehr spannend. Jetzt können wir nur noch wenig machen.“

Ich lese dir die Sätze vor, und du verstehst den ersten nicht. – Nach dem dritten Vorlesen korrigierst du mich: „Es heisst nicht ‚geschützt‘“, sagst du: „Es heisst ‚beschützt‘: ‚Meine Frau soll beschützt sein‘.“

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Auch wenn ich nicht weiss, ob ich diese Frau bin, von der du sprichst, bin ich glücklich über deine Nachricht. Was für ein heller Tag! Wenn du von ‚der Frau‘ sprichst, ist es, als ob da etwas Göttliches wäre, das alles gut macht und dich zu sich holt, nach hause.

Auf dem Rückweg zur Treppe sagst du, du seist nicht mehr ganz gesund, aber dass deine andere Frau, die nicht da ist, dich ebenso versteht wie ich.

Deine Geschichten haben mich geschützt

Früher hast du den Menschen ein Bild von dir gegeben, das faszinierte. Du hast Geschichten über dich erzählt, die ohne Widerstand waren. Sie zeigten, was du von dir zeigen wolltest. Und das, was hinter den Erzählungen verborgen blieb, hast du mit östlichen Weisheiten überbrückt und mit Schweigen. Und ja, damit hast du auch mich geschützt.

Ich frage dich, ob du dich jemals von mir hast trennen wollen, und du lachst auf, – wissend.

Ich erzähle dir von meinen Befürchtungen, verhindert zu haben, was uns hätte befreien können, gerade in Momenten des Sprungs in die Eigenständigkeit, und dein Gesicht wird weich: „Du musst nicht“, sagst du: „Du musst nicht.“

Betreuung zu Hause

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Betreuung zu Hause

Bei mittelschwerer Demenz kann die betroffene Person ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen. Wie Angehörige Menschen mit Demenz begleiten und dabei auf sich … weiterlesen

Ich finde dich im Kreis der anderen Bewohner auf der Terrasse, – ein Hochsommertag. Du liegst im Korbstuhl und siehst zufrieden aus. „Man soll nicht warten“, versuchst du mir zu sagen. „Man soll das tun, was getan werden muss, und dann kann man weggehen. – Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Ich frage dich, ob du weggehen willst, du verneinst aber entschieden. Wem also gilt dein Aufruf? Gilt er mir?

Dann schaust du in die Runde und sagst: „Schau sie dir an. Sie warten alle.“

Meine Erschöpfung aus den letzten Jahren sitzt mir immer noch in Herz und Hirn. Ich kann im Beruf nicht mehr Tritt fassen und lasse mich deshalb vorzeitig pensionieren. Im Traum habe ich den Himmel gefragt, ob ich je wieder einem so grosszügigen, freien und menschlichen Mann wie dir begegnen werde. Und ich weinte im Halbschlaf.

Herbst

„Es ist nur leider so, dass er mich nur noch erkennt, wenn ich ihm sage, wer ich bin“, steht in einer e-Mail. – Jedoch sind die Abschiede, seit du mich nicht mehr erkennst, für uns beide einfacher geworden. Auf dem Heimweg schmerzt nur noch mein Schmerz.

Der Bus fährt durch einen Engpass steinerner Geschichte, die von Angst erzählt und Überwindung, von Absturz und Begegnung. In den Wänden der Schlucht sitzt der Atem von Generationen, die hier durchgereist sind. Doch oben auf der sich öffnenden Hochebene sieht es so aus, als ob der Weg zwischen der Finsternis und der lichten Höhe ein einfacher gewesen wäre.

demenzwiki

Angst

Angst ist ein häufiges Symptom bei Demenz. Nähe, Wertschätzung, Validation, Aromatherapie und weitere Formen von Zuwendung können die Angst lindern. weiterlesen

Immer wieder sagst du, dass alles anders ist, – und ich spüre deine Angst. Immer wieder sagst du: „Ich weiss nicht, wie’s weitergeht. Ich weiss nicht, was machen.“ Ich beruhige dich: „Hier ist es sicher, und hier bleibt alles gleich.“ Aber das ist eine billige Beruhigung, denn du erfährst an dir selbst gerade das Gegenteil.

„Man muss noch das machen und das und das und noch das!“ Und du deutest mit dem Zeigefinger auf den Boden. Ich kann nur vermuten, was da noch zu erledigen ist.