Papa stirbt, Mama auch - demenzjournal.com

Pflege der Eltern

Papa stirbt, Mama auch

Anfangs empfand sie die Erkrankung ihrer Eltern ausschliesslich als Katastrophe. Dann nahm Autorin Maren Wurster sie als Chance wahr, ihnen näherzukommen. Paula Winkler

Die Mutter hat Demenz, der Vater Krebs im Endstadium. Maren Wurster, Autorin und alleinerziehende Mutter, muss sich unter den Vorzeichen der Pandemie von jetzt auf gleich um beide kümmern. Was das bedeutet, schildert sie in ihrem aufwühlenden Roman.

Als Maren Wurster ihren Vater auf der Intensivstation besucht, hat der Krebs längst gestreut. Metastasen sitzen überall im Körper. Nun hat eine Lungenentzündung die Einweisung notwendig gemacht. Unweit des Krankenhauses liegt das Pflegeheim. Dort wohnt Marens Mutter, die an Alzheimer erkrankt ist. Zu ihr wird Maren gleich nach ihrem Besuch beim Vater fahren. Immer mit dabei: ihr dreijähriger Sohn.

Die Autorin Maren Wurster, geboren 1976, ist Mitgründerin des Autor:innenkollektivs Writing with CARE / RAGE. Das Kollektiv setzt sich für die Vereinbarkeit von Schreiben und Care-Arbeit ein. Im anonymen Austausch mit anderen Schreibenden bringt Maren Wurster erste Gedanken zu ihrer eigenen Care-Arbeit zu Papier.

In den acht Monaten, in denen ihr Vater nach einem Krankenhausaufenthalt im Sterben liegt, entsteht so ein autofiktiver Roman über Krankheit und Pflege, weitergereichte Traumata und den schmalen Grat zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit. Darin geht es nicht nur um die Eltern und ihren Krankheitsverlauf, sondern auch um die eigenen Untiefen.

Maren Wurster

Maren Wurster, geboren 1976, studierte Filmwissenschaften und Philosophie in Köln und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2017 erschien ihr Roman Das Fell. Sie erhielt mehrere Stipendien. Mit Papa stirbt, Mama auch stand sie auf der Shortlist des Wortmeldungen-Literaturpreises 2021.

In Papa stirbt, Mama auch richtet sich Maren Wurster an ihren Vater. Ihm fühlt sie sich näher als der Mutter, an deren emotionaler Distanz sie sich «abgearbeitet» habe. Ihr Vater hingegen war der Grossherzige, Gütige – auch wenn Maren stark unter seinem Alkoholismus und der Tabaksucht litt.

Wie der Grossvater erkrankt auch Marens Vater an Lungenkrebs. Und dann zeigen sich auch bei der Mutter Symptome einer Erkrankung. Sie vergisst, schraubt mitten in der Nacht alle Glühbirnen aus der Fassung, findet das Bad nicht mehr. Maren hofft, dass sie die Demenz verlangsamen kann, wenn sie nur oft genug zu Besuch kommt und der Mutter Orientierung gibt. Der Plan geht nicht auf. Die Mutter zieht sich zurück, bildet mit ihrem Mann einen Kokon.

Der ist mit der Situation überfordert. Körperpflege, Haushalt und Organisatorisches bringen ihn an seine Grenzen; stets war seine Frau diejenige, die sich um alles kümmerte. Jetzt verwahrlost die Wohnung. Der Kühlschrank ist leer, angebrochene Dosen sind schimmelüberzogen, der Aschenbecher quillt über. Obwohl der Vater sieht, dass die Mutter über Wochen dieselbe Kleidung trägt, reagiert er nicht.

«Ich gehe jetzt einfach»

Als Marens Einschreiten unumgänglich wird, durchläuft sie als alleinerziehende Mutter gerade selbst eine schwierige Phase. «Es war paradox», erzählt sie. «Ausgerechnet in dem Augenblick, wo ich mir fürsorgliche Grosseltern gewünscht hätte, waren sie auf meine Hilfe angewiesen.» Maren Wurster ist wütend auf ihre Eltern. Darauf, dass sie sich auch jetzt wieder um sie kümmern muss – wie zu Kindertagen, als der Vater täglich betrunken war.

«Manchmal war ich wirklich verzweifelt. Ich dachte: Ich gehe jetzt einfach!»

Ihr dunkelster Moment ist der Tag, an dem sie ihre Mutter ins Heim bringt. Dass das keine «Pension» ist, merkt die Mutter, als sie eine Frau im Bett liegen und an die Decke starren sieht. Sie fängt an zu weinen. Die Leiterin fordert Maren auf, zu gehen.

Ich drehe mich um und trete wieder auf den Flur. Mama kommt mir nach, ihr Schluchzen ist in ein Schreien übergegangen. Sie schreit meinen Namen, alles Ablehnende der vergangenen Tage ist verflogen (…). Sie folgt mir, weil sie doch sonst verloren ist. Sie holt mich ein und hält mich am Ärmel fest. Ich spüre ihre Kraft. Ich reiße mich los und fange an zu rennen. (S. 89)

Gegen den Willen ihrer Mutter und mit nur mässiger Unterstützung des Vaters trifft Maren Wurster eine Entscheidung, von der sie damals nicht weiss, ob sie richtig ist. In ihrer inneren Zerrissenheit ist sie kurz davor, ihre Eltern sich selbst zu überlassen. «In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich dachte mir, ich lass meine Mutter jetzt mit Papa in der Wohnung bleiben – und irgendwann kommt der Anruf. Der Anruf, dass etwas passiert ist.»

Maren Wurster ist das einzige Kind, der Anruf vorprogrammiert. Das zu akzeptieren, fällt ihr schwer. Doch die Unausweichlichkeit des Moments ist es auch, die ihr die Kraft zum Handeln gibt.

Sie muss sich kümmern. Niemand sonst wird es tun.

Die Mutter bleibt im Heim. Der Vater zieht kurze Zeit später zu ihr in eine Wohngemeinschaft. Die beiden blühen noch einmal auf, erfahren eine umsorgte Zweisamkeit, die sie vorher in ihrer verwahrlosten Wohnung nicht hatten. Das versöhnt Maren Wurster mit ihrer Entscheidung. Das Gefühl, ihrer Mutter Gewalt angetan zu haben, bleibt.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Das Recht loszulassen

Es geht der Mutter gut im Heim. Sie und ihr Mann ergänzen sich: Sie schiebt seinen Rollstuhl, er zeigt die Richtung an und gibt ihr Orientierung. Nur mit der Körperpflege klappt es nicht. Marens Mutter will sich nicht duschen und ankleiden lassen. Die vormals elegante Frau schämt sich, dass sie sich nicht mehr selbst pflegen kann.

Selbst jetzt noch, da die Pflegerinnen und Pfleger ihr das Brot in kleine Würfel schneiden und sie füttern, ordnet sie ihre Haare mit den Händen, sobald sie einen Spiegel sieht. Erst später, Papa, verstehe ich, dass sie, auch wenn sie es mit fettigen Haaren und Flecken im Schritt tat, um ihre Würde gekämpft hat. (S. 106)

«Ihre Verweigerung hat mich so zornig gemacht», erzählt Maren Wurster. «Heute wünsche ich mir, ich hätte die Zusammenhänge früher verstanden. Oft kam von mir nur Widerstand.»

Beim Verstehen hilft Maren auch das Schreiben. Schreibend erkundet sie, wer ihre Eltern sind, welche Erlebnisse sie geformt haben. Was sie zutage fördert, versöhnt sie mit der Distanziertheit ihrer Mutter: «Es machte mich weicher ihr gegenüber, weil ich gesehen habe, unter welch schlechten Bedingungen sie ins Leben gestartet ist.»

Marens Mutter wird bei Fliegeralarm geboren. Das Blut läuft der Grossmutter noch an den Beinen herunter, als sie mit dem Neugeborenen in den Bunker flieht.

Bis Kriegsende geht es nur ums Überleben, und auch danach ist für Nähe und Geborgenheit kein Platz: Der Vater ist in Gefangenschaft, die Mutter arbeitet Tag und Nacht, um die Familie zu versorgen.

Als der Besuchsstopp kommt, darf Maren als einzige Angehörige ihre Eltern im Heim besuchen. Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Die Ärzt:innen und Pfleger:innen stehen unter Strom, fast alle Bewohner:innen sind krank, doch das Personal tut alles, um die Isolation erträglicher zu machen. Dennoch kommen bei vielen dunkle Erinnerungen hoch, an das Ausharren im Bunker und Kriegsgefangenschaft.

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Auch Marens Mutter sitzt allein in ihrem Zimmer. Maren besucht sie in einem Schutzanzug. In der Zeit von Social Distancing kommt es zu einem Moment der Nähe: einer Umarmung, die Minuten anhält. «Ich weiß nicht, wieso, aber ich kann sie wieder berühren, sie wieder umfassen», schreibt Maren Wurster in ihrem Roman.

Täglich rufen die Verwandten des Vaters an und erkundigen sich nach ihrem Befinden. Anders die Familie der Mutter: Keines der Geschwister meldet sich. Die Kälte, symptomatisch für die mütterliche Linie, zeigt sich auch jetzt.

Dass Kälte und Einsamkeit auch Teile von ihr sind, weiss Maren Wurster.

Sie weiss aber auch, dass der Schlüssel zur Heilung in ihr liegt. Ihren Sohn erzieht sie anders, als sie erzogen wurde. Gute Eltern? «Das sind Eltern, die die Empfindungen des Kindes als wahr annehmen, die das nicht abtun.» Diese «berechtigte Wahrnehmung» gilt auch für Menschen mit Demenz.

Und was macht gute Kinder aus? Müssen sie sich um ihre Eltern kümmern? «Um den Bürokratiekram muss man sich juristisch gesehen kümmern. Mehr nicht. Ich halte es für fatal, wenn Kinder meinen, sie müssten emotional etwas leisten. Das zu tun ist eine freie Entscheidung. » Maren Wurster hat sich dafür entschieden, doch sie betont: «Man hat das Recht, loszulassen.»

Nur noch die Tour de France schauen

Nach der traumatischen Einlieferung auf die Intensivstation äussert Marens Vater seinen Sterbewunsch. Maren respektiert seine Entscheidung, den Katheter nicht mehr wechseln zu lassen und keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen.

Doch dann – unverhofft – kehrt der Lebenswille zurück. Er wolle die Tour de France noch fertigschauen, sagt er. Er isst wieder und nimmt die Therapien auf. «Es war für ihn wichtig, aus einer geborgenen und selbstbestimmten Situation heraus den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen», vermutet Maren Wurster.

Die darauffolgenden acht Monate auf der Intensivstation schenken Maren Wurster wertvolle Zeit mit ihrem Vater. Er erzählt von seiner Kindheit, von der Heuernte und geselligen Abenden. Sie fragt nach, nimmt ihn auf Tonband auf. Es ist die Suche nach Zusammenhang, nach Sinn. Sie fühlt sich wie eine Archäologin, die Bruchstücken nachspürt.

Beim Schreiben merkt sie: Alles hängt mit allem zusammen. Ihre Kindheit, die Erfahrungen ihrer Eltern und Grosseltern. Die Themen und Muster werden über Generationen ins Jetzt weitergereicht. Jeder versucht die Fehler der Älteren zu vermeiden, macht neue.

«Mir war nicht klar, wie stark diese Felder sind, in denen meine Eltern aufgewachsen sind, wie stark die Wiederholungen über Generationen hinweg sind», sagt Maren Wurster. Auch sie hat Erfahrungen mit Sucht gemacht, kämpft immer wieder gegen Gefühle von Einsamkeit an.

Doch es ist nie zu spät, etwas zu ändern. Als Marens Vater zur Mutter ins Pflegeheim zieht, hört er mit dem Trinken und dem Rauchen auf. Er, der immer wieder das Steuer herumreissen wollte, der Sucht aber dann doch nachgab, sein Leben lang.

Der torfige Geruch vom Alkohol ist weg, der Rauch auch. Alle Sucht ist von dir abgefallen. Du und dein Geruch kommen klar zum Vorschein, eine fruchtige Tulpe. Schön seid ihr. (S. 119)

Papa stirbt

Seine Angst, wie sein krebskranker Vater qualvoll zu ersticken, erfüllt sich für Marens Vater nicht. Er wird palliativmedizinisch betreut und entschläft friedlich.

«Ich erlebte ihn als gelassen und selbstbestimmt, obwohl er bettlägerig war und Schmerzen hatte», erinnert sich Maren. «Dass es zu Ende ging, verstärkte die Gelassenheit, die er schon immer hatte.» Diese Haltung erlaubte es ihm, «jahrzehntealte Dämonen» loszulassen.

Das Pflegeheim ermöglicht es Maren Wurster, in einer dreitägigen Totenwache von ihrem Vater Abschied nehmen. Ihr Sohn ist dabei. Die beiden sprechen mit dem Vater, an dessen Seite ihr Feldbett steht. Die Erfahrung ist für Maren heilsam und berührend:

«Ich habe erlebt, wie sich die Seele vom Körper löst. Heute glaube ich, dass der Tod nur ein Übergang ist.»

Aus Angst vor einem Schub will Maren Wurster ihre Mutter erst nicht über den Tod ihres Mannes informieren. Fünfzig Jahre waren die beiden verheiratet, er war ihr Anker. Doch die Bestatterin überzeugt Maren schliesslich: «Ihre Mutter hat ein Recht, das zu erleben und auf ihre Weise zu verarbeiten. Die beiden sind verbunden, sie weiss es sowieso.»

«Mama stand an Papas Totenbett und hat alles verstanden», erinnert sich Maren. «Ganz klar hat sie über meinen Vater gesprochen. Dann hat sie sich mir zugewandt und mich getröstet.» Als Maren mit der Bestatterin den Leichnam wäscht, beginnt die Mutter zu singen. Let it be von den Beatles. «Das war wunderbar. Es hat so gut gepasst und dem Moment die Schwere genommen.»

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Die Trauer erreicht auch Marens Mutter. «Sie hat über jede Kleinigkeit geweint, über jeden abgefallenen Knopf.» Irgendwann wird es besser. Heute geht es der Mutter sehr gut. «Eine demenzerfahrene Freundin von mir bezahle ich, damit sie meine Mutter zusätzlich besucht. Sie spricht Schwäbisch, den Dialekt meiner Mutter, und bringt ihr schwäbische Gerichte mit. Die beiden besuchen Konzerte, gehen spazieren, singen. Mama ist glücklich.»

Der Tod der Eltern bedeutet eine Zäsur. Er offenbart die eigene Endlichkeit, zeigt, wie verletzlich wir sind. Mit ihm drängen Themen heran, die unter Verschluss waren. Damit haben Sterben und Tod auch transformatorische Kraft.

«Als meine Eltern krank wurden, war das für mich zunächst eine absolute Katastrophe», erzählt Maren Wurster. «Es war eine doppelte Belastung zur falschen Zeit.» Heute ist Maren froh, dass sie durch diese Aufgabe Gelegenheit hatte, ihre Eltern anders kennenzulernen. Es war eine «lichtvolle Zeit», die die Schlacke dreier Leben an die Oberfläche gespült hat. Die Gefühle von Einsamkeit und Distanz – aufgelöst in einer existenziellen Krise: «Am Ende waren wir einander ganz nah.»

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