Das Kind, das du einst warst
Auf der Suche nach dir finde ich in meinem Notizbuch Anekdoten, – kleine, kleinliche Begebenheiten, von denen ich selbst nicht weiß, weshalb sie mir soviel bedeuten.
Einmal sagst du: »Ich will dich nicht ablenken …« – »Dann lenk mich nicht ab!«, antworte ich von meinem Schreibtisch her. Und wir lachen beide.
Einmal sagst du: »Ich hab‘ ja so geschwitzt!« – »Ich auch«, sage ich. Gespielt empört sagst du: »Kann man hier eigentlich mal etwas allein machen!?«
Wir taten so, als ob wir lebten. Doch hielten wir uns nur an Ereignissen fest, die uns herumschubsten, und unterdessen wurden wir alt.
Auf der Suche nach dir finde ich letzte Fetzen von Bildern, die, über Jahre verstreut, noch Erinnerung sind.
Im Notizbuch steht:
»Ich sitze am Ufer, und du gibst dich den Wellen hin: ›Damit ich zufrieden bin‹, sagst du, – ohne Anspruch an die Welt. Und wenn du am Schluss deines Bads den Kopf ins salzige Wasser eintauchst und beim Luftholen triumphierend mich ansiehst, meine ich das Kind zu erkennen, das du einmal warst.
Später streichst du den Sand aus den Zwischenräumen deiner Zehen, ganz in dich vertieft. Und ich schreibe, auf meinem Klappstuhl sitzend, dass ich jeden unvermittelt liebe, der ganz bei seiner Sache ist, denn ich selbst bin selten ohne Distanz zu mir.
Könnte ich mich doch auch auf die unruhigen Wellen legen wie du, ich würde mich tragen lassen, vom Salzwasser überspült, das ich mir aus den Augen riebe. Ich würde in den Himmel schauen und hoffen, dass am nächsten Tag weniger Wind wäre.«
Ich meinte ein Leben zu leben, wie es mir aufgetragen sei, und lebte nur in Bildern der Sicherheitszone.
Im Notizbuch steht: »Du schwimmst aus dem Schatten des großen Felsen, in dessen Höhle ich sitze. Ihr Vorsprung über mir begrenzt den Himmel kaum. Von Süden her schwankt ein Fischkutter im Nordwind, und ein weißer Schmetterling tanzt über den Sand ihm entgegen.«
Was heißt schon »normal«?
Ein halbes Jahr später stürze ich mich mit selbstvernichtender Lust in die Welt der Kollektive der Mütter, die es mir anfangs immer einfach machen, denn ich bin gefragt und gesucht.
Doch auch dieses Mal lassen sie mich bald nach der Anstellung fallen, weil ich eine andere bin und weil ich schon immer eine andere war. Es ist, als ob alle etwas wüssten, was ich über mich nicht wissen darf. Es ist, als ob die Worte, mit denen sie die Sätze verbauen, sich mir nur von weitem entziffern.
Hätte ich je von mir behaupten können, ich sei »normal«, wie sie es von sich behaupten, wäre alles in Ordnung – auch die Unordnung.
»Wer bist du?«, schreibe ich. Und: »Ich lerne dich auswendig.« Aber was will ich auswendig lernen? Du bist immer mit mir, aber auch du schweigst.
Das Unglück dauert nur eine Sekunde
Beim Besuch meines Bruders verrate ich dich – und merke es erst später.
Beim Abendessen mit Freunden verrätst du mich – und ich merke es auch erst später.
Doch manchmal durchfährt mich die Wahrheit, und ich schreibe: »Wenn ich dich sehe, bist du ein Anderer.« – Und ich erkenne deine Trauer.
Wir sitzen am Küchentisch, und das Schwere steht zwischen uns, wie unsere leergegessenen Teller, die wir nicht abräumen. Ich sage: »Es ist die Angst vor dem Alter. Es ist die Angst vor der Angst vor dem Alter. Wir bleiben an Bildern hängen aus den Jahren, die wir meinen verloren zu haben. Aber diese Bilder rauben uns das Jetzt.«
Und plötzlich weicht das Schwere von uns, und du stehst auf und spülst die Teller.
Doch ist mir, als wenn ich schon üben müsste, allein zu sein.
Und ich schreibe ohne Einsicht, aber mit rationaler Idealisierung: »Ein Unglück dauert vielleicht eine Sekunde. Von da an sehen wir das künftige und das vergangene Leben unter seinem Einfluss.« Aber wenn ein Unglück wirklich eintrifft, ist man erstaunt darüber, welchen Einfluss es hat.
(Fortsetzung folgt.)