Blog Wolkenfische: Demenz zu Hause – wie lange noch?
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Wolkenfische (8)

Demenz zu Hause – wie lange noch?

Eine Frau schaut auf einen Gebirgsfluss

Die Demenz ihres Mannes bringt Susanna Erlanger stark an ihre Grenzen. Symbolbild DALLE

Durch die Demenz ist mein Mann Marc unruhig und anhänglich. Ich kann kaum noch schlafen, weil ich ihn nachts wandern höre. Wie lange geht es noch, bis Marc in ein Heim muss?

Tüchtigkeit und Stärke, Bestimmtheit und Strenge und helfen, helfen, helfen. Das war das Lebensmuster meiner frühen Jahre. Unsere Ehe hatte mich davon befreit. Doch nun ist dieses Helfen wieder da, zusammen mit der Einsamkeit, die wie sein Zwilling dazugehört.

Und immer werde ich gefragt: »Wie geht es Ihrem Mann?«

Manchmal stelle ich mir vor, ich stürzte mich in den Fluss, der hier im Dorf nicht tief genug ist, um unterzugehen, doch reißend, um gegen Steinbrocken zu schlagen. Ich stelle mir vor, all die schönen Bücher, die ich hergestellt habe, ins Wasser zu werfen als Sinnbild unserer Katastrophe – und sie würden endlich wahrgenommen, und ich würde endlich wahrgenommen.

Ist dies ein Hilfeschrei? Ja, das ist es: Ein Hilfeschrei an niemanden.

Aber noch geht der Blick aus dem Küchenfenster nach Norden, noch führt hinter den Häusern der Nachbarn der Weg durch das Hochtal hinaus und hinunter durch die Schlucht ins Unterland, aus dem wir hergekommen sind. Noch ist dieser Blick das Ergebnis unseres Wagnisses, das mehr hätte sein sollen als Mann und Frau und das mehr hätte werden sollen als ein ‹Ja›.

Es ist noch nicht lange her, da meinte ich, ich sei eine, die liebt, doch nun entpuppe ich mich als eine mit einer irrlichternden Vorstellung über sich. Dass ich uns nicht wahrnahm, dass ich tagträumte, ohne mich zu fragen, wer das wirklich ist, dem ich ‹ja› gesagt habe, das realisiere ich erst jetzt. Und erst jetzt fällt mir auf, dass du zu meinem Träumen geschwiegen hast.

Wahrnehmen und Nachfragenwäre der Schlüssel gewesen zu dir und zu mir, der Schlüssel, den ich nicht in die Hand genommen habe. Und jetzt, wo ich ihn ergreife, finde ich nicht mehr dieselben Menschen vor, die wir waren.

Kaufsucht und Wollmützen im Bett

»Ich weiß es nicht mehr«, ist einer deiner neuen Sätze. Ein Satz, der dich fassungslos zurücklässt. »Ich weiß es nicht mehr.« Und: »Es ist nichts mehr.«

Du suchst deine Lammfellhandschuhe und die Wollmütze und ziehst sie an, als ob sie dich zusammenhalten könnten. Du ziehst sie an im Bett, in der Küche, neben mir am Schreibtisch. Vor dem Schlafen rollst du dich in die Bettdecke ein, schlingst sie um dich, ganz eng, als ob du deine Grenzen spüren müsstest – und es braucht unerträglich viel Zeit, bis du Ruhe findest.

Und ja: Ich bin genauso wie du auf einer Reise zum Rand der Möglichkeiten und überdecke die Leere ebenso mit der Suche nach meinen Grenzen, um nicht verloren zu gehen.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Unser bürgerliches Leben ist in Unordnung geraten. Wir sind aus ihm herausgeschleudert und lassen immer noch nicht los. Ich schütte mich mit Dingen zu, decke mich ein, bis kein Platz mehr in den Schränken ist, und die Teppiche doppelt liegen. Tagelang suche ich das Richtige auf Auktionsseiten im Internet, als ob ich die Teile meines zerbrechenden Lebens noch mit Gefundenem zusammenhalten könnte.

Und du sitzt immer neben mir und bist zufrieden, dass du neben mir sitzen darfst.

Und ich wende den Blick ab von deinem, der meinen sucht und fleht, die Bedürftigkeit ungeschehen zu machen und das schwindende Selbst. – Dieser Blick dringt in mich, unerträglich distanzlos, doch anrührend, bis ich in mir ganz verschwinden muss.

Werde ich in einem Jahr noch wissen, worüber ich hier schreibe? Werde ich noch wissen, wie sie waren, die nächtlichen Stunden – durchweint? Werde ich mich in einem Jahr noch daran erinnern, wie es ist, auf dem Sofa zu sitzen, auf dem ich nun auch schlafe, und den Raum so klar zu sehen und in meinem Rücken die Nacht zu spüren, die hervorkriecht? Nie sehe ich klarer, als wenn ich geweint habe. –
Werde ich mich in einem Jahr noch daran erinnern?

Und am nächsten Morgen beruhige ich dich: »Alles ist gut, alles ist in Ordnung!« Aber gerade die Ordnung, die wir unserem Leben gaben, stellst du jetzt infrage, jeden Tag neu: »Warum muss ich Schuhe anziehen? Warum brauche ich eine Jacke? Warum muss ich die Zähne putzen? Warum muss ich mich rasieren?« Und so weiter und so weiter.

demenzwiki

Altersheim

Menschen mit Demenz können zu Hause leben, wenn sie Unterstützung bekommen. Mit dem Fortschreiten der Krankheit lässt sich ein Umzug ins Heim oft nicht … weiterlesen

Du entgleitest mir

Ich halte dich, ich halte stand. Zudecken, einwickeln, eng machen, sichern, bis die Haut zu spüren ist. Und dann predige ich der Nachbarin am Telefon, sich gegen die Angriffe des Schicksals nicht zu wehren, ihnen mit Weichheit den Wind aus den Segeln zu nehmen, und so weiter und so weiter …

Später entgleisen mir meine Gesichtszüge für Stunden, weil ich mit einer Ungeheuerlichkeit, mit der du mich erschreckt hast, nicht fertig werde. Mein Gesicht entgleist, mein Leben entgleist, und du entgleitest mir. »Den Angriffen den Wind aus den Segeln nehmen …« – Was für eine Anmassung!

Mail an C.:

Ich gehe sehr beruhigt an die Frühjahrsmesse. M. ist seit heute im Bezirkshauptort im ‹Ferienzimmer› eines Altersheims, das spezialisiert ist auf Alzheimer-Demenz. Er hat letzte Woche schon in der dortigen Tagesstruktur ‹geschnuppert› und mit einem ehemaligen Tierarzt geplaudert, der ein Bewohner des Heims ist.
Das Heim hat ein gutes Konzept, die Pflegenden werden weitergebildet, die Räumlichkeiten sind für die Bedürfnisse der Demenzerkrankten gebaut und bieten unglaublich viel Platz. Außerdem hat es einen großen Garten.

Wochen später ein Glas Wein nach langer Zeit und eine kurze Vergnügungsreise. Lust und Leichtigkeit, in der Welt zu sein.

Am Abend wickelst du dich in deine Bettdecke, stehst auf und wickelst dich von Neuem ein, immer wieder. Nach ein oder zwei Stunden des Schlafs stehst du neben mir und weckst mich: »Bist du noch da?« Ich bringe dich ins Schlafzimmer zurück und helfe dir, dich wieder einzuwickeln. Dann lege ich mich von Neuem aufs Sofa, um nach zwei Stunden wieder geweckt zu werden. Im Halbschlaf höre ich dich im Flur hin und her tappen.

Marc muss ins Pflegeheim

Es gibt keinen Moment mehr, in den ich mich fallenlassen könnte, weder am Tag, noch in der Nacht. Es ist, als ob du mein Leben besetzt hieltest. Doch die Enge, die mich erdrückt, beschwört gleichzeitig meine Sicherheit.

Und dann ist der Moment da – ohne ein Mittel dagegen, ohne Einwand, – 8. Mai: Der andere Ort, das Pflegeheim.

Ich trockne die Tränen
Ich trockne mein Kind mit dem großen
Tuch der Gegenwart
Ich trockne es nach dem Bad
Ich trockne die Brüste der Frau
die Schenkel
Du und ich sind zwei
Der Riss ist jetzt, doch er ist Jahre alt

Mail an H.:

M. ist im Pflegeheim, seit letztem Dienstag, voraussehbar und plötzlich zugleich: ein Schnitt, der wehtut.
Und – wie Du auch von Dir erzählt hast – nebst dem Schmerz plagen mich Schuldgefühle: zu früh aufgegeben zu haben, zu wenig liebevoll gewesen zu sein, ihn immer noch als den Mann gesehen zu haben, mit dem ich verheiratet bin und ihn damit überfordert zu haben. Auch das Heim und die Alzheimerberatung sagen, dass solche Selbstvorwürfe normal seien; wenn ich’s denn für mich glauben könnte.

Nun sitze ich hier an diesem schönen Ort, in dieser schönen Wohnung mit den drei Balkonen und bin allein und frage mich, wozu das alles gut ist – ohne ihn.

Mail an C.:

Dass ich mehr Zeit für mich habe, kann man so sagen: M. ist nun im Pflegeheim seit einer Woche. Es ging sehr schnell. Sie hatten eine Schlafnische frei im Gemeinschaftsraum für Alzheimerpatienten. Und ich wollte unbedingt, dass er dort ein Bett hat, um nicht in einem Einzelzimmer schlafen zu müssen. Alzheimerpatienten haben Angst in der Nacht, wenn sie allein sind. Das habe ich auch erfahren müssen.

Ich habe wieder Zeit für mich, ja, aber ich bin fürchterlich traurig, dass er nicht mehr da ist.

(Fortsetzung folgt.)

Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise ihre persönlichen Texte zur Verfügung stellt.