Du entgleitest mir
Ich halte dich, ich halte stand. Zudecken, einwickeln, eng machen, sichern, bis die Haut zu spüren ist. Und dann predige ich der Nachbarin am Telefon, sich gegen die Angriffe des Schicksals nicht zu wehren, ihnen mit Weichheit den Wind aus den Segeln zu nehmen, und so weiter und so weiter …
Später entgleisen mir meine Gesichtszüge für Stunden, weil ich mit einer Ungeheuerlichkeit, mit der du mich erschreckt hast, nicht fertig werde. Mein Gesicht entgleist, mein Leben entgleist, und du entgleitest mir. »Den Angriffen den Wind aus den Segeln nehmen …« – Was für eine Anmassung!
Mail an C.:
Ich gehe sehr beruhigt an die Frühjahrsmesse. M. ist seit heute im Bezirkshauptort im ‹Ferienzimmer› eines Altersheims, das spezialisiert ist auf Alzheimer-Demenz. Er hat letzte Woche schon in der dortigen Tagesstruktur ‹geschnuppert› und mit einem ehemaligen Tierarzt geplaudert, der ein Bewohner des Heims ist.
Das Heim hat ein gutes Konzept, die Pflegenden werden weitergebildet, die Räumlichkeiten sind für die Bedürfnisse der Demenzerkrankten gebaut und bieten unglaublich viel Platz. Außerdem hat es einen großen Garten.
Wochen später ein Glas Wein nach langer Zeit und eine kurze Vergnügungsreise. Lust und Leichtigkeit, in der Welt zu sein.
Am Abend wickelst du dich in deine Bettdecke, stehst auf und wickelst dich von Neuem ein, immer wieder. Nach ein oder zwei Stunden des Schlafs stehst du neben mir und weckst mich: »Bist du noch da?« Ich bringe dich ins Schlafzimmer zurück und helfe dir, dich wieder einzuwickeln. Dann lege ich mich von Neuem aufs Sofa, um nach zwei Stunden wieder geweckt zu werden. Im Halbschlaf höre ich dich im Flur hin und her tappen.
Marc muss ins Pflegeheim
Es gibt keinen Moment mehr, in den ich mich fallenlassen könnte, weder am Tag, noch in der Nacht. Es ist, als ob du mein Leben besetzt hieltest. Doch die Enge, die mich erdrückt, beschwört gleichzeitig meine Sicherheit.
Und dann ist der Moment da – ohne ein Mittel dagegen, ohne Einwand, – 8. Mai: Der andere Ort, das Pflegeheim.
Ich trockne die Tränen
Ich trockne mein Kind mit dem großen
Tuch der Gegenwart
Ich trockne es nach dem Bad
Ich trockne die Brüste der Frau
die Schenkel
Du und ich sind zwei
Der Riss ist jetzt, doch er ist Jahre alt
Mail an H.:
M. ist im Pflegeheim, seit letztem Dienstag, voraussehbar und plötzlich zugleich: ein Schnitt, der wehtut.
Und – wie Du auch von Dir erzählt hast – nebst dem Schmerz plagen mich Schuldgefühle: zu früh aufgegeben zu haben, zu wenig liebevoll gewesen zu sein, ihn immer noch als den Mann gesehen zu haben, mit dem ich verheiratet bin und ihn damit überfordert zu haben. Auch das Heim und die Alzheimerberatung sagen, dass solche Selbstvorwürfe normal seien; wenn ich’s denn für mich glauben könnte.
Nun sitze ich hier an diesem schönen Ort, in dieser schönen Wohnung mit den drei Balkonen und bin allein und frage mich, wozu das alles gut ist – ohne ihn.
Mail an C.:
Dass ich mehr Zeit für mich habe, kann man so sagen: M. ist nun im Pflegeheim seit einer Woche. Es ging sehr schnell. Sie hatten eine Schlafnische frei im Gemeinschaftsraum für Alzheimerpatienten. Und ich wollte unbedingt, dass er dort ein Bett hat, um nicht in einem Einzelzimmer schlafen zu müssen. Alzheimerpatienten haben Angst in der Nacht, wenn sie allein sind. Das habe ich auch erfahren müssen.
Ich habe wieder Zeit für mich, ja, aber ich bin fürchterlich traurig, dass er nicht mehr da ist.
(Fortsetzung folgt.)
Wolkenfische
Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger