«Das hält kein Mensch aus!» - demenzjournal.com
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Gedanken

«Das hält kein Mensch aus!»

Den Menschen so zu begleiten, dass er sich selbst aushalten kann, stellt sich als unsere grosse Herausforderung dar. Bild PD

Angehörige und Betreuende von Menschen mit Demenz müssen manchmal viel aushalten. Vor allem, wenn sich der Betroffene herausfordernd verhält.

«Das hält kein Mensch aus»: Das sagen wir immer dann, wenn Menschen etwas aushalten müssen, das uns nicht aushaltbar erscheint, wenn Verhaltensweisen nicht mehr in unseren Massstab passen, den wir uns im Laufe des Lebens zugelegt haben. Es sind Verhaltensweisen, welche den Erkrankten selbst betreffen, aber auch das betreuende Umfeld.

Dass viele Menschen lieber tot als dement sein möchten, ist in diesem Zusammenhang nachvollziehbar. Solche Grenzüberschreitungen sind für uns nicht vorstellbar – seien wir Betroffene, Angehörige oder Pflegende.

Muss eine Pflegekraft Schläge ertragen, Anschuldigungen, verbale Aggressionen, verletzende Wörter, ungewollte Berührungen?

Um welche Verhaltensweisen geht es? Es sind Menschen in unvorstellbaren Situationen, die weit weg sind von unserem Normverständnis. Dieses veränderte Normverständnis, diese Verschiebungen, in dem was gilt und was nicht gilt, bereiten uns grosse Mühe. Wir alle wissen, dass unterschiedliche Normen gelten. Wir sind stolz darauf, dass in der Sonnweid Raum ist für ein grösseres, anderes Normverständnis. Wir sind stolz auf die Mitarbeitenden, die dies überhaupt erst möglich machen.

Wir gestalten und bauen so, dass Menschen mit anderen Normen gut bei uns leben können. Und doch sind wir mit Verhaltensweisen konfrontiert, die auch unseren Rahmen sprengen. Verhaltensweisen zum einen, die sich gegen andere, gegen Mitbewohner, gegen Personal, gegen Angehörige richten. Zum anderen sind es Verhaltensweisen, die sich gegen die Person selbst richten.

Es sind Zustände von Menschen, die uns einfach nur traurig machen. Was sind das für Zustände, die hier gemeint sind?

Da gibt es diesen Arzt, der sich in seiner Demenz verloren fühlt. Er setzt sich stundenlang mit seinen Medikamenten auseinander und kommt zu keinem Ergebnis. Er schaut mit dem tieftraurigen Blick eines Mannes, der nur noch traurig schauen kann. Sein Blick fragt auch nach dem Warum. Es ist ein Blick, der monate-, ja jahrelang bis zu seinem Tod nicht mehr weg geht. Es ist der Blick eines Mannes, der im Stehen schläft und dann vornüberkippt wie ein Stein. Da ist das Bild der Frau, die lange nichts mehr gesprochen hat. Als ihre Tochter gefragt wird, ob sie Geschwister habe, sprach die Frau plötzlich wieder: «Er hat sich erschossen». Es war der letzte Satz, den sie in ihrem Leben sagen sollte.

Man fragt nach dem Warum. Warum erleiden Menschen solche Schicksale? Gibt es einen tieferen Sinn? Für wen kann es einen tieferen Sinn geben? Das Spektrum menschlichen Glücks und Leids ist unermesslich gross. Und so erscheinen mir solche Menschen als Vertreter der «Leidfraktion».

Das Ziel muss sein, diese Menschen darin zu begleiten, mit diesem Leid den Weg zu finden, der geprägt ist von Wertschätzung, erfahrbarer Liebe und spürbarer Beziehung.

Der Betroffene ist nicht schuld an seiner Situation, er hat einfach kein Glück gehabt. Es gibt sie nicht, die grosse Rechnung. Am Ende sind alle Posten ausgeglichen.

Menschen in solch schwierigen Situationen zu begleiten bedeutet, sich darin zu üben, ihnen nahe sein zu können. Fachliche und menschliche Kompetenz können gemeinsam entwickelt werden, damit dem Betroffenen ein bedingungsloses «Ja» entgegengebracht werden kann. Nur so ist der Mensch in seinem tiefsten Kern erreichbar. Ihn so zu begleiten, dass er sich selbst aushalten kann, stellt sich als unsere grosse Herausforderung dar.

Pflegende sind aufgefordert, sich dieser persönlichen Entwicklung zu stellen und sich darin zu üben, dieses Begleiten zu erlernen.

Dann kann eine Haltung im Einzelnen entstehen, welche die Haltung einer Institution prägt. 

Menschen, die am Anfang einer dementiellen Erkrankung stehen: Was ist ihnen wichtig, wenn sie an den Verlauf ihrer Krankheit denken? Ist die Angst vor Kontrollverlust das prägende Gefühl? Ist es der Wunsch, keine Hilfe annehmen zu müssen? Steht der Wunsch im Vordergrund, sich aktiv für ein erfülltes Leben einzusetzen? Gibt es Überlegungen, dem eigenen Leben frühzeitig (wann ist das?) ein Ende zu setzen? Würde das Wissen um solch schwierige Verhaltensweisen den Entscheid beeinflussen?

Der Verlust über die Kontrolle der Körperfunktionen stellt einen Einschnitt dar, weil er oft noch bewusst erlebt wird und sich dann Scham ausbreitet.

Das Wahrnehmen des Verlustes kann Wut auslösen, Wut auf die Situation, und diese Wut kann sich gegen alles richten, das in direktem Kontakt steht zum Betroffenen – inklusive Angehörige und Pflegende, die ihn liebevoll begleiten.

So entsteht eine Verbindung zwischen dem Kranken und dem Gesunden: Für den Kranken ist der Gesunde Projektion des eigenen Schicksals, für den Gesunden ist der Kranke Projektion des Widerspruchs, Guteszu tun wollen und gleichzeitig der Böse sein zu müssen.

Dies entspricht nicht dem Bild des Pflegenden, das er selber von sich hat und das andere von ihm haben sollten. Es entspricht aber auch nicht dem Bild des Kranken, das er von sich haben wollte. Wenn er doch nur könnte, wäre er nicht so aggressiv, würde nicht schlagen oder schreien.

In diesen Widersprüchen Menschen zu begleiten, ist wohl die grösste Herausforderung, der wir alle uns stellen müssen.