Alzheimer-Logbuch: Der Fisch ist nicht mehr gut
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Unser Törn ins Vergessen (26)

Wir gelangen nicht mehr zu den Sternen

Priel im Wattenmeer

Die Erinnerungen fliessen aus Bernds Kopf wie das Wasser durch die Priele bei einsetzender Ebbe. Bild Privat

Bernd konnte sehr gut schreiben, segeln und kochen. Nach und nach verliert er diese Fähigkeiten, und Birgit fällt es sehr schwer, sich damit abzufinden.

20. Dezember 2022

Deinen ersten Roman »Luftschloss aus Stein« konntest du 1988 veröffentlichen, eine Geschichte aus der Hausbesetzer-Szene, in der sich der junge Hannes aus den Fesseln von autoritärem Elternhaus und ebenso autoritärer Arbeitswelt löst, mit anderen ein Abrisshaus besetzt und die Luft von Freiheit und selbstbestimmtem Leben schnuppert. Und dann ist da noch die herrlich radikale Carol, in die er sich sofort verliebt, eine Liebe, die sich bei der gewaltsamen Räumung durch die Polizei bewähren muss.

Heute würde man den Roman als Coming of Age-Story vermarkten. Damals war es schlicht ein Entwicklungsroman vor aktuellem Hintergrund. Du hast die Geschichte lebendig, atmosphärisch dicht und glaubhaft erzählt, auch wenn du nie in einem besetzten Haus gelebt hast. Damals kam allerdings auch noch niemand auf die Idee, ein Schriftsteller dürfe nicht fiktiv erzählen.

Insgesamt hast du sechs eigenständige Bücher veröffentlicht, einen Lyrikband, ein erzählendes Sachbuch und vier Romane.[1] Ein schmales Werk, wenn man es quantitativ betrachtet. Ein großes, qualitativ gesehen. Du hast langsam geschrieben, deine Texte immer wieder überarbeitet. In den frühen Jahren hast du sie zuerst handschriftlich verfasst. Leider existieren keine deiner Manuskripte mehr, aber ich sehe sie noch vor mir, die Seiten mit den tausend Streichungen, Überschreibungen, Überklebungen, Randnotizen und Hinweispfeilen für Umstellungen. Daraus wurden anschließend Typoskripte, von dir im Einfinger-Suchsystem auf deiner Olympia abgetippt, eine erste, zweite, dritte Fassung und auch in der letzten fanden sich dann noch Tipp-Ex-Korrekturen. Deine letzten beiden Romane hast du dann am PC geschrieben, was dir die vielen Überarbeitungen natürlich sehr erleichtert hat.

Heute ist der Computer-Arbeitsplatz, den A. dir in deinem Kabuff eingerichtet hat, nur noch eine Attrappe. Die Tastatur ist unter Massen von Papieren aller Art begraben und an den Monitor hast du Fotos geklebt. Manchmal schreibst du noch einen Satz auf die Rückseite von einem Kalenderblatt oder an den Rand eines Einkaufszettels, einen Satz, den du für deine Literatur verwenden willst und den du mir vorliest, wenn du ihn irgendwann wiederfindest. Du verstehst ihn nicht und schaust mich fragend an.

26. Dezember 2022

Heute gibt es Resteessen, wie fast immer am 2. Weihnachtstag. Eine große Schale Kartoffelsalat (mit Rote Bete, Gürkchen, Apfel und Frühlingszwiebeln) wartet darauf, von uns beiden vertilgt zu werden. Vom Fisch (Steinbeißer, Kabeljau und Wildlachs) ist nichts mehr übrig. Bratfisch ist seit vielen Jahren unser Traditionsgericht zu Weihnachten. Daran hat sich nichts geändert, aber an der Zubereitung. Früher warst unangefochten du derjenige, der für Fisch zuständig war, ob gebacken, gekocht oder gebraten.

Deine Finkenwerder Kutterscholle war so legendär wie deine Erzählungen von den Fischbratkünsten deiner Großmutter.

Am Heiligabend war dein Platz an der Bratpfanne und ich habe dir zugearbeitet, habe die Fische trocken getupft und sie gesalzen. Dass die Fische gut trocken waren und erst direkt vor dem Braten gesalzen wurden, war dir immer besonders wichtig, damit sie schön krosch wurden. Sie schmeckten uns allen köstlich.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was die ersten Alzheimer-Anzeichen bei dir gewesen sind, fällt mir rückblickend ein, dass mir vor etlichen Jahren deine Finkenwerder Kutterscholle nicht mehr so gut schmeckte wie gewohnt. Während du bis dahin ein untrügliches Gefühl dafür hattest, wann der Fisch à point war, brietst du ihn plötzlich viel zu lange. Das Eiweiß wurde zäh und kaugummiartig. Auf meine zarten Hinweise gingst du aber nicht ein, im Gegenteil. Du hieltest mir lange Vorträge darüber, dass die Schollen im Restaurant nie richtig durchgebraten seien und verlängertest mit jedem Mal noch die Bratzeit.

Deinen eigenen geschulten Geschmack konntest du mit den Ergebnissen deiner Fischbraterei aber nicht mehr überzeugen und so bist du bereitwillig auf meine diplomatischen Tricks à la Ich muss das ja auch mal lernen eingegangen und hast dir nach und nach den Bratenwender aus der Hand nehmen lassen. In den letzten Jahren stand ich dann vor Familienfeiern an der Bratpfanne und du hast mir zugearbeitet. So könnten wir es dieses Jahr zu Weihnachten auch machen, hatte ich gedacht. Zudem hättest du mit dem Trockentupfen und Salzen des Fisches eine sinnvolle Beschäftigung. Doch weit gefehlt! Plötzlich warst du der Meinung, der Fisch könne ruhig feucht in die Pfanne, er würde ja dort trocknen. Ich hielt dir vor, was ich von dir gelernt hatte: Das Wasser würde das heiße Bratfett zum Spritzen bringen und der Fisch würde schmoren, aber nicht braten. Der wird nicht krosch! Selbst diese Drohung konnte dich nicht überzeugen:

Willst du mir etwa beibringen … Ich, wie man Fisch brät? Ich komme aus einer Fischerfamilie! Meine Großmutter … Ich weiß ja wohl … Trockentupfen? So’n Quatsch … mache ich nicht!

Trockentupfen? So’n Quatsch … mache ich nicht!

Du wurdest immer aufgeregter, zerknülltest das Haushaltspapier und warfst es in die Ecke. Ich musste dich beruhigen und gleichzeitig die vielen Fischfilets trocknen, salzen und braten und geriet prompt in den Stress, in den ich an Weihnachten nicht geraten will. Als die Kinder und mein Bruder kamen, bereitete ich sie entnervt auf eine missglückte Mahlzeit vor. Die Fische waren nicht perfekt, aber auch nicht so missglückt, wie ich befürchtet hatte. Es schmeckte allen, auch dir, und es wurde noch ein gemütlicher Abend. Du wirktest auf mich gelöst und machtest sogar ab und zu eine humorvolle Bemerkung.

27. Dezember 2022

Warum kann ich deinen aufblitzenden Humor nicht einfach genießen? Stattdessen blitzt in mir gleich wieder der Gedanke auf: Wie lange noch? Ich weiß doch, dass mir der sorgenvolle Blick in die Zukunft nur die schönen Momente der Gegenwart versaut. Alzheimer in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Vielleicht die moderne Forschung, aber für dich wird das zu spät kommen. So ist die Lage und ich habe sie anzunehmen! In unserem Fall gilt leider:

Wer sich wehrt, lebt verkehrt.

Ich muss zugeben, mir fällt dieses Akzeptieren des Unvermeidlichen verdammt schwer. Für mich funkelten bisher andere Leitsterne: Aufbegehren, Veränderung, Verbesserung. Und jetzt soll es nur noch darum gehen, sich mit dem Gegebenen abzufinden, sich zu arrangieren, sich auf Verschlechterungen einzustellen, das Beste zu machen aus den sich steigernden Unmöglichkeiten? Per aspera ad astra gilt nicht mehr. Wir gelangen auf rauen Pfaden nicht mehr zu den Sternen. Per aspera ad terra heißt jetzt die Devise. Alle Mühen enden in der Erde, in der wir zu Staub werden. Na, dankeschön!

Partnerschaft und Demenz

Monsieur A. lässt nicht grüßen

Die Schriftsteller:innen Birgit Rabisch und Bernd Hans Martens sind seit 1980 ein Paar. Seit er vergesslich geworden ist, haben die beiden eine Dreiecksbeziehung … weiterlesen

So, dieser kurze lächerliche Tanz verbalen Aufbegehrens musste sein, um jetzt weiter auf dem sinnlosen Pfad zu trotten. Um seine Sinnlosigkeit weiß ich seit meiner Camus-Lektüre in jungen Jahren. Doch damals erschien es mir noch heldinnenhaft, ihm trotzdem illusionslos zu folgen. Ich konnte mir auch Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Heute fällt es mir schwer, mich über das Auffinden von Sachen zu freuen, die du verlegt, oder vielmehr kunstvoll versteckt hast, mich zu freuen, im vollen Bewusstsein, dass ich oft schon zehn Minuten später wieder nach ihnen suchen werde und wieder und wieder ad infinitum.

Alles übertrieben. Alles halb so schlimm. Gerade habe ich den kostbaren Moment erhascht, an dem ich mich freuen kann, dass du dich freust. Am Heiligabend hatte ich deinen Fotoapparat aufgeladen und auf den Wohnzimmertisch gelegt, weil du ein paar Fotos machen wolltest. Danach war ich kurz in die Küche gegangen, um Teller zu holen. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, hatten schon die ominösen Diebe zugeschlagen, die bei uns ein und ausgehen, und hatten deinen Fotoapparat mitgehen lassen. Unsere intensive Suche blieb erfolglos, was dich aber nicht weiter störte, da du deinen alten Führerschein gefunden hast, der prompt die Rolle des gesuchten Objekts für dich einnahm. Heureka, da ist er ja!


[1] Bernd Hans Martens: Ich schrubb von unten, Hamburg 1982; Luftschloss aus Stein, Köln 1988; Land, das dem Meer gehört, Göttingen 1991; Die Heringsbraut, Hamburg 1999; Fällig bei Liebesbruch, Acht 2012; Löcher im Netz, Acht 2018

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Bernd Martens starb am 16. April 2025 im Kreise seiner Lieben.