Alzheimer-Logbuch: Ein verschlafener Jahreswechsel
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Unser Törn ins Vergessen (29)

Eine Zeitlang noch miteinander. Bitte!

Finkenwerder

Bernds Gedanken schweifen oft zurück in seine Kindheit in Finkenwerder. Im Bild das Lotsenhaus an der Elbe. Bild PD

An Sylvester fallen Bernd schon um 20 Uhr die Augen zu. Weder Fotoalben noch Kabarett-Programme halten ihn wach. Doch Birgit ist froh um diese Stunden der Ruhe, die ihr Kraft geben.

31. Dezember 2022, Silvester

Dann ist das jetzt eben so. Gelassen annehmen, was man nicht ändern kann. Ich hoffe, es wird mir auch im nächsten Jahr gelingen.

1. Januar 2023

Den Jahresübergang haben wir zum ersten Mal verschlafen. Schon ab 20 Uhr fielen dir immer wieder die Augen zu. Auch das Betrachten des Logbuchs mit den tollen Fotos von seinem letzten Segeltörn, das S. uns geschenkt hat, konnte dich nur kurzfristig wachhalten, ebenso Dinner for one und verschiedene Kabarett-Programme.

Ich saß neben dir auf dem Sofa und sah dich langsam erst nach vorne und dann zur Seite sacken. Ich sah einen krummen alten Mann, dem Speichel aus dem Mundwinkel lief. Das Bild löste in mir für einen Moment Fremdheit und Hoffnungslosigkeit aus. So wollte ich dich nicht sehen. Ich weckte dich auf, indem ich dir den Mundwinkel abwischte, fand deinen Blick und du warst wieder du, nah und vertraut und hoffnungslos geliebt. Dankbar nahmst du meinen Vorschlag an, ins Bett zu gehen. Eine Stunde vor Mitternacht lagst du in deinem Bett und ich in meinem.

Dein Bett steht in unserem früheren gemeinsamen Schlafzimmer und meins im früheren Kinderzimmer. Diese nächtliche Trennung haben wir schon vor zirka zehn Jahren vorgenommen, als dein Schnarchen mich um den Schlaf brachte und meins dich. Heute bin ich froh darüber, nachts ohne dich allein zu sein, während ich tagsüber mit dir allein bin. Auch wenn ich oft schlaflos liege, geben mir diese Stunden Kraft. Ich bin dankbar, dass du bisher die Nächte ruhig verbringst und nicht herumgeisterst oder gar versuchst, die Wohnung zu verlassen, wie man es von vielen an Demenz Erkrankten hört. Wird das auch noch auf mich zukommen? Mir graut davor.

Auf Facebook habe ich meinen Followern mit Mascha Kaléko ein wunderbar planloses 2023 gewünscht:

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.

Ach, Mascha! Hoffentlich behältst du recht und nicht wieder Brecht:

Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.

2. Januar 2023

Vielleicht klappt wenigstens mein kleiner Plan, den ich mit S. geschmiedet habe. Ich bin sicher, du möchtest mir etwas zu meinem 70. Geburtstag schenken und ich bin genauso sicher, dass du es vergessen wirst. Um zu verhindern, dass du spontan losläufst, um ein Geschenk zu besorgen und dich dann womöglich verläufst, habe ich S. gebeten, dir vorzuschlagen, dass er ein Buch kauft, das ich mir wünsche, und es dir an meinem Geburtstag heimlich zuzustecken, damit du es mir dann feierlich …

So viele Nebensätze braucht es inzwischen, damit du mir ein Buch schenken kannst! Deine Demenz treibt meinen Stil in proustsche Gefilde.

demenzwiki

Tag-Nacht-Rhythmus

Schlafstörungen kommen bei einer Demenz häufig vor und können für die Betroffenen und Angehörigen eine grosse Belastung sein. Es gibt Möglichkeiten, den Schlafrhythmus … weiterlesen

3. Januar 2023

Ich denke über Fiktion und Realität nach. Deine Realität spielt sich immer mehr in der Fiktion ab. Beim Abendbrot fragst du mich regelmäßig:

Sind die Rottgarts noch da?

Hosse Rottgart war ein Junge aus der Nachbarschaft. Die Familie wohnte in dem Mietshaus am Norderdeich, in dem du bei Johnny und seiner zweiten Frau Grete aufgewachsen bist, nachdem deine Mutter gestorben war. Eigentlich hattest du mit ihm nicht viel zu tun. Er war ein paar Jahre älter als du, ein Halbstarker, wie man damals sagte, schwer zu bändigen von seiner verwitweten Mutter. Wenn sie sich gar nicht anders zu helfen wusste, klingelte sie bei Johnny, damit der ein Machtwort sprach.

Eine Szene ist dir besonders im Gedächtnis geblieben: Hosse wollte mal wieder nach St. Pauli rüberfahren, auf der Reeperbahn bummeln nachts um halb ein, hatte aber keinen Pfennig mehr. Als seine Mutter die Tür klappen hörte und gleich darauf entdeckte, dass ihr Portemonnaie fehlte, lief sie in ihrer Not wieder hoch zu Johnny. Der fackelte nicht lange und rannte zum Fähranleger. Die Leinen der Fähre waren schon gelöst, aber Johnny kannte den Schipper und der wartete auf seinen Zuruf bereitwillig eine Minute mit dem Ablegen. Die genügte, damit Johnny Hosse auf dem Achterdeck aufspüren, ihn am Kragen packen und unter lauten Flüchen wieder an Land jagen konnte. Zerknirscht lieferte Hosse das Portemonnaie bei seiner Mutter ab und gelobte unter Johnnys drohenden Blicken hoch und heilig Besserung. Die trat natürlich nicht ein, aber für den laufenden Monat waren Miete und Essen gesichert.

Diese Anekdote erzählst du immer voll Bewunderung, obwohl du selbst unter Johnnys brachialen Erziehungsmethoden doch so gelitten hast. Ich habe Hosse Rottgart nur als literarische Figur kennengelernt, als ich das Manuskript zu deinem letzten Roman »Löcher im Netz« lektoriert habe. Dort hast du diese Anekdote verwertet. Inzwischen ist Hosse Rottgart aber ständig bei uns zu Gast, hat sich offenbar sogar vermehrt, denn du sprichst ständig von den Rottgarts, eine ganze Bande, die regelmäßig unser Wohnzimmer okkupiert.

»Demenz stellt die Gesellschaft vor riesige Herausforderungen. demenzworld bringt die Menschen zusammen, tauscht Erfahrungen aus und vermittelt niederschwellig Wissen.«

Michael Schmieder, Ethiker, Pfleger, Autor und Demenz-Pionier

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Es sind keine Rottgarts in unserer Wohnung, antworte ich dir wahrheitsgemäß und du atmest beruhigt auf:

Gott sei Dank, dass die abgehauen sind! Diese Rottgarts, weißt du, vor allem dieser Hosse, das war nämlich einer, ein richtiger Halunke war das. Der hat sogar mal seiner Mutter das Portemonnaie geklaut. Einer armen Kriegerwitwe! Aber da hat er nicht mit Johnny gerechnet …

Nach dem Abendbrot räumen wir den Tisch ab und ich schlage vor, ins Wohnzimmer zu gehen, versichere dir erneut, dass dort keine Rottgarts sind:

Nur du und ich!

Das ist gut.

Dann lass uns jetzt mal ins Wohnzimmer gehen.

Ja, aber ich muss erst noch nach Finkenwerder. Die warten doch da auf mich. Die wissen gar nicht, wo ich bin.

Doch, die wissen, dass du hier im Hellkamp bist. Hier ist dein Zuhause.

Ja, aber nicht in echt. Hier war ich vielleicht früher mal zuhause. Ich muss nach Finkenwerder, aber ich finde die Adresse nicht.

Die suche ich dir morgen raus. Heute ist es viel zu dunkel/zu kalt/zu spät/es regnet/es stürmt.

Das stimmt. Heute gehe ich nicht mehr raus. Das wäre ja verrückt.

Dann lass uns mal ins Wohnzimmer gehen.

Du folgst mir. Wie lange noch? Wie lange kann ich den Zustand friedlicher Koexistenz von meiner Realität und deiner Fiktion aufrechterhalten? Werde ich dich irgendwann nicht mehr mit meinen Tricks davon abhalten können, in dein fiktives Finkenwerder aufzubrechen, das du niemals finden wirst? Wann werde ich den Schlüssel der Wohnungstür verstecken müssen? Wirst du dich wehren, wenn ich dich daran hindern will, wegzulaufen, ein Weglaufen, das ein Hinlaufen ist in deine Kindheit? Wird deine Mutter stärker sein als ich? Wird es zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen uns beiden kommen? Es schaudert mich, allein schon diesen Ausdruck im Zusammenhang mit uns zu verwenden. Unsere Körper haben sich nie anders als zärtlich miteinander auseinandergesetzt. Miteinander. Eine Zeitlang noch miteinander. Bitte!

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Bernd Martens starb am 16. April 2025 im Kreise seiner Familie.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht’s zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch