Von der Macht der Sprache - demenzjournal.com

Dem Wort vertrauen

Von der Macht der Sprache

«Resonanz vom Gegenüber zu spüren, gibt mir die Gewissheit, gehört zu werden. Diese Zuversicht vermittelt Vertrauen.» pixabay

Zum Verstehen gehört auch die Situation, in der etwas gesagt wird und die Beziehung zwischen den Sprechenden, schreibt Esther Spinner. Den Worten traut sie erst, wenn sie der Sprecherin, dem Sprecher traut – und ihm oder ihr vertraut sie dann, wenn sie sich ernst genommen fühlt.    

O brich nicht, Steg, du zitterst sehr!
O stürz nicht Fels, du dräuest schwer!
Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein,
Eh ich mag bei der Liebsten sein!

Dieses Gedicht von Ludwig Uhland, geschrieben 1811, richtet sich an jemanden oder etwas, das dafür sorgen soll, dass weder Fels noch Himmel fallen, und der Dichter heil nach Hause kommt.1 Die Worte sind es, die helfen müssen, die Worte, denen der Dichter vertraut: Nichts wird passieren, was ihm den Weg zu seiner Liebsten versperrt.

Er ist geschützt durch das Wort. Die Ängste, in Worte gefasst, verlieren ihren Schrecken, der Trost hingegen wird durch das Wort verstärkt. Dies zeigt sich auch in Uhlands bekanntem Gedicht «Frühlingsglaube». Die sich wiederholenden Zeilen nun armes Herze, sei nicht bang, nun muss sich alles, alles wenden trösten durch die Wortwahl ebenso wie durch den Rhythmus.

Gedichte, Gebete, Zauberformeln – sie alle vertrauen der Macht des Wortes. Nicht ohne Grund wurde Apollo von den Griechen als Gott der Heilkunst und der Dichtkunst verehrt, was darauf verweist, dass das Heilen und das gestaltete Wort miteinander verwandt sind.2

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Und die Märchen sammelnden Gebrüder Grimm schrieben, dass im Wort mehr Kraft liege als im Stein oder Kraut: Und bei allen Völkern geht aus ihm Segen oder Fluch hervor.2 Schamaninnen und Heiler kennen diese Kraft und nutzen sie, so auch im Tibet, wo die folgende Geschichte erzählt wird:

Ein kleines Mädchen war schwer erkrankt, und die Mutter bat eine tibetische Nonne, Mantras für das Kind zu rezitieren. Noch war der Arzt im Haus, als die Nonne sich ans Bett des Mädchens setzte und zu reden begann. Der Arzt ärgerte sich und schimpfte über die abergläubischen Tibeter.

Da sagte die Nonne lächelnd und mit freundlicher Stimme: Du hirnloser Dummkopf, du hast doch keine Ahnung vom Heilen. Der Arzt schnappte nach Luft und bekam einen roten Kopf. Die Nonne aber sagte, immer noch lächelnd: Wenn ein kleiner Satz dich so ärgern kann, dann werden auch meine Mantras etwas bewirken.3

Mantras, Zauberformeln und Gedichte gleichen Träumen. Auch wenn sie auf den ersten Blick unverständlich sind, berühren sie etwas in den Menschen, die sie lesen oder hören. Denn es sind vor allem gebundene Worte, das Lied oder das Gedicht, die eine starke Kraft entfalten. Ihre Worte verbinden sich ganz direkt mit der Seele der Leserinnen und Lesern, sie treffen ins Unbewusste.

Sprache benennt das Ungreifbare, Unverständliche, und macht es durch die Benennung verfügbar. So stark wirken Worte, dass, wie oben beschrieben, Krankheiten besprochen und geheilt werden können

Einige Zeit unterrichtete ich Menschen mit psychischen Problemen. Den Zugang zu ihnen zu finden, fiel mir nicht leicht. Ich begann damit, am Ende jeder Stunde ein Gedicht vorzulesen. Meine immer gleiche Frage dazu: Möchte jemand etwas dazu sagen?

Erst nach einigen Wochen wagten sich einige zu reagieren: ein schönes Gedicht, hat mir gefallen, oder auch: Blödsinn. Als ich zum ersten Mal vergass, am Ende der Stunde ein Gedicht vorzulesen, ging ein Raunen durch die Gruppe und schon kam die Frage: Und das Gedicht?

Ich bin seither von der Kraft von Gedichten überzeugt. Sie trugen dazu bei, dass wir bald ein vertrautes Verhältnis zueinander hatten. Die Gedichte schufen einen gemeinsamen Raum, in dem sich einige trauten, ihre Meinung auszudrücken.

Hilarion Petzold berichtet ähnliches von der Arbeit mit alten Menschen, die schon beinahe verstummt waren, weil ihnen die Ansprache fehlte. Gedichte hätten sie aufgeweckt und ihnen geholfen, Worte zu finden, um ihre Gefühle und ihre Situation zu beschreiben. Sie konnten Vertrauen entwickeln, nicht nur zur Sprache, sondern auch zu ihrem Leben.

Mehr als Worte

Gedichte schaffen Vertrauen zwischen Menschen. Doch um Vertrauen zu entwickeln, braucht es das Verstehen. Bei Gesprächen müssen Mimik, Gestik und der Tonfall mitgelesen und ebenso entschlüsselt werden wie die Wörter und Sätze. Wir müssen uns aufeinander einlassen, um zu verstehen, um vertraut zu werden miteinander. Dazu müssen wir uns verändern. Octavio Paz 4 schreibt:

Den Anderen verstehen zu wollen ist ein widersprüchliches Ideal: Es verlangt von uns, dass wir uns ändern, ohne anders zu werden, der Andere zu sein, ohne uns selbst aufzugeben.

Dieser Schritt auf andere zu, dieser Mut, uns selbst zu verändern, verlangt von allen Menschen viel. Vielleicht ist auch das in Uhlands Gedicht mitgemeint: nun muss sich alles, alles wenden.

Zum Verstehen gehört auch die Situation, in der die Worte gesprochen werden und die Beziehung zwischen den Sprechenden. Den Worten traue ich erst, wenn ich der Sprecherin, dem Sprecher traue, und ihm oder ihr vertraue ich dann, wenn ich mich ernst genommen fühle.

Jemanden ernst nehmen ist eine Frage der Haltung und weniger der Technik.

Wobei dank Techniken wie der gewaltfreien Kommunikation oder des aktiven Zuhören das Ernstnehmen eingeübt werden kann. Resonanz vom Gegenüber zu spüren, gibt mir die Gewissheit, gehört zu werden. Diese Zuversicht vermittelt Vertrauen. Einer Person, deren Resonanz ich spüre, nehme ich die Worte ab, die sie sagt. Ob sie immer und jederzeit die genau richtigen trifft, ist dann nicht so wichtig, ich vertraue ihrer Sprache, ich glaube ihrer Wahrheit.

Denn in der Sprache, im Sprechen miteinander, geht es nicht nur um die Aneinanderreihung von Wörtern, sondern um das Herstellen von Sinnzusammenhängen für alle Beteiligten.2 Dazu gehören auch die Leerstellen, die Zwischenräume, die mit Vertrauen gefüllt werden müssen.

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Herta Müller,5 die deutsche Literaturnobelpreisträgerin, betrachtet das Ungesagte im Satz als einen Fächer, der sich plötzlich öffnet. Dieser Fächer enthält ungeahnte Möglichkeiten, auch die des Missverständnisses, der Ungewissheit – aber auch die des Vertrauens, der Sicherheit, der Zuversicht.

Je nach Blickwinkel zeigt der Fächer im Satz die eine oder andere Seite. Es gibt einen Überschuss im Satz, ein Zuviel, das in den Zwischenräumen lagert, zwischen den Zeilen oder am Rand des Gesichtsfeldes, im Augenwinkel. Den einen Augenblick ist es da, im anderen ist es fort.

Verflogen, wie Wörter eben verfliegen, Wörter im Wind, der Augenblick ist vorbei, der Augenwinkel leer, der Fächer wieder zu.

Das Vertrauen aber, wenn es sich im Fächer gezeigt hat, das Vertrauen bleibt. Hat sich jedoch etwas eröffnet, das den sicht- und hörbaren Wörtern widerspricht, dann wird es schwierig, Vertrauen aufzubauen.

Auch Alexander Kluge,6 deutscher Filmemacher und Schriftsteller, spricht von dem, was dazwischen steht: In Texten und noch mehr bei mündlichen Überlieferungen ist wichtig, was zwischen den Zeilen steht. Was unter der Haut des Formulierten mitschwingt.

Wie Vertrauen entsteht

Unter der Haut passiert das Wesentliche. Das, was oberhalb passiert sollte mit dem Unsichtbaren verwandt sein, darf durchaus noch eine Facette hinzu fügen, einen weiteren Gedanken, eine Anregung, aber, wenn Vertrauen entstehen soll, nicht dem Gesagten unvereinbar entgegenstehen. Doch diese Übereinstimmung gelingt nicht immer. Alle Menschen lügen, sogar mehrmals am Tag.7

Das beginnt schon bei der Antwort auf die Standardfrage Wie geht’s? Die übliche Antwort gut ist nicht immer wahr, oft ist es ein Versuch, das, was sich unter der Haut verbirgt zu verstecken.

Wer will schon im Treppenhaus oder im Lift von gesundheitlichen oder finanziellen Problemen erzählen.

In dem Sinne schützen die Lügen vor einem Gespräch im falschen Augenblick. Sind sie allzu häufig, verhindern sie den wirklichen Kontakt zu anderen Menschen, verhindern sie, dass Vertrauen entsteht.

So mehrdeutig und unzulänglich Sprache ist: Sie kann viel. Sie kann als Gedicht Menschen im Innersten berühren, sie kann beeindruckende Bilder malen, wie den zitternden Steg, den dräuenden Fels, sie kann zwischen Menschen Vertrauen schaffen, wenn wir sorgfältig mit ihr umgehen, ob wir mit anderen sprechen oder mit uns selbst: sprechend und schreibend werden wir Andere.

In Lebenskrisen das aufzuschreiben, was einen bewegt, Briefe zu schreiben an Menschen, mit denen man sich auseinandersetzen will, Trostgedichte zu lesen oder sich selbst eines zu schreiben – all das sind Möglichkeiten, dank der Sprache wieder Vertrauen zu finden ins eigene Handeln und Tun, ins eigene Leben.

Wie Vertrauen entstehen kann, erzählte mir meine Freundin, die als Beraterin bei einem Notfalltelefon arbeitet. Letzthin habe eine aufgeregte Frau angerufen, die mit Worten kaum erreichbar gewesen sei. Kurz vor Schliessung der Beratungsstelle fragte meine Freundin die Anruferin: Was kann ich in diesen fünf Minuten für Sie tun? Mich in den Arm nehmen, antwortete die Frau.

Meine Freundin liess sich darauf ein. Sie sagte: Setzen sie sich bequem hin und schliessen sie die Augen. Jetzt lege ich ihnen die Hände auf die Schultern. Spüren sie meine Hände?

Ein leises Ja kam zurück.

Jetzt fahre ich über ihre Arme, über ihre Hände und wieder zurück. Und jetzt streiche ich langsam rechts und links ihrer Wirbelsäule entlang.

Nach dieser Berührung auf Distanz habe sich die Frau ruhig bedankt. Das habe ihr sehr gut getan, so nahe sei ihr schon lange niemand mehr gewesen.

Meiner Freundin war es gelungen, mit Worten so viel Vertrauen aufzubauen, dass die verbale Berührung selbst durch das Telefon wirksam wurde. So machtvoll sind Worte.


Literatur

1 Ludwig Uhland in Echtermeyer / Von Wiese, Deutsche Gedichte. Düsseldorf 1956, S. 385, 384
2 Hilarion G. Petzold, Ilse Orth: Zu den Grundlagen von Poesie- und Bibliotherapie, S.24, 22, 32, 71 in Hilarion Petzold, Ilse Orth, Hrsg.: Über die Heilkraft der Sprache. Paderborn 1995
3 Sylvia Wetzel: Worte wirken Wunder. Reden mit Herz und Verstand. Stuttgart 2007, S. 149
4 Octavio Paz: Lektüre und Kontemplation. Frankfurt am Main 1991, S. 41
5 Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch. Frankfurt am Main 2016, S. 77
6 Alexander Kluge: Leseratte! Neue Zürcher Zeitung NZZ 28.10.2019
7Lea Hampel: Kleine Lügen