Und die Märchen sammelnden Gebrüder Grimm schrieben, dass im Wort mehr Kraft liege als im Stein oder Kraut: Und bei allen Völkern geht aus ihm Segen oder Fluch hervor.2 Schamaninnen und Heiler kennen diese Kraft und nutzen sie, so auch im Tibet, wo die folgende Geschichte erzählt wird:
Ein kleines Mädchen war schwer erkrankt, und die Mutter bat eine tibetische Nonne, Mantras für das Kind zu rezitieren. Noch war der Arzt im Haus, als die Nonne sich ans Bett des Mädchens setzte und zu reden begann. Der Arzt ärgerte sich und schimpfte über die abergläubischen Tibeter.
Da sagte die Nonne lächelnd und mit freundlicher Stimme: Du hirnloser Dummkopf, du hast doch keine Ahnung vom Heilen. Der Arzt schnappte nach Luft und bekam einen roten Kopf. Die Nonne aber sagte, immer noch lächelnd: Wenn ein kleiner Satz dich so ärgern kann, dann werden auch meine Mantras etwas bewirken.3
Mantras, Zauberformeln und Gedichte gleichen Träumen. Auch wenn sie auf den ersten Blick unverständlich sind, berühren sie etwas in den Menschen, die sie lesen oder hören. Denn es sind vor allem gebundene Worte, das Lied oder das Gedicht, die eine starke Kraft entfalten. Ihre Worte verbinden sich ganz direkt mit der Seele der Leserinnen und Lesern, sie treffen ins Unbewusste.
Sprache benennt das Ungreifbare, Unverständliche, und macht es durch die Benennung verfügbar. So stark wirken Worte, dass, wie oben beschrieben, Krankheiten besprochen und geheilt werden können
Einige Zeit unterrichtete ich Menschen mit psychischen Problemen. Den Zugang zu ihnen zu finden, fiel mir nicht leicht. Ich begann damit, am Ende jeder Stunde ein Gedicht vorzulesen. Meine immer gleiche Frage dazu: Möchte jemand etwas dazu sagen?
Erst nach einigen Wochen wagten sich einige zu reagieren: ein schönes Gedicht, hat mir gefallen, oder auch: Blödsinn. Als ich zum ersten Mal vergass, am Ende der Stunde ein Gedicht vorzulesen, ging ein Raunen durch die Gruppe und schon kam die Frage: Und das Gedicht?
Ich bin seither von der Kraft von Gedichten überzeugt. Sie trugen dazu bei, dass wir bald ein vertrautes Verhältnis zueinander hatten. Die Gedichte schufen einen gemeinsamen Raum, in dem sich einige trauten, ihre Meinung auszudrücken.
Hilarion Petzold berichtet ähnliches von der Arbeit mit alten Menschen, die schon beinahe verstummt waren, weil ihnen die Ansprache fehlte. Gedichte hätten sie aufgeweckt und ihnen geholfen, Worte zu finden, um ihre Gefühle und ihre Situation zu beschreiben. Sie konnten Vertrauen entwickeln, nicht nur zur Sprache, sondern auch zu ihrem Leben.
Mehr als Worte
Gedichte schaffen Vertrauen zwischen Menschen. Doch um Vertrauen zu entwickeln, braucht es das Verstehen. Bei Gesprächen müssen Mimik, Gestik und der Tonfall mitgelesen und ebenso entschlüsselt werden wie die Wörter und Sätze. Wir müssen uns aufeinander einlassen, um zu verstehen, um vertraut zu werden miteinander. Dazu müssen wir uns verändern. Octavio Paz 4 schreibt:
Den Anderen verstehen zu wollen ist ein widersprüchliches Ideal: Es verlangt von uns, dass wir uns ändern, ohne anders zu werden, der Andere zu sein, ohne uns selbst aufzugeben.
Dieser Schritt auf andere zu, dieser Mut, uns selbst zu verändern, verlangt von allen Menschen viel. Vielleicht ist auch das in Uhlands Gedicht mitgemeint: nun muss sich alles, alles wenden.
Zum Verstehen gehört auch die Situation, in der die Worte gesprochen werden und die Beziehung zwischen den Sprechenden. Den Worten traue ich erst, wenn ich der Sprecherin, dem Sprecher traue, und ihm oder ihr vertraue ich dann, wenn ich mich ernst genommen fühle.
Jemanden ernst nehmen ist eine Frage der Haltung und weniger der Technik.
Wobei dank Techniken wie der gewaltfreien Kommunikation oder des aktiven Zuhören das Ernstnehmen eingeübt werden kann. Resonanz vom Gegenüber zu spüren, gibt mir die Gewissheit, gehört zu werden. Diese Zuversicht vermittelt Vertrauen. Einer Person, deren Resonanz ich spüre, nehme ich die Worte ab, die sie sagt. Ob sie immer und jederzeit die genau richtigen trifft, ist dann nicht so wichtig, ich vertraue ihrer Sprache, ich glaube ihrer Wahrheit.
Denn in der Sprache, im Sprechen miteinander, geht es nicht nur um die Aneinanderreihung von Wörtern, sondern um das Herstellen von Sinnzusammenhängen für alle Beteiligten.2 Dazu gehören auch die Leerstellen, die Zwischenräume, die mit Vertrauen gefüllt werden müssen.