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Fragen an den Tod

Gibt es die Welt auch ohne mich?

Den Tod hinnehmen wäre das Gegenteil von nicht-akzeptieren. Ob das jemals gelingt? Bild Véronique Hoegger

Durch die Pandemie ist der Tod sichtbarer geworden. Die täglichen Fallzahlen reden von ihm. Gleichwohl wissen wir genau so wenig über ihn wie bisher. Noch immer ängstigt er die Menschen und niemand kommt darum herum, sich mit ihm zu beschäftigen.

In einer Schweigeminute gedachte die Schweiz am 3. März 2021 der über 9000 Menschen, die in der Schweiz durch das Coronavirus gestorben sind. Im Tagesanzeiger online flackerten Kerzen für die Opfer der Pandemie. Der Tod ist gegenwärtiger geworden.

Ein Freund schickt mir sein neustes Buch zu, ein schmaler Band mit dem Titel: «Mutter stirbt und andere auch»1. Darin beschreibt er das Sterben seiner Mutter und das von Freundinnen und Freunden.

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Und er schreibt über das Zurückbleiben: «sterben führt immer zum tod. und tod ist weggehen, nie mehr zurückkommen. und tod ist zurückbleiben für diejenigen, welche nicht mit denen weggehen, die weggehen.»

In diesen Sätzen finde ich mich. Das Verlorensein nach dem Verlust von Freundinnen, nach dem Tod der Eltern, der schwankende Boden unter den Füssen und das Gefühl: Am liebsten wäre ich selbst gestorben. Ich lese weiter: «ich weiss schon, dass dieses weggehen nicht zu verhindern ist. ich will es nur nicht akzeptieren.»

Seit meiner Ausbildung zur Krankenschwester, seit dem Tod meines Vaters an meinem 25. Geburtstag, begleitet mich der Tod. Nie stellte ich mir die Frage akzeptieren oder nicht akzeptieren. Er war da, er gehörte dazu, war der zu erwartende Schlusspunkt.

Das Ziel des Lebens ist der Tod. Ich las Bücher über das Sterben und das Trauern. Aber bedeutet das die Akzeptanz des Todes?

Nicht nur mein Freund, auch die Schriftstellerin und Lyrikerin Friederike Mayröcker will den Tod nicht. In einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift profil2 sagte sie 2003 – da war sie 79 Jahre alt:

«Der Tod ist mein Feind. Ich kann die Tatsache des Todes überhaupt nicht akzeptieren. Riesenschildkröten erreichen ein hohes Alter, manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade der Mensch, die so genannte Krönung der Schöpfung, muss mit achtzig oder neunzig Jahren abtreten? (…) Der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der grosse Stachel des Todes ist, dass man nicht weiss, wohin es geht.»

Das ganze Leben lang gehen wir auf diesen Tod zu, ohne zu wissen, was uns erwartet. Was wird nachher sein? Die einen Menschen glauben an ein Weiterleben, an ein Wiedersehen, ein Aufgehoben-Sein in Gott. Für andere ist der Tod das Nichts, die Leere und damit das Unvorstellbare. Aber er kommt.

Auch zu Friederike Mayröcker. An ihrem 95. Geburtstag sagt sie im Dezember 20193: «Seit ich das Manuskript abgegeben habe, denk ich nur ans Sterben, aber das muss ja auch einmal sein. Ich denke, dass ich nichts mehr machen kann. (…) Man ist so leer.»

Da schwingt Resignation mit. Alle Rebellion, alles Nicht-Akzeptieren hat nicht geholfen. Es muss trotzdem sein.

Wir alle wissen es. Und doch. Auch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich den Tod wegschiebe. Mich geht er nichts an.

Ich will zwar weder hundert noch zweihundert Jahre alt werden, aber sterben will ich vorläufig auch nicht. Mit diesem Paradox lebe ich. Die Gedanken an das eigene Sterben, an den eigenen Tod sind häufig von Angst begleitet.

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Im Buch Zeit des Lebens – Zeit des Sterbens4 schlagen die Autorinnen persönliche Rituale vor, um sich dem Tod und der Angst anzunähern. Eines dieser Rituale heisst: Der Angst ins Antlitz schauen. Habe ich Angst vor Schmerzen? Fürchte ich mich vor dem Unbekannten? Mache ich mir Sorgen um meine Angehörigen? Fühle ich mich allein?

Es gelte die verschiedenen Ängste auseinander zu halten und einzeln genau zu betrachten. Was steckt wirklich hinter dieser Angst? Was kann ich verändern? Vielleicht kann ich mit jemandem über die Angst vor Schmerzen sprechen.

Ich kann einen Zusatz zu meiner Patientenverfügung hinzufügen, der besagt, dass ich auf jeden Fall genügend Schmerzmittel bekommen möchte, auch wenn ich dadurch schläfrig werde.

Andere Aspekte der Angst kann ich weniger gut beeinflussen. Doch da steht ein Satz im erwähnten Buch, der mich anspringt: «Wenn alles andere jenseits der Kontrolle zu liegen scheint, sogar dann hat man die Macht, seine eigene Haltung gegenüber seinem Schicksal zu kontrollieren.»

Dieser Satz begleitet mich seit ein paar Tagen. Er eröffnet mir  Handlungsmöglichkeiten. Ich kann etwas tun, sagt mir der Satz, ich kann meine Haltung ändern oder anpassen. Ob das heisst, dass ich den Tod akzeptiere oder nicht, ob das heisst, dass ich mein Schicksal annehme, oder mich dagegen wehre:

Wichtig ist, dass ich mir meine Haltung bewusst mache. Dies hilft mir, mit dem mir zugewiesenen Schicksal zu leben.

Ob es diese bewusste Haltung ist, die ich an anderen Menschen bewundere? Menschen, die sich in ihre Krankheit schicken und sich doch nicht aufgeben, Menschen die dem Tod nahe sind und ganz bewusst noch das tun, was ihnen möglich ist.

Ist es das, was mit Resilienz gemeint ist? Früher nannte man das Seelenstärke. Sie ist es, die durchs Leben hilft und den Gedanken an den Tod erträglich macht.

Dossier: Danach. Abschied nehmen

Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen nehmen im Verlauf der Krankheit von vielem Abschied. In diesem Dossier äussern sich Angehörige und Fachleute über Vergänglichkeit, Leben im Moment, Schuldgefühle und die Zeit nach dem Tod.

«Man kann sich mit seinem Sterben nicht befassen. Den Tod kann man sich nicht vorstellen, auch nicht wenn man sehr alt ist. Aber man spürt, dass man dem Ende näher ist.»5 Dies sagt die Schweizer Schriftstellerin Laure Wyss mit 86 Jahren.

Spüren, dass man sich dem Ende nähert – oder wie der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti in einem Notat schreibt: «Den Punkt verzeichnen, an dem man den Tod hinnimmt.»6 Den Tod hinnehmen wäre das Gegenteil von nicht-akzeptieren. Ob das jemals gelingt? Und ob dieser Punkt auszumachen wäre im Alltag, oder ob er, wenn er sich zeigt, nicht einfach unbeachtet vorüber geht?

Mehr Fragen als Antworten rund um den Tod. So viele Fragen wie im Büchleindes Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss, das gänzlich aus Fragen besteht, absurden und alltäglichen, tiefsinnigen und unsinnigen.

Geht man beim Einschlafen durch eine Wand? Ist alles ein Traum? Und die Frage, die wieder zurück zum Tod führt: Gibt es die Welt auch ohne mich? Die allerletzte Frage, die sich mir nun stellt, steht nicht in dem Büchlein: Heisst den Tod akzeptieren, zu akzeptieren, dass es keine gültigen Antworten gibt?


Max Zangger. Mutter stirbt und andere auch. Garlev Verlag, Zürich 2021
Interview mit Friederike Mayröcker, profil, 25.10.2003
Mia Eidlhuber. Interview mit Friederike Mayröcker, Der Standard, 20.12.2019
4 David Feinstein, Peg Elliot Mayo. Zeit des Lebens, Zeit des Sterbens. Rituale für den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit, Kösel-Verlag, München 1996
5 Mathias Ninck. Interview mit Laure Wyss. Tages-Anzeiger, 19.10.1999
6 Elias Canetti. Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. Fischer TB, Frankfurt a. Main 1990
7 Peter Fischli, David Weiss. Findet mich das Glück? Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2003