Die Idee eines solchen Kalenders könnte mithelfen, der verlorenen Freude wieder näher zu kommen. Und wenn nicht der Freudenkalender, dann die Kichererbsen, die ich einmal in einer Weiterbildung bekam, zehn Stück, die ich in den linken Hosensack stecken sollte, um beim kleinsten Anflug von Freude eine Erbse vom linken in den rechten Hosensack zu verschieben.
Abends dann die Bilanz: wie viele Freuden hatte ich entdeckt im Laufe eines Tages? Ich glaube, bei mir waren es sieben oder acht Kichererbsen, die die Seite wechselten, für welche Freuden sie standen, wusste ich bereits am Abend nicht mehr.
Welche Freuden sind in mir vom heutigen Tag, von der vergangen Woche in Erinnerung?
Der kleine Bub meiner Nachbarin, der meine Hündin streichelt und wie diese, ganz Hingabe, ihren Kopf hinhält und die Augen schliesst. Das raschelnde Laub unter den Füssen beim Spazieren im Wald. Das Gedicht von Theodor Storm, von dem mir einige Zeilen im Kopf herumschwirren. Der im Internet gefundene Rest ergänzt die erinnerten Verse.
Oder die beiden Erstklässler, die in meiner Siedlung wohnen, bei mir läuten und sich als echte Detektive vorstellen. Die Plakate, die zum jährlichen Putztag aufriefen, seien heruntergerissen worden, und sie beide wollten nun herausfinden, wer das getan hat.
Ich war es nicht, sage ich. Die echten Detektive mustern mich von oben bis unten, sind offenbar zufrieden mit meiner Antwort. Tage später eröffnet sich ihnen eine neue Spur. Hast du grüne Schuhe? werde ich gefragt. Nein? Dann warst du es nicht.
Diese Kichererbsen-Freuden sind die kleinen Freuden, sie haben nichts zu tun mit dem Hochgestimmt-Sein.
Sie helfen durch den Tag, durch die Woche, wenn es gelingt, sie wahrzunehmen. Wo aber bleibt die
Hochstimmung? Gab es sie früher?
Wenn ich verliebt war, war sie da, diese Stimmung, die über alles hinweg trug, über die Scheusslichkeiten der Welt, die Streitereien mit Eltern oder Schwestern, die Probleme im Beruf. Eine Stimmung, so sagt es die Literatur, die nicht andauern kann, sie muss und wird vergehen, vielleicht ganz und gar, oder aber sie wird gewandelt und als Liebe weiterleben.
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Als Kind gab es die Hochstimmung als Vorfreude auf den nahenden Geburtstag und auf Weihnachten hin. Einige Jahre lang war Weihnachten für mich das reine Glück. Meinen Eltern gelang es, die Vorfreude zu schüren.
Ende November wurde eine der Stuben abgeschlossen, nachdem wir vorher die Puppen, für die wir uns neue Kleider wünschten auf das Sofa gesetzt und das Puppenhaus, das einen neuen Anstrich brauchte, auf den Salontisch gestellt hatten.
Alles weggeschlossen für die ganze Adventszeit, nur ab und zu erhaschte eine von uns einen Blick in die erleuchtete Stube, wurde aber sofort von Mama oder Papa weggescheucht.
Hin und wieder fanden sich Silberfäden im Korridor, da, wo das Christkind vorbei gegangen war,
manchmal ein silberner Stern oder Lametta, echtes Engelhaar, das ich
zitternd vor Glück zu meinem Vater trug.
Wir Kinder halfen beim Backen und bastelten eigene Geschenke. Ich erinnere mich, dass ich für Papa Socken stricken sollte, doch seine Füsse waren so unendlich gross, dass meine älteste Schwester die Socken kurz vor der Feier fertig stricken musste.
Nach dieser geheimnisvollen Zeit kam der Höhepunkt. Wir sassen beim Nachtessen, als das Glöcklein klingelte, die Türe in die Stube aufsprang und den Blick freigab auf den erleuchteten, raumhohen Christbaum.
Erst als Erwachsene erfuhr ich von meinen Schwestern, dass Papa jeweils kurz vor dem Glockengeläut zur Toilette ging. Niemals war mir das aufgefallen, ich war sicher, dass das Christkind den Baum gebracht hatte. Weihnachten war schliesslich die Zeit der Wunder.
Wir sangen Weihnachtslieder, mehrstimmig, Papa las die Weihnachtsgeschichte vor, nochmals wurde gesungen, erst danach verteilte Mama die in einer Wäschezaine aufgeschichteten Geschenke. Dieses feststehende Ritual erhöhte die Feierlichkeit.
Als meine Schwestern in die Pubertät kamen, zeigte das Glück erste Risse, der Zauber verschwand nach und nach, die Weihnacht verlor ihren Glanz.
An späteren Feiern wurde gestritten, noch später verkam das Fest zu einem Muss.
Einmal im Jahr sollte die gar nicht so geeinte Familie vereint sein, was ich als heuchlerisch empfand, genau wie den Rummel ums Einkaufen, Schenken und Umtauschen. Das Weihnachtswunder war vorbei und mit ihm die Hochstimmung.
Hier also lässt sich nicht anknüpfen, um die verlorene Freude wieder zu finden. Oder doch? Während ich diese Erinnerung niederschreibe, entzündet sich ein schwaches Licht in meiner Brust. Schnell schiebe ich eine imaginäre Kichererbse vom linken in den rechten Hosensack. Vielleicht zieht diese eingebildete Kichererbse weitere Freuden an.
Ich schaue mich in meiner Wohnung um. Die Bücher erfreuen mich, mein Schreibplatz. Aber so richtige Wärme will nicht aufkommen. Lässt sich Freude locken? Einen Versuch ist es wert: Ich hänge die Lichterkette ans Fenster, backe ein Früchtebrot, lese mir ein Gedicht vor. Und das Locken gelingt: Heute habe ich der Freude die Tür geöffnet.