Die Wut wächst mit dem Alter - demenzjournal.com

Aggressionen

Die Wut wächst mit dem Alter

Alter Mann sitzt verzweifelt am Tisch vor Dokumenten

Es heisst, die weibliche Wut dringe nicht nach aussen sondern richte sich gegen innen. Die Folge seien Selbstverletzung, Rückzug oder Depression. shutterstock

Esther Spinner fragt sich nach den Gründen für die Wut, die sie letzthin erfasste. Hat diese Wut mit der Kindheit zu tun? Oder damit, dass Mädchen und Frauen weniger Aggressivität zugestanden wird als Buben und Männern? Ist es der Beginn einer Demenz? Vielleicht wird unsere Autorin eine streitbare Alte werden.

Letzthin habe ich mich heftig mit meiner Nachbarin gestritten. Meiner Meinung nach wollte sie mich vor ihren Karren spannen, um etwas zu vertreten, was mehr ihr Anliegen als meines war.

In mir stieg Wut hoch, vermutlich deshalb, weil ich mich hatte einspannen lassen. Und was für eine Wut ich hatte. Ich stritt mit meiner Nachbarin ohne jede Regel der Kunst. Vergessen die Ich-Botschaften, vergessen das Zuhören, das Wiederholen in eigenen Worten, das Nachfragen, vergessen die gewaltfreie Kommunikation.

Alles weggeschwemmt von der Wut. Ich wollte gar nicht zuhören, war mindestens zweimal im Begriff, ihr davonzulaufen, unterbrach sie ständig, bis wir das Gespräch abbrachen. Noch immer kochte ich. Erst nachts im Dunkeln erkannte ich, dass ich mich unmöglich benommen hatte. Aber wirklich unmöglich.

Zum Glück nahm meine Nachbarin meine Entschuldigung an. Damit hatten wir unser Problem nicht gelöst, aber immerhin den Weg frei gemacht für ein konstruktives Gespräch.

Vor zwei Monaten war mir dasselbe passiert. Ich hatte mich gestritten mit der Mitbewohnerin und dem Mitbewohner meiner Lebensgefährtin, fand mich ungerecht behandelt, vergass auch damals sämtliche Regeln und verhielt mich so, dass eine Deeskalation erst nach meiner Entschuldigung möglich wurde.

Was ist mit mir los? Wieso werde ich dermassen wütend, wieso ärgere ich mich so grenzenlos? Ich suche nach früheren Erlebnissen und muss zurückdenken bis in die Kinderzeit.

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Als jüngste von drei Schwestern wurde ich oft gehänselt von den beiden älteren. Taten sie sich zusammen, waren sie unschlagbar. Ich hatte ihnen nichts entgegenzusetzen, über meine Beschimpfungen und Flüche, die oft Wiederholungen der ihren waren, lachten sie nur.

Vor allem die Ämtli gaben zu Streit Anlass. Mit dem Versprechen, mir eine Geschichte zu erzählen, köderte mich die eine der Schwestern. Während sie abwusch, trocknete ich das Geschirr ganz langsam, um ja kein Wort ihrer Geschichte zu verpassen, die abrupt endete, als meine Schwester mit dem Abwasch fertig war und verschwand.

Ich stand vor dem noch fast vollen Abtropfkorb und spürte die Wut hochkommen. Schliesslich hatte ich die zusätzliche Arbeit nur übernommen, um einer langen Geschichte zu lauschen! Ich beschimpfte meine Schwester lauthals, wurde bei jedem ihrer Widerworte wütender.

Als ihr dann auch noch die zweite Schwester zu Hilfe kam, wusste ich mich nur noch zu wehren, indem ich die Küchentür mehrmals kräftig zuschlug. Diese Handlung dämpfte die Wut ein wenig.

Abends kam unsere Mutter nach Hause und wusste jeweils sofort, ob wir uns mittags heftig gestritten hatten oder eben nicht. Dies verwunderte uns alle drei. Erst Jahre später lüftete sie das Geheimnis: durch das Zuschlagen der Türen sei Gips von den geweissten Wänden gefallen und habe am Boden schmale Spuren hinterlassen, die Mama unseren Streit verrieten. Sie habe die Spuren immer heimlich weggewischt, so dass wir weiterhin glaubten, sie verfüge über hellseherische Kräfte.

Diese Kinderwut ähnelt der, die mich in letzter Zeit zweimal packte. Was passiert mir da? Angst kriecht in mir hoch. Habe ich nicht irgendwo gelesen, dass Demenz mit Wut beginnen kann?

Wie war das heute beim Schreiben gewesen? Ich schrieb fallen mit v und warten ebenfalls, bemerkte beide Fehler sofort und korrigierte sie, was sie aber nicht ungeschehen machte. Die Angst wollte nicht weichen. Stimmt mit mir etwas nicht? Oder suche ich einfach nach einer Entschuldigung oder Erklärung für mein unangemessenes Verhalten?

Meine Kinderwut hatte damit zu tun, dass ich mich nicht ernst genommen fühlte. Alle in der Familie waren älter und grösser als ich, alle hatten öfters recht als ich, ihre Bedürfnisse waren wichtiger als meine, ich, die Kleine, sollte mich anpassen.

Das machte mich wütend, das macht mich heute noch wütend. Fühle ich mich jetzt, im Alter, wieder häufiger nicht ernst genommen? Nehme ich mich selbst weniger ernst, weil ich mehr Fehler mache, mehr vergesse als vor wenigen Jahren, weil ich langsamer bin, weil ich Rückenschmerzen habe? Weil ich dies alles nicht will?

So viele Fragen. Und ich ahne es: Antworten wird es nicht geben. Nur Ahnungen von Zusammenhängen und Denkansätzen. Ich könnte meine Aufmerksamkeit schärfen fürs Nicht-ernst-genommen-werden. Und sobald ich das zu spüren meine, diesem Gefühl nachgehen.

Woran liegt’s? Nehme ich mich selbst nicht ernst – oder werde ich wirklich von andern nicht ernst genommen? Und dann dieses mich-nicht-ernst-genommen-fühlen aussprechen, ansprechen, und zwar bevor die Wut hochkocht. Das ist einfacher gesagt als getan. So wie es ja meistens ist. Aber vielleicht liesse sich so ein nächster Streit vermeiden oder immerhin abschwächen.

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Will ich das überhaupt? Hat so ein Streit nicht auch etwas Reinigendes? Und die Wut erst recht? Wie ist das mit Frauen und Wut? Ich suche im Internet nach einem entsprechenden Artikel. Mädchen, so lese ich, würden ihre Aggressivität viel weniger ausleben als Buben.

Allerdings steht da auch, dass die Untersuchungen zu Wut sich den Mädchen weniger widmen als den Buben. Diese gelten schliesslich als aggressiv, ihre Wut muss studiert werden. Mädchen aber, so steht da, würden ihre Streitbarkeit eher verstecken.

Sie zeige sich als Klatsch und Tratsch und daran, dass andere schlecht gemacht würden. Die weibliche Wut dringe nicht nach aussen sondern richte sich gegen innen. Die Folge seien Selbstverletzung, Rückzug oder Depression. Und sollten die Mädchen doch einmal Wut zeigen, würden sie härter bestraft als ihre Brüder und Freunde.

Dies alles gilt auch für Frauen. Doch diese Aussagen basieren vorwiegend auf Annahmen, da, wie schon gesagt, das Wutpotential von Frauen viel weniger untersucht worden ist, als das von Männern. Weil Frauen ja nicht wütend sind. Untersuchungen über wütende alte Frauen dürften noch seltener sein.

Umso besser, dass es die kleine Mü gibt. Erfunden hat sie die finnische Autorin und Zeichnerin Tove Janssen1, zusammen mit einem ganzen Universum von seltsamen Figuren, allen voran die Mumins und die Snorks, dann aber auch die Filifionka, die Hattifnatten und so weiter.

Die kleine Mü ist wirklich klein, die Mumins, unter denen sie sich bewegt, sind etwa fünfzig Zentimeter gross, die kleine Mü vielleicht zehn. Aber ihre Wut ist grösser als jede andere Wut, ihre Frechheit übersteigt alles.

Eines Nachts schläft sie in der Kaffeekanne der Muminmama, die morgens darin gerne Kaffee kochen möchte. «Denkste», kommentiert Klein-Mü und bleibt wo sie ist. Kurz vorher lag sie in Mumins Bett und biss ihn ins Bein. Der reagierte ungehalten: «Seinen Gastgeber beisst man aber nicht!». Die Antwort kam prompt: «Ich bin Klein-Mü und beisse, wen ich will!»

Kann ich etwas lernen von der kleinen Mü? Soll ich auch beissen, wen ich will? Oder wie sie einem Beamten die Brille von der Nase ziehen und ihm drohen, sie zu zerstören, wenn er nicht sofort die nötigen Bewilligungen liefert? Natürlich möchte ich so nicht sein. Das ist ja keine Art, ausser im Kinderbuch.

Aber vielleicht habe ich im Alter durchaus das Recht, wütend zu sein, das Recht, mich nicht länger an Regeln zu halten.

Ich könnte ein bisschen lernen von der kleinen Mü, könnte die alte Mü werden, die ab und zu herumschreien darf, die eigene Regeln setzt und, wie die kleine Mü, «nur glänzende Ideen» hat. Natürlich würde ich andere Menschen nur im Notfall beissen, wäre im allgemeinen lieb und freundlich, wie es sich für Alte gehört.

Aber irgendwo in mir drin könnte ich Platz schaffen für eine schimpfende, beissende kleine Mü, die mir helfen würde, mich hin und wieder nicht altersgerecht zu benehmen. Einen Versuch ist es jedenfalls wert und sicherlich so gesund für meine Psyche, wie das Zuschlagen der Küchentüre.


1Tove Jansson: Mumin baut ein Haus. Reprodukt, Berlin, 2015