Ein Schiff versinkt auf dem neuen Katalog der Büchergilde, der am zweiten Tag des sogenannten Lockdowns in meinem Briefkasten liegt. Das rotgraue Schiff ragt nur noch zur Hälfte aus einem ultramarin-blauen Meer. Sofort denke ich an die Titanic. Wann gehen wir unter? Wer kann sich retten?
Fragen ohne Antworten. Das muss ausgehalten werden. Dass morgen alles anders sein kann als heute. Dass es das Gewohnte nicht mehr gibt: Kinder, die zur Schule gehen, Läden, die den ganzen Tag geöffnet haben, Kinos, die mit neuen Filmen locken. Alles vorbei. Vorläufig?
Verwöhnt von vielen Jahren vermeintlicher Sicherheit, fällt es mir schwer, mich in der Unsicherheit zurechtzufinden.
Natürlich stand auch vorher der Tod an jeder Ecke, natürlich gab es auch vorher Verluste. Doch diese Art Unsicherheit ist neu.
Was ist mit meinen Plänen für übermorgen, für Ostern, für das ganze Jahr? In meiner Agenda sieht es wüst aus: die Termine alle durchgestrichen, ab sofort brauche ich keine Agenda mehr. Dass es nicht nur mir so geht: Macht es das einfacher?
Lange Tage. Hundespaziergang im Wald, Zeitung lesen, Musik hören, kochen, und wieder von vorn: Nochmals einen Hundespaziergang, ein Buch lesen, Radio hören. Warum nur fällt es mir so schwer, mich aufs Schreiben zu konzentrieren?
Als Schriftstellerin habe ich schon viele Tage, Wochen, Monate lesend und schreibend zu Hause verbracht. Doch das Gefühl, das mich jetzt begleitet, ist neu.
Zuerst war es die Angst, die langsam zur Grösse eines Hochhauses heranwuchs. Was passiert da? Was passiert uns da? Kann ich das verstehen, mit etwas früherem vergleichen? Doch genau das klappt nicht. Es gibt keinen Vergleich. Es gibt nur das Einzigartige, hier bei uns.
Menschen andernorts haben mehr Erfahrung, sei es mit Epidemien oder Hunger. Doch diese schlimmen Erfahrungen waren immer weit weg, trafen die andern, nicht mich und meine Umgebung. Aber jetzt. Jetzt sind wir mitten drin im Wirbelsturm, wir gehören dazu.
Gegen die Angst tat ich das, was ich meinen Kursteilnehmerinnen empfehle: Ich schrieb ihr einen Brief. Sie schrieb mir zurück, schon am nächsten Tag.
So gesehen relativierte sich die Angst, das Hochhaus schrumpfte auf vier Stockwerke, die Angst wurde wieder, was sie vorher war: ein alltägliches Gefühl, das sich mal stärker, mal schwächer bemerkbar macht.
Schreiben also. Und lesen natürlich. Der Tagesanzeiger empfiehlt, sich endlich Proust vorzunehmen: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 4000 Seiten. Vielleicht tu ich es, habe es schon lange im Sinn, seit ich vor Jahren am Radio Ausschnitte hörte.
Der Titel ist ja auch besonders passend: die verlorene Zeit, die Zeit, in der noch alles so war, wie ich, wie wir, es kannten. Ob ich sie genau so zurück möchte, so hektisch, so laut, so materialistisch, so egoistisch, das ist eine andere Frage.