Coronahaft - demenzjournal.com
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Allein zu Hause

Coronahaft

Schreiben gegen die Angst, gegen die Trauer. Was bleibt, ist ein leiser Druck, der sich über meinem Herzen eingenistet hat. Trotzdem oder dennoch: Dem Tag eine Form geben, eine Struktur. Lesezeit, Radiozeit, Schreibzeit, Fernsehzeit und Hundezeit. Bild PD

Was tun an den langen Tagen zu Hause? Wie die Angst und die Unsicherheit bekämpfen? Die 72-jährige Esther Spinner befindet sich in Coronahaft, ein Wort, das ihre Lebensgefährtin erfunden hat, als Substantiv zu gebrauchen, aber auch als Adjektiv. Ja, wir leben in coronahaften Zeiten.

Ein Schiff versinkt auf dem neuen Katalog der Büchergilde, der am zweiten Tag des sogenannten Lockdowns in meinem Briefkasten liegt. Das rotgraue Schiff ragt nur noch zur Hälfte aus einem ultramarin-blauen Meer. Sofort denke ich an die Titanic. Wann gehen wir unter? Wer kann sich retten?

Fragen ohne Antworten. Das muss ausgehalten werden. Dass morgen alles anders sein kann als heute. Dass es das Gewohnte nicht mehr gibt: Kinder, die zur Schule gehen, Läden, die den ganzen Tag geöffnet haben, Kinos, die mit neuen Filmen locken. Alles vorbei. Vorläufig?

Verwöhnt von vielen Jahren vermeintlicher Sicherheit, fällt es mir schwer, mich in der Unsicherheit zurechtzufinden.

Natürlich stand auch vorher der Tod an jeder Ecke, natürlich gab es auch vorher Verluste. Doch diese Art Unsicherheit ist neu.

Wie soll ich mich verhalten? Worauf soll ich hoffen?

Was ist mit meinen Plänen für übermorgen, für Ostern, für das ganze Jahr? In meiner Agenda sieht es wüst aus: die Termine alle durchgestrichen, ab sofort brauche ich keine Agenda mehr. Dass es nicht nur mir so geht: Macht es das einfacher?

Lange Tage. Hundespaziergang im Wald, Zeitung lesen, Musik hören, kochen, und wieder von vorn: Nochmals einen Hundespaziergang, ein Buch lesen, Radio hören. Warum nur fällt es mir so schwer, mich aufs Schreiben zu konzentrieren?

Als Schriftstellerin habe ich schon viele Tage, Wochen, Monate lesend und schreibend zu Hause verbracht. Doch das Gefühl, das mich jetzt begleitet, ist neu.

Zuerst war es die Angst, die langsam zur Grösse eines Hochhauses heranwuchs. Was passiert da? Was passiert uns da? Kann ich das verstehen, mit etwas früherem vergleichen? Doch genau das klappt nicht. Es gibt keinen Vergleich. Es gibt nur das Einzigartige, hier bei uns.

Menschen andernorts haben mehr Erfahrung, sei es mit Epidemien oder Hunger. Doch diese schlimmen Erfahrungen waren immer weit weg, trafen die andern, nicht mich und meine Umgebung. Aber jetzt. Jetzt sind wir mitten drin im Wirbelsturm, wir gehören dazu.

Gegen die Angst tat ich das, was ich meinen Kursteilnehmerinnen empfehle: Ich schrieb ihr einen Brief. Sie schrieb mir zurück, schon am nächsten Tag.

Nicht sie sei es, die mich lähme, schrieb sie, ich würde mich selbst lähmen, weil ich nicht verstanden hätte, dass sie, die Angst, zum Leben gehöre wie die Freude, die Trauer, die Wut und die Liebe.

So gesehen relativierte sich die Angst, das Hochhaus schrumpfte auf vier Stockwerke, die Angst wurde wieder, was sie vorher war: ein alltägliches Gefühl, das sich mal stärker, mal schwächer bemerkbar macht.

Schreiben also. Und lesen natürlich. Der Tagesanzeiger empfiehlt, sich endlich Proust vorzunehmen: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 4000 Seiten. Vielleicht tu ich es, habe es schon lange im Sinn, seit ich vor Jahren am Radio Ausschnitte hörte.

Der Titel ist ja auch besonders passend: die verlorene Zeit, die Zeit, in der noch alles so war, wie ich, wie wir, es kannten. Ob ich sie genau so zurück möchte, so hektisch, so laut, so materialistisch, so egoistisch, das ist eine andere Frage.

Esther Spinner hat sich erst kürzlich von einer schweren Krankheit erholt.

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Zunächst aber habe ich Georges Perec vom Büchergestell geholt, von zuoberst: 777 Seiten, dazu ein achtzigseitiges Personen- und Sachregister, und gut zehn Seiten Chronologische Anhaltspunkte.

Perec beschreibt in diesem dicken Buch Menschen in einem Pariser Mietshaus mit 99 Zimmern, von denen jedes eine Geschichte hat. Auch dieser Titel ist passend: Das Leben – Gebrauchsanweisung. Die kann ich gut gebrauchen.

Nach der Angst kam die Trauer. Wer wird sterben beim Untergang der Titanic? Ich? Meine Freundinnen, Freunde? Die meisten von ihnen gehören, wie ich selbst, zumindest zur Risiko- oder gar zur Hochrisikogruppe: Sie sind 70 und älter, sie sind mehr oder weniger krank, sie haben Medikamente, die ihr Immunsystem schwächen.

Wen werde ich verlieren? Wie einsam wird mein Alter, wenn ich jetzt überlebe?

Schreiben gegen die Angst, gegen die Trauer. Was bleibt, ist ein leiser Druck, der sich über meinem Herzen eingenistet hat. Trotzdem oder dennoch: Dem Tag eine Form geben, eine Struktur. Lesezeit, Radiozeit, Schreibzeit, Fernsehzeit und Hundezeit.

Mich schminken morgens, ganz für mich die Augenbrauen nachziehen, etwas Kajal unter die Augen, für mich, für die Buchen und Tannen, die ich grüsse im Wald, für meine kleine Hündin und die Hausleute, die ich ab und zu antreffe – auf Distanz natürlich.

Nachmittags öffne ich die Fenster, höre die Kinder murmeln, lachen, singen: Hansdampf im Schnäggeloch … , auch dies passt zum Heute. Der Hans im Schneckenloch, der alles hat und sich alles anders wünscht. Ich schaue zu, wie im Kirschbaum ein Baumhaus entsteht. Ein Quarantänehaus? rufe ich über die Wiese. Ja genau, kommt es zurück, ein Quarantänehaus.

Und plötzlich die unerwartete Freude, die mich erfasst, wenn ich das Bett strecke, mit der flachen Hand über das weiche Leintuch streiche, die Freude, wenn ich ein Glas abwasche oder Karotten schäle. Der Alltag hat eine neue Intensität.

Ich bin da. Ich bin lebendig, wie die Elster, die mit einen kleinen Ast im Schnabel an meinem Fenster vorbei fliegt in den nächsten Baum, in dem sie ein Nest baut. Ich bin da, wie die Elster, wie der Frühling, wie das Kinderlachen vor dem Fenster.


Nach der Ausbildung zur Krankenschwester veröffentlichte Esther Spinner 1981 ihren ersten Roman «die spinnerin». Seither hat sie verschiedene Kinderbücher und Romane verfasst. Verschiedene Weiterbildungen wie Berufsschullehrerin für Pflege, Psychodrama und Poesie- und Bibiliotherapie eröffneten ihr das Feld der Schreibkurse.

Seit fast 30 Jahre arbeitet Esther Spinner selbständig als freischaffende Kursleiterin und Autorin. Immer wieder gelingt es ihr in Vorträgen oder Artikeln die Pflege aus einem sprachbezogenen Blickwinkel zu beleuchten. Ihre Texte kreisen um Menschen in Trauer oder Menschen, denen die Sprache abhanden gekommen ist, sei es aus Krankheitsgründen oder durch Migration von einem Sprachraum in den andern.