In dieser Zeit verhalten wir uns extrem solidarisch. Nicht weil wir es wollen, denn das könnte man ja immer. Nein, wir müssen! Und alle geben ihr Bestes. Der Egoismus wird zuhinterst angestellt. Wirklich? Ja es hat sich ein richtiger Wettkampf entwickelt. Da wird geklatscht für den Service Public! Viele wissen nicht, wer das alles betrifft, aber man klatscht aus Solidarität. Solidarisches Nichtwissen und vielleicht auch Dummheit. Bravo!
Wir verzichten auf gemeinsame Treffen mit Freunden – nein, wir minimieren sie auf maximal fünf Personen, weil es der Bund ja so vorschreibt.
Ja genau! Eigentlich sollte man ja ganz zu Hause bleiben. Aber wenn man schon darf: Was hindert uns daran, es ist ja erlaubt. Und überhaupt, ich bin nicht Trägerin des COVID 19 und ich werde mich sicher nicht anstecken. Ich schütze mich ja gut weiss natürlich wie das geht. Hallo?
Sieben Tage konnte ich das vermeintliche solidarische Verhalten in meiner Nachbarschaft beobachten. Solidarität, eng gefolgt vom eigenen Verantwortungsgefühl, bringt auch in meiner Beziehung immer wieder das Wasser zum Kochen.
Jürgen Habermas fasste Solidarität folgendermassen zusammen: «Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.» An diesem Zitat stört mich etwas. Es ist das Wort «Nachteil».
Benachteiligung wollen Herr und Frau Schweizer nicht zu spüren bekommen. Wir leben ja in der Schweiz.
Also sitze ich den ganzen Nachmittag auf meinem Sitzplatz, mit direktem Blick auf den gegenüberliegenden Spielplatz. Die Nachbarin von nebenan telefoniert seit einer Stunde und sagte schon sechsmal: «Alter, nach dieser Quarantäne bin ich ein Alki!». Solidarisch: Die anderen dürfen mithören. In dieser Zeit teilen wir alles. Auch Popcorn. Wartet ab.
Am Morgen haben wir einen ausgiebigen Spaziergang gemacht und leckeren Bärlauch gepflückt. Aus Solidarität haben wir noch etwas für andere Bärchlauchliebhaber stehen gelassen. Damit niemand benachteiligt ist. Bitteschön.
Punkt 16.20 Uhr spielt sich an den Wochentagen – ja, die gibts auch bei Homeoffice – ein Phänomen ab. Es bringt mich immer wieder dazu, das Verhalten der Menschheit kritisch zu hinterfragen. Das Homeoffice scheint beendet zu sein, wenn die solidarischen, ökofreundlichen, Veja Schuhe tragenden Mamis und Papis pünktlich zum Nachbarschaftsklatsch erscheinen.
Na klar: Es bietet sich keine Möglichkeit mehr an, sich mit seinen Arbeitskollegen über die nervenden Nachbarn und deren quälenden Kindern zu lästern. Also bringt man ein, zwei Flaschen Wein auf den Genossenschafts-Spielplatz und quatscht mit den coolen anderen Möchtegern-Ökos. Eben halt solidarisch.
Noëlle ist das Terrorkind und beherrscht den Sandkasten, den Kehrplatz und die Rutschbahn. Das ist okay. Sie ist Herrin der Lage bei den Kids.
Die Eltern können fröhlich weiter anstossen. Wie sich in der Schweiz die Anzahl der Virusinfizierten vermehrt, vermehren sich auch die Familien auf dem Genossenschafts-Spielplatz.
Und natürlich auch der Wein – vergesst den Wein nicht! So zählt man bereits acht Erwachsene und doppelt so viele Kinder. Man kann nicht alle zählen, die einen sind zu klein, man sieht sie kaum. Aber laut sind sie.
Ein erstes Glas Wein nach dem strengen Arbeitstag. Es folgt? Klar, die Lust auf etwas festes zwischen den Zähnen. Keine Angst, es ist eine solidarische Genossenschaft. Deshalb holt die Ökomutter Nummer zwei schnell eine riesige Schüssel Popcorn für die lieben Nachbarn. Sie saufen munter weiter und stopfen das Popcorn in die Münder.
Wut, Unverständnis, Traurigkeit, Verzweiflung. Mein Wille, Gutes zu tun, lässt mich bei diesem Schauspiel beinahe erstarren. Wenn ich nicht weiss, was zu tun ist, rufe ich meinen Vater an. Er hat immer sehr gute Ratschläge. Keiner kann so gut Mails schreiben, die nicht den Normen und Werten entsprechen. Keiner weiss es besser, und das tut er immer. Er ist in allem der Beste, gleich nach Mama.
Mama vermisse ich. Ich sehe sie jeden Tag, da wir im selben Betrieb arbeiten, aber auf Distanz. Eine Mami-Umarmung wäre jetzt schön. Aber ich warte. Aus Solidarität, aus Angst, meine Mutter anzustecken. Wir müssen jetzt Vorbilder sein, aus Respekt zu den 150 Bewohnerinnen und Bewohner der Sonnweid. Für sie könnte eine Ansteckung tödlich sein.
Kontakte wie Umarmungen, Händehalten oder ein Streichen über die Schulter dürfen bei der Betreuung von Menschen mit Demenz auf keinen Fall fehlen.
Wie auch das Kochen und gemeinsame Essen auf unserer Wohngruppe. Jedes einzelne Teammitglied lebt das #stayathome und schreibt es nicht nur unter eine gefakte Instagram-Story. Popcorn wird allein und zu Hause gegessen. Da ist sowieso besser, weil man dann mehr kriegt.
Das unvorteilhafte FaceTime-Bild meines Vaters bringt mich zum Lachen. Meine Eltern gehören nicht zur «Selfiegeneration». Sie wissen nicht, dass man das Smartphone mindestens auf Augenhöhe halten muss, damit man nicht wie eine fette Kröte mit Doppelkinn aussieht.
Mein Vater gleicht eher einem Mops. «Ruf doch die Polizei an und frag, was man in solchen Situationen machen soll», sagt er mir, wenn ich von den gemeinsam saufenden und mampfenden Nachbarn berichte. So beobachte ich sie weiter beim Feiern – aus Solidarität.